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Lasst uns in Ruhe!: Wie leben „unkontaktierte“ Völker?
Einer aktuellen Analyse zufolge gibt es noch 196 Gruppen von Menschen, die keinen Kontakt zur Außenwelt haben. Und auch nicht wollen. Was weiß man über sie? Ein Interview.
Stand:
Es gibt wenig, was die Fantasie von Zivilisationsmenschen so anregt wie der Gedanke, dass es noch heute Menschengruppen und ganze Völker gibt, die völlig abgeschottet von der Außenwelt leben. Laut einem neuen Report der Nichtregierungsorganisation „Survival International“, der am Montag unter anderem von US-Schauspieler Richard Gere vorgestellt wurde, gibt es weltweit noch 196 davon, die meisten im Amazonasgebiet Südamerikas.
Bedrohungen, von Goldsuchern und Landwirtschaft über Krankheiten bis hin zu Eindringlingen, die sie missionieren oder ihren „Erstkontakt“ auf Social Media zu Geld machen wollen, gibt es viele. Ohne besondere Anstrengungen zu ihrem Schutz könnte laut „Survival International“ die Hälfte dieser Gruppen innerhalb der nächsten 10 Jahre ausgelöscht oder zumindest aus ihren Lebensräumen und aus ihrem so gewählten Leben vertrieben werden.
Herr Königshausen, die Organisation „Survival International“ geht davon aus, dass es weltweit noch etwa 200 sogenannte unkontaktierte Völker gibt. Wie muss man sich ein „unkontaktiertes Volk“ vorstellen?
Unkontaktierte Völker sind nicht vollkommen von der Außenwelt abgeschnitten, so wie es der Begriff suggeriert. Sie stehen beispielsweise mit anderen indigenen Gemeinschaften in Kontakt, die in derselben Region leben. Über Zeichen, Warnungen und Hinterlassenschaften wie tote Tiere, Pfeilspitzen, umgeknickte Äste und Symbole besteht oft ein indirekter, aber stetiger Kontakt. Vereinzelt gibt es „organisierte“ Zusammentreffen zum Austausch von Waren, wobei es sehr wichtig ist, dass von beiden Seiten Sicherheitsvorkehrungen eingehalten werden.
Diese Völker wohnen nicht so tief im Urwald, dass bisher kein Kontakt möglich war. Sondern sie wollen schlicht keinen …
Im allgemeinen Sprachgebrauch als „unkontaktiert“ bezeichnete Indigene Völker zeichnen sich dadurch aus, dass sie dauerhaft in keinem Kontakt mit der Mehrheitsgesellschaft stehen.
Ihre Isolation ist bewusst und basiert meist auf einem Schutzbedürfnis aufgrund von Vertreibung, Versklavung oder Missionierungsbestreben, woraufhin sie sich in abgelegene Gebiete zurückgezogen haben. Ihr Verzicht auf Kontakt ist ein ernst zu nehmender Ausdruck ihrer Autonomie und Selbstbestimmung. Er erfolgt aber in der Regel bewusst und entstammt einem Interesse der Selbsterhaltung.
Wenn über unkontaktierte Völker gesprochen wird, ist es auch wichtig, den historischen Kontext zu kennen, der oft von Gewalt und Ausbeutung geprägt ist.
Jan Königshausen, Experte für bedrohte Völker
Warum dann dieser Begriff? Um das Thema interessanter zu machen?
Die Bezeichnung als „unkontaktiert“ ist in vielerlei Hinsicht nicht akkurat und daher problematisch, da die negativen Auswirkungen bisheriger Kontakte und die Gefahren erneuter Kontaktversuche nicht dargestellt werden. Wenn über unkontaktierte Völker gesprochen wird, ist es auch wichtig, den historischen Kontext zu kennen, der oft von Gewalt und Ausbeutung geprägt ist.
In Peru starben beispielsweise zwischen 1950 und 1957 die indigenen Gemeinschaften der Resígaro, Andoque, Panobo, Shetebo, Angotero, Andoa, Aguano, Cholón, Munichi und Taushiro im Huallaga-Becken aus. Gründe waren Krankheiten, der unkontrollierte Kolonisierungsprozess und die Enteignung ihres Landes.
Welches ist das bevölkerungsreichste noch unkontaktierte Volk, welches das mit dem größten Siedlungsgebiet?
In Isolation lebende Völker leben in nomadischen oder halbnomadischen Gemeinschaften, deren Gebiete nicht klar abgesteckt sind. Wie bevölkerungsreich einzelne Völker sind, kann nur geschätzt werden. Mit unter 1000 Mitgliedern sind diese Gemeinschaften immer sehr klein. Die Mashco-Piro in Peru gelten mit etwa 750 Angehörigen als das weltweit größte in Isolation lebende Volk.

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Aber die Größe eines Volkes oder die Größe des Siedlungsgebiets sind nicht wirklich aussagekräftig. Sie sagen nichts über die Gefahren, denen diese Völker ausgesetzt sind, und die Besonderheiten ihrer Lebensweise aus. Ihre Siedlungen bestehen häufig aus kaum mehr als 10 Häusern, da die Völker in Clans organisiert sind und untereinander in losem Austausch stehen, unter anderem um den Genpool zu diversifizieren. Diese kleinen, temporären Siedlungen geben Wissenschaftlern viel Aufschluss über ihre Lebensweisen, da sie eine der wenigen Artefakte sind, die studiert werden können – zu großen Teilen über Luftbildaufnahmen.
Was wissen die Menschen in diesen Völkern über die Welt „draußen“? Wissen sie etwa, dass es den Staat Brasilien gibt – und was es bedeutet, dass es diesen gibt? Oder kennen sie Führungsfiguren, etwa Präsident Lula?
Unsere westlich geprägten Systeme und Führungspersonen haben für diese Völker keine Relevanz. Die Integration in staatliche Strukturen und die Einbindung in die Mehrheitsgesellschaft gelingt bei Indigenen Völkern oft nur schwer – insbesondere bei jenen in Erstkontakt.
Wer gerade ein Land regiert, was in der Hauptstadt passiert oder wo Landesgrenzen verlaufen, spielt für diese Völker eine untergeordnete Rolle. Im Fall von in Isolation lebenden Völkern sind ihnen wahrscheinlich weder die Systeme noch deren Vertreter bekannt. Deren Auswirkungen kriegen aber in der Regel alle Indigenen Völker zu spüren.
Warum sehen diese Gruppen die Außenwelt, also „die anderen“, als Gefahr?
Gemeinhin wird nicht die „Außenwelt“ als gefährlich eingestuft, sondern der Kontakt mit Menschen aus anderen Gruppen. Dies rührt aus traumatischen Erfahrungen in Kontakt mit Siedlern, Holzfällern, Goldsuchern, Missionaren und während der Kolonialisierung. Die größte Bedrohung ist die mangelnde Immunabwehr: Da halten dann die in der Regel fatalen Auswirkungen eines Kontakts über Monate, Jahre oder Jahrzehnte an.
Wie signalisieren diese Völker, dass sie keinen Kontakt wollen?
Sie haben Wege, das zu kommunizieren, etwa durch Barrieren und Zeichen und über Kommunikation mit benachbarten Gruppen, die das dann nach außen weitergeben.
Oft wissen wir nur durch solche benachbarten, nicht isoliert lebenden Indigenen Völker, dass diese Völker existieren. Ohne die über Generationen weitergegebenen Geschichten und Erfahrungen wäre das Wissen um ihre Existenz längst verloren. So ist es heute möglich, sie anzuerkennen und ihren Lebensraum bestmöglich zu schützen.
Welche Kontakte, welchen Austausch, gibt es trotzdem, etwa über Personen, die ihr Heimatgebiet verlassen haben und zurückkehren?
Nicht immer leben alle Angehörigen eines Indigenen Volkes in Isolation, beispielsweise bei den Mosetén in Bolivien. Angehörige der Mosetén, die nicht in Isolation leben, setzen sich dafür ein, dass ihre in Isolation lebenden Verwandten in ihrer Existenz wahrgenommen und anerkannt werden. Zum Beispiel mit der Organisation Pueblos Vivos sind wir in gutem Kontakt und erfahren so, welche Herausforderungen es vor Ort gibt.

© PR /Pueblos Vivos
Aus ihrer Sicht ist es entscheidend, diese isolierten Völker nicht aufzusuchen, sondern ihre Wünsche und Lebensweise zu respektieren, um sie nicht in Gefahr zu bringen. Die traumatischen Erfahrungen der Kolonialisierung prägen diese Gemeinschaften weiterhin und haben so zu deren Abspaltung von der Mehrheitsgesellschaft geführt.
Zwischen isoliert lebenden Völkern und Indigenen Völkern, die Kontakt zur Mehrheitsgesellschaft haben, gibt es immer wieder Begegnungen und indirekte Kommunikation. Nicht alle diese Begegnungen sind friedlich. Zwischen Clans von in Isolation lebenden Gemeinschaften kommt es mitunter zu kriegerischen Auseinandersetzungen um Siedlungsgebiete oder Frauen.
Wie können diese Völker oder deren Führer ihre Rechte in einem Staat oder im internationalen Kontext wahrnehmen, wie können sie ihren konkreten Willen bei konkreten Fragen artikulieren?
Die Wahrung der Rechte von Völkern in freiwilliger Isolation stellt eine der größten Herausforderungen im internationalen Menschenrechtsschutz dar. Über viele dieser Gemeinschaften ist kaum etwas bekannt. Sie können also nicht selbst vor staatlichen oder internationalen Institutionen sprechen. Ihre Unsichtbarkeit macht sie extrem verletzlich.
Ihre Interessen können nur indirekt durch andere vertreten werden, also durch Organisationen, Aktivisten, vor allem aber durch Angehörige benachbarter indigener Gemeinschaften, die teils vorsichtigen, punktuellen Kontakt zu ihnen halten und zumeist demselben Indigenen Volk angehören. Diese Vermittlerinnen und Vermittler tragen entscheidend dazu bei, dass die Existenz der isolierten Gruppen überhaupt bekannt ist und ihr Lebensraum dokumentiert und geschützt werden kann. Gleichzeitig birgt jeder Kontakt Risiken für alle Beteiligten.
Ein ,sanfter’ Kontakt oder schrittweiser Austausch mit der Mehrheitsgesellschaft wäre keine realistische oder verantwortbare Option.
Jan Königshausen, Experte für bedrohte Völker
Was weiß man über die Gesundheit in diesen Gruppen? Wie alt werden die Menschen, wie hoch ist die Kindersterblichkeit, welche Krankheiten haben sie, woran sterben sie?
Da jeder direkte Kontakt gegen das völkerrechtlich verankerte Prinzip des Nichtkontakts verstoßen und ihre Existenz unmittelbar gefährden würde, gibt es über die Gesundheit der in Isolation lebenden Gemeinschaften keinerlei verlässliche Daten. Auch ihre Territorien dürfen nicht betreten werden, eine Untersuchung wie beispielsweise die Analyse ihrer sterblichen Überreste ist daher ebenfalls verboten. Mangelernährung ist unter normalen Bedingungen unwahrscheinlich, da die Gruppen über tiefes ökologisches Wissen und vielfältige Nahrungsressourcen verfügen. Da keinerlei Gesundheitsversorgung im westlich gelernten Sinne existiert, gehen viele Experten allerdings von einer hohen Kindersterblichkeit aus und es wird gemutmaßt, dass tiefgreifende Verletzungen wie Knochenbrüche fatale Auswirkungen haben könnten. Zusammen mit den besonderen Herausforderungen ihrer Lebensweise lässt dies nicht auf eine sehr hohe durchschnittliche Lebenserwartung schließen.
Betreiben sie Geburtenkontrolle in irgendeiner Weise, da sie ja nicht unbegrenzt wachsen können?
Bevölkerungszahlen regulieren sich bei ihnen auf natürliche und kulturell eingebettete Weise. Eduardo Pichilingue, ein führender Experte zu in Isolation lebenden Völkern aus Peru, arbeitet eng mit den indigenen Woaraní in Ecudaor zusammen. Laut seinen Erkenntnissen leben die Gemeinschaften der den Waorani verwandten Tagaeri oder Taromenane in sehr kleinen Clans, die oft nur aus wenigen Familien bestehen.
Die Möglichkeiten, Partner zu finden, sind dadurch stark begrenzt. Um Inzucht zu vermeiden, kam es in der Vergangenheit teils zu arrangierten Tauschheiraten oder zu gewaltsamen Entführungen von Frauen zwischen Clans. Darüber hinaus wirken lange Stillzeiten, sexuelle Enthaltsamkeit nach Geburten, Mobilität und das Leben in ressourcenabhängigen Territorien als natürliche Geburtenbegrenzung. Diese Erkenntnisse müssen nicht für alle Isoliert lebenden indigenen Gemeinschaften zutreffen. Über Gemeinschaften in einigen Regionen haben wir mehr wissenschaftliche Erkenntnisse als über andere.
Woher wissen Leute wie Sie, die für die Rechte dieser Menschen eintreten, was generell oder auch im Einzelfall „richtig“, was im Sinne dieses Volkes ist? Braucht es dafür nicht Annäherung, Kontakt?
Aus den negativen Erfahrungen der Vergangenheit wissen wir, dass der Schutz dieser Gemeinschaften nicht durch Annäherung erfolgen darf. Ihre Entscheidung zur Isolation muss konsequent geachtet werden. Es gibt ja auch Unterstützung durch Indigene, die zwischen den Welten vermitteln.
Wichtig sind internationale und nationale Gesetze wie Lieferkettengesetze, bewusste Konsumentscheidungen, die rechtliche Kennzeichnung und Überwachung ihrer Territorien. Ohne rechtliche Schutzgebiete sind diese Völker in höchstem Maße gefährdet – durch eingeschleppte Krankheiten, Gewalt, Landraub und die massiven Folgen von Abholzung, illegalem Bergbau, Drogenhandel und Infrastrukturprojekten.
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Ist es überhaupt realistisch, sinnvoll, solche weitestgehende Isolation aufrechtzuerhalten? Wäre es langfristig nicht besser, zu versuchen, sie so sanft wie möglich und etwa auch medizinisch begleitet in Kontakt und Austausch zu bringen?
Mit politischem Willen ist es nicht nur möglich, sondern auch notwendig, die Isolation dieser Völker aufrechtzuerhalten. Sie leben in einigen der biodiversesten und ökologisch sensibelsten Gebiete der Erde – in Regionen, die für den globalen Klimaschutz von unschätzbarer Bedeutung sind. Diese Territorien werden von ihnen seit Generationen bewirtschaftet und erhalten. Ein „sanfter“ Kontakt oder schrittweiser Austausch mit der Mehrheitsgesellschaft wäre hingegen keine realistische oder verantwortbare Option.
Die Erfahrung zeigt, dass jede Annäherung – so gut sie auch gemeint sein mag – ihr Überleben in Gefahr bringt: Krankheiten, soziale Abhängigkeiten und der Verlust kultureller Selbstbestimmung. Der Schutz ihrer Isolation ist daher kein Rückschritt, sondern Ausdruck von Respekt, Vorsicht und Menschlichkeit und der Respekt ihrer in internationalen Abkommen festgeschriebenen Selbstbestimmung.
Überall geht indigenes Wissen, indigene Lebensführung verloren. Welche Ansätze haben sich bewährt, diese bei Völkern zu bewahren und vielleicht auch für andere nutzbar zu machen?
Zentral sind die Anerkennung indigener Rechte, insbesondere das Selbstbestimmungsrecht und Territorialrechte. Nur wenn Indigene Völker selbst über ihre Lebensräume und ihr Wissen entscheiden können, ist ein nachhaltiger Erhalt möglich. Hier spielen Instrumente wie das Prinzip der freien, vorherigen und informierten Zustimmung (Free, Prior and Informed Consent) eine entscheidende Rolle: Jeder Kontakt oder jede Nutzung indigenen Wissens muss auf ihrer freiwilligen und informierten Zustimmung beruhen.
Ein positives Beispiel ist die Guardia Indigena in Kolumbien, die zeigt, wie indigene Gemeinschaften durch autonome Schutzstrukturen ihre Territorien und kulturellen Praktiken selbst verteidigen können. Gleichzeitig braucht es eine politische und rechtliche Absicherung sowie die Stärkung staatlicher Schutzmaßnahmen gegen industrielle Ausbeutung. Indigenes Wissen – etwa in Medizin oder Agroökologie – birgt enormes Potenzial für die globale Gemeinschaft. Wichtig ist hier ein fairer Wissenstransfer, der Biopiraterie und Ausbeutung verhindert.
Hinweis der Redaktion: Das Interview wurde per E-Mail geführt.
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