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Schottland-Fans halten Schals in die Höhe, die gegen England gerichtet sind.

© IMAGO/Offside Sports Photography/IMAGO/Simon Stacpoole

Enthemmt, entrückt, entfesselt: Wie der Fußball das Gehirn kapert

Es sind vernünftige Menschen, die jetzt in Scharen in die Stadien pilgern – um begeistert zuzuschauen, wie ein Ball in ein Netz rollt. Was klinkt da eigentlich aus? Das sagt die Wissenschaft.

Sascha Karberg
Eine Kolumne von Sascha Karberg

Stand:

In der Regel hat sich der Erbonkel ganz gut im Griff. Euphorischer Überschwang ist seine Sache nicht. Es sei denn, es ist Fußball. EM, WM, CL, ganz egal. Mitunter erfreut sich die Familie beim „private viewing“ weniger an den Spielen als am völlig hemmungslosen Torjubel des Vaters, das laute Aufstöhnen bei knapp vergebenen Chancen und die genialen und zweifellos bis ins Stadion zu hörenden taktischen Tipps des verkannten, wahren Bundestrainers.

Was passiert da im Gehirn von Millionen Fußballfans, jetzt zur EM und Saison für Saison selbst am Spielfeldrand von Kreisligaspielen? Wie kann ein simples Spiel die Hirnwindungen so vieler, sonst durchaus vernünftiger, alles andere als „fanatischer“ Menschen kapern?

Francisco Zamorano Mendieta, ein Neurowissenschaftler der Universidad San Sebastián in Santiago de Chile und sein Team hat nachgeschaut. Er legte 43 Hardcore-Fans der zwei besten, rivalisierenden Fußballvereine des Landes in den Magnetresonanztomografen und machte Aufnahmen von ihrem Gehirn, während ihnen Szenen aus Partien ihres Teams vorgespielt wurden – mal positive zum Jubeln, mal Niederlagen, wie sie für einen Fan an Folter grenzen dürften.

Der Kontrast zwischen Gewinnen und Verlieren: Die orangefarbene Skala zeigt die Hirnaktivität im Zusammenhang mit einem Sieg, blau repräsentiert dagegen die Aktivierung im Zusammenhang mit einer Niederlage.

© RSNA/Francisco Zamorano Mendieta, Ph.D.

Abhängig davon, ob Siegtore oder Niederlagen gezeigt wurden, reagierten andere Regionen der Fan-Hirne. Gewann das eigene Team, waren Bereiche aktiv, die das Belohnungssystem steuern, den Kopf mit Endorphinen fluten und das Glücksgefühl erzeugen. Während sie Szenen einer Niederlage sehen, wird hingegen das „Mentalisierungsnetzwerk“ aktiviert, sagt Zamorano Mendieta. „Es versetzt den Fan in einen introvertierten Zustand, was den Schmerz etwas abmildern kann.“

Außerdem werde der Gehirnknoten gehemmt, der das limbische System, das Gefühlszentrum, mit dem Frontalkortex verbindet. Das passiert auch bei Siegen. Das erklärt, warum sonst eher ruhige und disziplinierte Menschen plötzlich wüst den Schiedsrichter beschimpfen oder hemmungslos jubeln. „Der Mechanismus zur Regulierung der kognitiven Kontrolle ist beeinträchtigt“, sagt der Forscher. Das erhöhe die Wahrscheinlichkeit für enthemmtes, auch aggressives Verhalten.

So weit kam es beim Erbonkel noch nicht. Nun gut, ein Kissen flog mal gegen den Fernseher. Immerhin hat sich der zeitweise enthemmte Zustand des Vaters in der Filialgeneration nicht durchgesetzt. Das kuriose Verhalten war wohl abschreckend genug.

Was wir zum Leben mitbekommen und was wir weitergeben – jedes Wochenende Geschichten rund um Gene und mehr in der „Erbonkel“-Kolumne

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