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Jeder Tag ihres Lebens: Die Frau, die wirklich nichts vergisst
Der entfallene Name der Nachbarin, der verpasste Termin beim Arzt – schusselig zu sein nervt. Doch das andere Extrem, genannt Hyperthymesia, ist eine schwere Last. Eine kurze Fallgeschichte

Stand:
„Wie, Du weißt nicht mehr, welche Ohrringe ich an unserem Hochzeitstag getragen habe?“, wurde der Erbonkel kürzlich von seiner Göttergattin gefragt.
Was für das eine Gehirn eine immens wichtige Information ist, schätzt ein anderes als durchaus zu vergessendes Detail ein. Im Alltag führt das mitunter zu peinlichen Momenten, wie geschildert. Doch vergessen zu können, ist für das Gehirn ein mindestens so wichtiger Vorgang wie das Lernen und Erinnern.
Aber wie fast immer in der Biologie gibt es auch hier Ausnahmefälle, wie die kürzlich im Fachblatt „Neurocase“ beschriebene 17-jährige Französin „TL“. Sie erinnert sich an jeden Tag ihres Lebens und jedes Detail darin, als würde sie ihn erneut durchleben.
Fragt man sie nach einem beliebigen Tag in ihrem ersten Schuljahr, sieht sie in ihrer Erinnerung die Sonne in den Klassenraum scheinen, riecht erneut das Parfüm der Lehrerin und hört, wie ihr Sitznachbar kippelt. TL ist einer von weltweit höchstens 100 beschriebenen Fällen von Hyperthymesia, einem autobiografischen Super-Gedächtnis.
Zwar können sich viele Menschen an Tage in ihrem Leben erinnern, an denen etwas Besonderes geschah. Doch die Tage davor und danach scheint das Gehirn ausgelöscht zu haben. Aber sind diese Informationen tatsächlich verschwunden oder nur in den Tiefen des Gehirns verpackt und nicht mehr abrufbar?
Fälle wie TL könnten Aufschluss darüber geben. Ihren Beschreibungen zufolge sind ihre Erinnerungen wie in einem imaginären „weißen Raum“ verstaut und nach Themen wie „Familie“ oder „Urlaub“ sortiert. Auch ihre Kuscheltiersammlung ist da und von jedem einzelnen weiß sie noch, wie sie es bekam.
Wenn TL sich an etwas erinnert, empfindet sie sogar damit verbundene Gefühle, etwa die Nervosität am ersten Schultag. Andere Menschen mit Hyperthymesia beschreiben ihre Erinnerungen wie Filme, die sie ablaufen lassen können.
Doch ein solch detailliertes Gedächtnis ist eine schwere Last: Denn TL erinnert sich auch an jedes schmerzhafte Erlebnis, jede Beleidigung, jeden Moment der Traurigkeit, jede angsterfüllte Situation. Sie hat gelernt, die Erinnerungen und die damit verbundenen Gefühle zu kontrollieren. Doch das schafft nicht jeder Mensch mit Hyperthymesia.
Erinnern Sie sich noch an den Artikelanfang? Die Hoffnung des Erbonkels ist, dass zumindest seine Gattin ihn bald vergessen haben wird.
Der „Erbonkel“ – Geschichten rund um Gene, jedes Wochenende.
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