
© Ottmar Winter PNN/Ottmar Winter PNN
„Es geht um Macht“: Universitäten zwischen Exzellenz, Ausbeutung und Diskriminierung
Wissenschaft – eine heile Welt? Von wegen, sagt die Bildungsforscherin Lisa Niendorf alias „FrauForschung“. Die Forschung verstehe nur, wer sich mit der sozialen Ungerechtigkeit des deutschen Wissenschaftssystems auseinandersetzt.
Stand:
Frau Niendorf, hat es das schon mal gegeben: ein Buch über die Innenansicht der Universitäten auf den Bestseller-Listen des Landes? Hat es Sie erstaunt, dass Ihr Buch „UNIversal gescheitert? Wissenschaft und Hochschule zwischen Machtmissbrauch, Leistungsdruck und Ausbeutung“ so großes Interesse weckt?
Es ist wirklich ungewöhnlich – fast schon einmalig –, dass ein Buch über die Universität so eine Resonanz findet. Im selben Jahr erschien zwar auch das Buch einer Juraprofessorin, die behauptet, Studierende seien dumm und faul. Doch inhaltlich könnten unsere Bücher nicht unterschiedlicher sein. Dass tausende Menschen dieses Buch lesen, ist ein starkes Signal – an Bildungsverwaltung, Hochschulleitungen und Politik –, dass diese Themen wichtig sind.
Für wen ist das Buch gedacht? Man findet darin auch Erklärungen von Begriffen oder Hintergründe, die Uni-Insider nicht brauchen würden.
Mir war wichtig, einen gesellschaftlichen Diskurs darüber anzustoßen, wie die Arbeitsbedingungen an Hochschulen sind – etwas, das bislang kaum bekannt ist. Viele Menschen außerhalb des Systems haben ein idealisiertes Bild davon, was es heißt, in der Wissenschaft zu arbeiten.
Damit wollte ich brechen und das Buch so schreiben, dass es auch die Tante von nebenan oder die Oma versteht. Zum Beispiel, wenn sie sich fragt, warum ihre Enkelin so unter der Promotion leidet. Das größte Kompliment kam von Menschen außerhalb der Wissenschaftsgemeinschaft, die sagten: Du hast mich abgeholt, ich verstehe jetzt, warum soziale Ungerechtigkeit ein wichtiger Schlüssel ist, um Wissenschaft und Hochschule zu begreifen. Genau das wollte ich erreichen.
Sie sagen, viele sähen die Wissenschaft idealisiert. Es gibt doch aber auch Menschen, die sie als abgehoben und weltfremd empfinden?
Auch diese Gruppen idealisieren in gewisser Weise die Bedingungen in der Wissenschaft – sie wissen schlicht nicht, wie Forschung und Lehre tatsächlich funktionieren. Genau ihnen wollte ich einen Einblick geben. Gleichzeitig habe ich mir beim Schreiben oft Sorgen gemacht, ob meine Kritik am System nicht missverstanden werden könnte – ob sie nicht jenen Kräften in die Hände spielt, die Wissenschaft ohnehin unter Beschuss nehmen.
Wenn man aufzeigt, wie Wissenschaft an ihren eigenen Strukturen zu scheitern droht, kann das auch als Einladung verstanden werden, diese Strukturen gezielt zu schwächen. Dieses Spannungsfeld war für mich schwer auszuhalten.
Aber wenn die Wissenschaft nicht über ihre eigenen Schwächen spricht und sie selbst angeht, tun es andere – und zwar jene, von denen wir uns das nicht wünschen.
Genau. Ich hoffe, dass das Buch dazu beiträgt, das System resilienter zu machen – weil die Probleme nun auf dem Tisch liegen, bei denen, die sie sehen und noch handeln können. Bevor es andere tun.
Hätte ich das Buch noch in einem befristeten Vertrag geschrieben, wäre meine Stelle wohl nicht verlängert worden.
Lisa Niendorf, Humboldt-Universität Berlin
Das Buch ist sehr persönlich geschrieben. Wie viel eigene Erfahrung steckt darin?
Es ist persönlich, aber keine Autobiografie. Eigene Erfahrungen habe ich nur dort eingebracht, wo sie helfen, Strukturen verständlich zu machen.
Ging es Ihnen wirklich nur um den gesellschaftlichen Diskurs oder auch um eine persönliche Verarbeitung – vielleicht von Frust im eigenen System?
Während der Corona-Pandemie begann ich auf Twitch mit Study-Streams. Hunderte schauten zu, viele baten um Hilfe bei Hausarbeiten. So entstanden kurze Erklärvideos, erst auf Twitch, dann auf TikTok und Instagram – unter dem Pseudonym „Frau Forschung“. Mit wachsender Reichweite sprach ich zunehmend über Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft.
Ich selbst wurde 2021 entfristet – ein Sonderfall: Als Wissenschaftlerin ohne Promotion unter 35 Jahren gehöre ich zu den nur 0,4 Prozent mit unbefristetem Vertrag. Dadurch erkannte ich, wie privilegiert ich bin – und wie viele Kolleginnen und Kollegen prekär leben. Diese Stimmen wollte ich verstärken. Ohne Social Media hätte ich vieles gar nicht verstanden. Ich hätte wohl gedacht: Uns geht’s doch allen ganz gut. So aber begann ich, mich systematisch einzuarbeiten – und zu begreifen, dass auch meine eigenen Erfahrungen Teil eines strukturellen Problems waren.
Es gibt eine enorme Dunkelziffer von Menschen, die sich nicht trauen, etwas zu sagen.
Lisa Niendorf, Humboldt-Universität Berlin
Ist das der Kern des Problems, dass viele Forschende nur befristete Verträge haben? Können zu wenige Menschen in der Wissenschaft frei sprechen, weil sie um die Verlängerung ihrer Stelle bangen?
Ich vermute ja. Hätte ich das Buch noch in einem befristeten Vertrag geschrieben, wäre meine Stelle wohl nicht verlängert worden. Letztlich weiß ich es aber nicht. Zudem sind Hochschulen in meinen Augen vielfach pseudodemokratisch: Die Gremienprozesse sind vielfältig, doch die Stimmen der nichtprofessoralen Mitarbeitenden haben kaum Gewicht. Viele wagen es deshalb nicht, Kritik zu äußern oder sich gewerkschaftlich zu engagieren – aus Angst, dass es ihnen negativ ausgelegt wird.
Viele, die mir schreiben, tun das per Direktnachricht, nicht öffentlich – aus Angst, ihren Vertrag zu verlieren. Meiner Beobachtung nach gibt es eine enorme Dunkelziffer von Menschen, die sich nicht trauen, etwas zu sagen.
Ihr Buch behandelt viele Themen – von Exzellenz über Machtmissbrauch bis Diskriminierung. Kann man es auf einen gemeinsamen Nenner bringen?
Ja. Es geht um Macht. Jedes einzelne Kapitel trägt eigentlich diese Überschrift.
Wie würden Sie die Machtverhältnisse an Hochschulen beschreiben?
Im Kern geht es um Deutungshoheit. Unser System nährt sich aus der Deutungshoheit weniger mächtiger Personen – und diese Personen sind in der Regel weiße Männer des globalen Nordens. Wissenschaft, so wie wir sie kennen, ist von dieser Perspektive geprägt. Sie definiert, was als Wissen gilt und wer dazugehört, wer Zugang bekommt, wer gefördert wird und wer bleibt – und wer eben nicht. Menschen mit Behinderung, chronisch Erkrankte, Frauen, People of Color, Schwarze oder queere Menschen finden sich kaum auf Professuren wieder. Das System reproduziert seine eigene akademische Elite. Vielleicht ist es etwas durchlässiger geworden, aber diese Deutungshoheit prägt weiterhin das gesamte Hochschulleben.
Prägt das auch unseren Exzellenzbegriff?
Ja. „Exzellenz“ folgt männlich konnotierten Normen: Durchsetzungsvermögen, Präsenz, Arbeit bis in die Nacht – möglich meist nur ohne Care-Verantwortung. Wenn Frauen sich „durchsetzungsfähig“ zeigen, werden sie häufig nicht als kompetent, sondern als „emotional“ oder „schwierig“ wahrgenommen.
Die Macht liegt im Kollektiv: Man erkennt sich in anderen wieder. Dieses Gefühl, nicht allein zu sein, macht Mut, aufzustehen.
Lisa Niendorf, Influencerin und Bildungsforscherin
Ebenfalls in der Corona-Zeit ist die #IchbinHanna-Initiative entstanden. Spricht deren Erfolg nicht dafür, dass sich das Wissenschaftssystem in einem tiefgreifenderen Wandel befindet?
Ich würde meinen Bucherfolg auch auf #IchbinHanna zurückführen, weil ich auf sehr fruchtbarem Boden säen konnte. Für mich ist #IchbinHanna so wichtig, weil die Deutungshoheit erstmals kollektiv verschoben wurde – hin zu der Einsicht: Nicht wir sind das Problem, sondern das System.
Dieses Gefühl, mit den eigenen Erfahrungen nicht allein zu sein, war und ist enorm ermächtigend. Neue Netzwerke, etwa gegen den Machtmissbrauch in der Wissenschaft, entstanden, Menschen wie Amrei Bahr, Kristin Eichhorn und Sebastian Kubon drängen seit Jahren unermüdlich auf Veränderung. Politisch erlebe ich dagegen überwiegend Symbolik. Substanziell hat sich seither leider wenig bewegt – was enttäuschend ist und von den Genannten auch klar benannt wird.
Soll das heißen, #IchbinHanna wird nur ausgehalten, während die Politik weitermacht wie bisher?
Die Macht liegt im Kollektiv: Man erkennt sich in anderen wieder. Dieses Gefühl, nicht allein zu sein, macht Mut, aufzustehen. Ich bekomme Nachrichten von Wissenschaftlerinnen, die Missstände melden, oder Studierenden, die sich trauen, sich zu bewerben. Transparenz schafft Handlungsspielräume.
Transparenz ist Macht?
Ich bin grundsätzlich optimistisch – vielleicht auch etwas naiv –, aber ja: Ich glaube daran. Ich sehe engagierte Menschen und die Wirkung von Social Media. Allein die spürbare Angst mancher Entscheidungsträger vor meiner großen Reichweite zeigt mir, dass ich wirke. Denn auch ich habe Macht und ich muss stets reflektieren, wie ich sie verantwortungsbewusst einsetze. Damit gehe ich auf Social Media transparent um und binde meine Followerinnen und Follower in meine Reflexionsprozesse ein.
Was mir Mut macht: Bei einem Fachgespräch auf Bundesebene erlebte ich, dass das Problem des Machtmissbrauchs klar benannt wird. Ideen zur Reduktion von Machtkonzentration liegen auf dem Tisch. Ich hoffe, dass daraus auf Bundesebene echte Handlungsmöglichkeiten entstehen.
Und apropos Macht. Wir sind angehalten eines stärker zu sehen: Schwarze Menschen sprechen seit jeher über Machtmissbrauch. Wir aber reden erst mehr darüber, seit sich weiße Menschen in weißen Institutionen betroffen fühlen. Wenn ich auf Panels eingeladen werde, frage ich: Schaut mal aufs Podium – wir sind alle weiß. Ist das nicht absurd, wenn wir über Machtmissbrauch sprechen?
Deutschland ist gut darin, Flicken zu setzen, aber schlecht darin, Neues zu weben.
Lisa Niendorf, Influencerin und Bildungsforscherin
Werden Sie inzwischen auch aktiv von Hochschulleitungen kontaktiert? Suchen Rektorinnen und Rektoren den Austausch – wie bei Amrei Bahr?
Kaum. Ich trete auch anders auf als Amrei Bahr: provozierender, direkter, ich nutze Memes und Trends. Sage Diggi und Bro. Dadurch schaffe ich eine Identitätsfläche für junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, aber Hochschulleitungen können damit vielleicht wenig anfangen, sehen darin vielleicht eine Verletzung der akademischen „Etikette“. Insofern: nein, bisher kaum – auch nicht in meinem unmittelbaren Umfeld. Dabei würde ich den Austausch sehr schätzen und kann unterschiedliche Rollen bedienen.
Angenommen, eine Präsidentin meldet sich und fragt: Was kann ich im Rahmen des Möglichen besser machen? Ich kann ja nicht alles neu bauen. Was würden Sie ihr raten?
Erstens würde ich ihr sagen: Das Wissenschaftszeitvertragsgesetz verbietet Entfristungen nicht, hindert also nicht, zu entfristen. Zweitens: Führen Sie verpflichtende Fortbildungen für alle mit Personal- und Lehrverantwortung ein – zur Sensibilisierung für die eigene Verantwortung im Umgang mit anderen und zur Prävention sexualisierter Gewalt.
Drittens: Bauen Sie Machtkonzentrationen in der Führung von Hochschule und Gremien ab, prüfen Sie die Einführung von Departmentstrukturen. Viertens: Trennen Sie die Betreuungs-, Bewertungs- und Vorgesetztenrolle. Fünftens: Institutionalisieren Sie den Austausch mit den Studierenden. Deren Perspektiven kommen in der Debatte zur Hochschulentwicklung noch viel zu kurz.
Viele Ihrer Vorschläge klingen nicht radikal, sondern sind in vielen anderen Wissenschaftssystemen Normalität.
Und genau das ist so bitter.
Neben dem Machtgefälle ist der Generationenkonflikt das zweite große Thema im Bildungs- und Wissenschaftsbereich: eine alternde Gesellschaft, die den Status erhält, statt in Richtung Zukunft und Innovation zu denken. Welche Folgen hat das für die Bildungsfinanzierung?
Die schwache Lobby junger Menschen ist ein zentrales Problem. Politik denkt oft kurzfristig – „durch diese Phase kommen“ –, statt langfristig zu investieren. Das zeigt sich auch im Wissenschaftssystem: Befristungen, Drittmittelprojekte, Flickenteppiche. Deutschland ist gut darin, Flicken zu setzen, aber schlecht darin, Neues zu weben. Aber unterschätzen wir nicht die Macht von Social Media. Junge Menschen finden sich dort, starten Petitionen, machen Missstände sichtbar – das ist unsere kleine Superkraft, um Solidarität zu organisieren.
Solange wir das Unsichtbare unsichtbar lassen, bleibt die Fassade weiß und normiert.
Lisa Niendorf, Influencerin und Bildungsforscherin
Derzeit geraten Bereiche wie die Genderforschung oder Postcolonial Studies politisch eher unter Druck von Rechtsaußen.
Das ist gefährlich. Gerade diese Disziplinen hinterfragen bestehende Machtlogiken – und werden deshalb zuerst attackiert. Soziologie, Queer Theory, Gender Studies – ihre Erkenntnisse stellen infrage, was derzeit als selbstverständlich gilt. Ob in den USA oder hier bei uns: Wenn Politik beginnt, einzelne Bereiche zu delegitimieren, stellt sie damit die Wissenschaft als Ganze infrage – zumindest setzt sie diesen Prozess in Gang.
Viele Jahre lang galten „Exzellenz“ und „Diversität“ in vielen Chefetagen der Wissenschaft als Gegensätze. Zeitweilig schien sich das zu ändern, Hochschulen bekannten sich zur Diversität als Voraussetzung von Innovation und Kreativität. Ein Trugschluss?
Diversität wurde oft dann betont, wenn sie nützlich war – etwa als Rekrutierungsstrategie, als vielerorts die Studierendenzahlen sanken. In Wahrheit bleibt vieles unsichtbar: mentale Gesundheit, queere Identität, Behinderung, die Herkunft aus einer Nichtakademiker-Familie. Hochschulen erheben dazu kaum Daten zu diesen „Hidden Identities“. Mehr Befragungen würden zeigen, wie vielfältig die Realität ist. Solange wir das Unsichtbare unsichtbar lassen, bleibt die Fassade weiß und normiert.
Haben Sie konkrete Tipps, was jede und jeder tun kann, um Hochschulen und Wissenschaft im Alltag menschlicher zu machen?
Zwei Dinge. Erstens, zu „Hidden Identities“: Studien zeigen, dass schon eine Minute zu Beginn einer Lehrveranstaltung reicht, um eine eigene „verborgene“ Identität anzudeuten – etwa: Ich kenne Angststörungen und Panik und ich weiß, wie sehr es das akademische Leben erschweren kann. Meine Tür steht jederzeit offen.
Studierende berichten dann unter anderem von einem stärkeren Zugehörigkeitsgefühl und mehr Zuversicht in die Entscheidung, eine wissenschaftliche Laufbahn einzuschlagen.
Zweitens: Wertschätzung. Sie wird an Hochschulen künstlich verknappt und als „nice to have“ abgetan. Dabei ist sie arbeitspsychologisch eine Ressource: Sie verbessert Wohlbefinden, Gesundheit, Motivation, Leistungsbereitschaft. Wertschätzen heißt, den Wert der Person anzuerkennen – nicht nur die Leistung nach eigenen Maßstäben. Das beginnt bei uns selbst: Was habe ich heute gut gemacht? Worauf bin ich stolz? Wofür bin ich dankbar?
Wer sich selbst wertschätzt, kann auch andere leichter wertschätzen. Und dann – davon bin ich überzeugt – werden wir in der Wissenschaft deutlich freundlicher miteinander umgehen.
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