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Zwei Erdbeben der Stärke 7.7 und 7.8 haben die Provinz Hatay im Süden der Türkei in Trümmer gelegt.

© AFP / YASIN AKGUL

„Jahrhundertbeben“ in der Türkei: Es wird geforscht, gewarnt und ignoriert

Der 6. Februar war kein „Schicksal“. Er war das, was passiert, wenn Wissenschaft der Ignoranz zu weichen hat. Die Folgen des Bebens sind weniger die einer Naturkatastrophe als die von politischem Versagen.

Recep Tayyip Erdoğan hat eine Erklärung für alles, was am 6. Februar 2023 in der Türkei passiert ist. Schicksal. „Wir hätten uns nicht darauf vorbereiten können“, sagte er mehrfach in seinen Reden. Recht hat er mit diesen Aussagen nicht. Im Gegenteil. Man hätte es können, es müssen. Und man wusste sogar, wissenschaftsbasiert, wie.

Tausende Menschen sind durch die verheerenden Erdbeben gestorben, Tausende weitere liegen heute, an Tag Acht, noch immer unter den Trümmern.

Die Journalist:innen und Expert:innen trauen sich nicht, die grausamen Zahlen auszusprechen. Werden es am Ende 50.000 Tote sein? 100.000?

Zerstörte Gebäude in Antakya. Bei den beiden Beben sind Schätzungen zufolge etwa 6000 Gebäude eingestürzt.
Zerstörte Gebäude in Antakya. Bei den beiden Beben sind Schätzungen zufolge etwa 6000 Gebäude eingestürzt.

© AFP / BULENT KILIC

Klar ist, dass in Kahramanmaraş, Gaziantep, Kilis, Diyarbakır, Adana, Osmaniye, Şanlıurfa, Adıyaman, Malatya, Hatay und weiteren Provinzen etwa 6000 Gebäude eingestürzt sind. Die zerstörte Zone reicht geografisch betrachtet von Amsterdam nach Paris, ein Umkreis von über 450 Kilometer. Die Zwillingsbeben waren so zerstörerisch wie 32 Hiroshima-Bomben zusammen.

Die tektonischen Platten in der östlichen Mittelmeerregion
Die tektonischen Platten in der östlichen Mittelmeerregion

© Grafik: Tsp/Bartel • Quelle: Helmholtz-Zentrum, GFZ

Der renommierte Geowissenschaftler Naci Görür warnte seit Jahren vor einem schweren Erdbeben in exakt den Gebieten. Er sagte immer wieder, dass es einen Katastrophenplan braucht, die maroden Bauten nachgerüstet werden müssen. Er erklärte das den politisch Verantwortlichen. Umgesetzt wurde nichts. Auch der japanische Architekt und Erdbebenexperte Yoshinori Moriwaki tat es, fuhr gar in die Provinzen selbst. Umgesetzt wurde nichts.

Wenn du die Sprache der Natur nicht kennst, wirst du in Schwierigkeiten geraten.

Celal Şengör, Professor für Geologie in der Türkei

Was nun laut übereinstimmenden Medienberichten zufolge herausgekommen ist: Fast 300.000 Immobilien in den zehn betroffenen Provinzen, die nicht den Bauschriften entsprachen, wurden in den vergangenen Jahren legalisiert. In der Türkei wird das als imar affı, also „Bauordnungsamnestie“, bezeichnet. Für eine entsprechende Gebühr konnten illegale Bauten also gleichsam freigekauft werden. Magisch erdbebensicherer wurden sie dadurch nicht.

Erleichterung und Leid. Seine siebenjährige Tochter Aya konnte vier Tage, nachdem ein Gebäude in Hatay eingestürzt ist, gerettet werden.
Erleichterung und Leid. Seine siebenjährige Tochter Aya konnte vier Tage, nachdem ein Gebäude in Hatay eingestürzt ist, gerettet werden.

© action press / ZUMA Press Wire / Zuma Press

Es wurde geforscht, in Fachkreisen diskutiert. Es wurde gewarnt. es wurden Fakten dargelegt. Es wurde dargelegt, was sich hätte ändern müssen. Nicht allgemein, sondern spezifisch. All das wurde weitgehend ignoriert.

Das ist nicht Schicksal.

Es ist politisches Versagen mit vieltausendfacher Todesfolge. Es ist ein systemisches – mache sagen auch: ein Mentalitätsproblem. Dass die Beben die Auswirkungen haben, die jetzt sichtbar werden, ist das Resultat, wenn Wissenschaft ignoriert wird. Nicht nur ignoriert übrigens, nicht nur als störend empfunden, sondern von Regierenden als das Böse schlechthin betrachtet.

Katastrophen, die zumindest in den Ausmaßen wie jetzt vermeidbar wären, sie passierten auch, weil in den Schulbüchern die Naturwissenschaften durch Schöpfungstheorien ausgetauscht würden, alles mit „Gottes Willen“ erklärt werde, so der Professor für Geologie und Mitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina Celal Şengör im Nachrichtensender Fox. Er brach ab. Erschöpft, wütend, traurig. Wie der Rest des Landes.

Dann fuhr er doch fort: Die Türkei könne jetzt handeln, endlich aus den beiden schweren Beben, denen weitere Hunderte Nachbeben folgten, lernen. Vor allen Dingen durch Bildung, vom Grundschulalter an. Als Vorbild könne das Lehrprogramm das von Erdbeben geplagten Landes Japan dienen.

Und die Türkei brauche Wissenschaftsredakteur:innen, die die Sprache der Forschenden für die Bevölkerung übersetzen. Laiengerecht, im Print und im Hörfunk.

Sie bräuchte wohl auch ein paar andere Politiker:innen. Von den knapp 600 Abgeordneten der Großen Nationalversammlung in Ankara hat keine einzige, kein einziger einen wissenschaftlichen Hintergrund. Jede Partei brauche dringend zumindest einen Vertreter oder eine Vertreterin aus der Wissenschaft, sagte der Geologe. Jemanden, der oder die sich auskennt und die Themen in die Parteiprogramme einbringt.

„Wenn du die Sprache der Natur nicht kennst, wirst du in Schwierigkeiten geraten“, sagte Şengör. „Erzeugt keine alternative Sprache. Es gibt nur eine Sprache, und das ist die Wissenschaft.“

Sicher hätte man nicht alle Menschen retten können, selbst wenn man die Warnungen aus der Wissenschaft rechtzeitig gehört, Vorschläge umgesetzt hätte. Aber es wären mit Sicherheit weniger gestorben, weniger verletzt, weniger all ihres Hab und Guts beraubt worden.

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Hätte man allein einen funktionierenden, eingeübten Katastrophenplan gehabt, wäre man besser organisiert gewesen. Schon das hätte wohl tausendfach Leben retten, tausendfach Leid lindern können. Manche Provinzen wurden erst nach drei Tagen von den Hilfskräften erreicht, weil Koordination dem Chaos gewichen ist.

Deniz Altınay, Psychotherapeut und Präsident des Istanbul Psychodrama Institute, formulierte es so: „Der Feind ist nicht das Erdbeben, sondern das Unvorbereitetsein. Wie eine Hilfe organisiert wird, ist so wichtig, wie die Hilfe selbst.“

Die Türkei ist ein Erdbebenland. Das weiß man. Man wusste: Irgendwann kommt wieder ein schweres Beben. Man weiß: Es werden weitere Erdbeben folgen. Doch lebensrettende Geräte, Temperatur- und Geräuschsensoren, sie wurden großteils von Hilfsorganisationen anderer Länder mitgebracht.

„Wenn wir von einem Jahrhundertbeben sprechen, muss jetzt eine Jahrhundertlösung her“, sagte der Verhaltensforscher Selçuk Şirin. Seine Lösung: Ein Erdbebenkomitee mit Fachleuten aus der Wissenschaft, Politik und dem Bauwesen.

Der Geowissenschaftler Naci Görür sagte im türkischen Nachrichtensender TGRT Haber: „Wir machen diese Vorhersagen nicht, um den Menschen Angst einzujagen. Wir machen sie, damit die Städte vorbereitet werden. Das nächste Beben wird in Istanbul sein, auch das sagen wir seit 20 Jahren. Vielleicht schon bald.“

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