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Kurt Gödel

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Mathematik: Das Genie & der Wahnsinn

Kurt Gödel gilt als „Mozart der Mathematik“. Ein einziger Satz von ihm genügte zum Ruhm: Er wies die Existenz unlösbarer Probleme nach. Als Kind wurde er zum Hypochonder, machte seltsame Diäten, maß besessen Fieber. Vor 30 Jahren starb er in Princeton - aus Angst vor Vergiftung war er verhungert.

Es war ein seltsames Gespann, das da zu Beginn der 50er Jahre allabendlich durch die Straßen der ostamerikanischen Kleinstadt Princeton zog: auf der einen Seite der gut 70-jährige Albert Einstein, meist im Pulli und ohne Socken, wohlgenährt, voller Schalk und gesundem Menschenverstand. Neben ihm der 27 Jahre jüngere Kurt Gödel, korrekt gekleidet, doch oft bis in den Sommer in Mantel und Schal gehüllt, ausgemergelt, weltfremd und ironiefrei.

„Ich habe mir fest vorgenommen“, schrieb Einstein einmal, „mit einem Minimum medizinischer Hilfe ins Gras zu beißen, wenn mein Stündlein gekommen ist, bis dahin aber darauf los zu sündigen, wie es mir meine ruchlose Seele eingibt: rauchen wie ein Schlot, arbeiten wie ein Ross, essen ohne Überlegung und Auswahl.“

Wie anders Gödel! Der war hochgradig hypochondrisch, maß wie besessen seine Körpertemperatur, schluckte Unmengen von Medikamenten. Weil er sich vor Vergiftungen fürchtete, musste seine Frau das Essen vorkosten, und er hielt sich an eine strenge selbst auferlegte Diät: täglich ein achtel Kilo Butter, drei Eier, das geschlagene Eiweiß von zwei weiteren Eiern, überdies Milch, Kartoffelstock und Babynahrung, selten ein wenig Fleisch. Gegen Rauch war er allergisch, und einmal entsorgte er nach wenigen Tagen ein neu gekauftes Bett, weil er dessen Geruch nicht ertrug.

Die ungleichen Spaziergänger, die beide ihr Fachgebiet revolutioniert hatten, verband eine enge Freundschaft. Für den menschenscheuen Mathematiker Gödel war Einstein der Einzige, in dessen Gegenwart er sich wohlfühlte. Und für Einstein war Gödels wissenschaftliches Denken derart tiefsinnig und originell, dass er einmal sagte, er komme bloß noch ins Institut, „um das Privileg zu haben, mit Gödel zu Fuß nach Hause gehen zu dürfen“.

Ihr Kunstgeschmack divergierte beträchtlich (Einstein verehrte Bach und Mozart, Gödel stand auf Schlager und Micky Maus), und auch in der Wissenschaft waren sie selten einer Meinung. Ihrer Freundschaft war das nicht abträglich: „Ich habe oft darüber nachgedacht“, schrieb Gödel nach dem Tod seines Kollegen 1955, „warum wohl Einstein an den Gesprächen mit mir Gefallen fand, und ich glaube, eine der Ursachen darin gefunden zu haben, dass ich häufig der entgegengesetzten Ansicht war und kein Hehl daraus machte.“ Gödel sei der Einzige gewesen, „der sich mit Einstein auf Augenhöhe bewegte“, sagt Freeman Dyson, ein Physiker, der damals wie die beiden Freunde am Institute for Advanced Study in Princeton forschte.

Gödels wissenschaftliche Größe ist unbestritten. Er hat gezeigt, dass es in der Logik neben „richtig“ und „falsch“ noch eine dritte Kategorie gibt: „unentscheidbar“. Unentscheidbare Sätze gibt es in jedem sinnvollen mathematischen System – das besagt der berühmte Unvollständigkeitssatz, den Gödel im Alter von 23 Jahren aufstellte. Den Beweis des Satzes priesen Logiker als „atemberaubende intellektuelle Symphonie“. Seine Wirkung verglich der Philosoph Karl Popper mit einem „Erdbeben“. Und der Mathematiker John von Neumann schrieb: „Die Logik wird nie mehr dieselbe sein.“

Den „größten Logiker seit Aristoteles“ hat man ihn genannt und einen „Mozart der Mathematik“. Weniger als 100 Seiten hat er zeitlebens publiziert (damit würde er heute nicht einmal Assistenzprofessor an einer Provinzuniversität), aber jedes seiner Theoreme hat ein neues Teilgebiet der mathematischen Logik begründet. „Seine Ausdrucksweise (mündlich sowie schriftlich) war stets von höchster Präzision und dabei von unübertrefflicher Kürze“, charakterisierte ihn sein langjähriger Freund, der österreichische Mathematiker Karl Menger. Ein Künstler der Knappheit also, den nur die fundamentalen Themen interessierten; ein Buchhalter des Metaphysischen, der die Strenge der Mathematik mit der Reichweite der Philosophie verband. Was ihn auszeichnete: seine kafkaesken Beweisstrategien – die Art, wie er mit unerbittlicher Logik surrealistisch anmutende Konstruktionen schuf, aus denen er auf abenteuerliche Weise das gesuchte Resultat herauszauberte. Ein Magier mit dem Rechenstab.

Die Tragik des Kurt Gödel besteht darin, dass er mit der gleichen Mischung aus logischem Rigorismus und kühnen Herleitungen auch sein Leben in den Griff zu bekommen versuchte. „In der Welt der Mathematik ist alles im Gleichgewicht und perfekt geordnet“, schrieb er. „Sollte man nicht dasselbe für die Welt der Realität annehmen?“ Gödel glaubte fest daran: „Die Welt ist vernünftig“, lautet der erste Satz seines philosophischen Credos, das man in seinem Nachlass entdeckte. Und darum musste es für jedes noch so zufällig scheinende Ereignis eine streng logische Erklärung geben, und Gödel fand stets eine, mochte sie auch noch so aberwitzig klingen. Dieser rücksichtslose Rationalismus trieb Gödel in den Verfolgungswahn, und zuletzt ging er elendiglich zugrunde, als er aus Angst vor Vergiftungen mit logischer Konsequenz jede Nahrung verweigerte.

Kurt Gödel wurde am 28. April 1906 im damals österreichischen Brünn (heute Brno, Tschechien) geboren. Der kleine Kurt bekam schon bald den Spitznamen „Herr Warum“, weil er unablässig fragte und forschte. Mit zehn Jahren begann er, sich für Mathematik zu interessieren, im Gymnasium beherrschte er schon den Hochschulstoff, und es ging das Gerücht, dass er während seiner Schulzeit im Latein keinen einzigen Grammatikfehler gemacht hatte.

Das vielleicht prägendste Ereignis seiner Kindheit waren die Anfälle von rheumatischem Fieber, die er im Alter von acht Jahren erlitt. „Herr Warum“ begann, sich in die Materie einzulesen, und fand heraus, dass die Krankheit manchmal Herzschäden verursacht. Von diesem Moment an war er trotz gegenteiliger Versicherung der Ärzte bis zum Tod überzeugt, einen Herzfehler zu haben: Der Anfang einer lebenslangen Hypochondrie.

1924 zog Gödel nach Wien und begann, Physik zu studieren, 1926 wechselte er zur Mathematik. Er befasste sich auch mit Philosophie, besonders angetan hatte es ihm Platon: Der griechische Philosoph hatte eine Leidenschaft für das objektiv Wahre und die reine Vernunft, die „nicht voll menschlichen Fleisches und Farben und anderen sterblichen Flitterkrams“ sei. Gödel beschloss, sich nur noch mit mathematischen Themen zu befassen, die auch philosophisch relevant waren. Als Erstes nahm er, gerade 22-jährig, das bedeutendste Problem seines Faches in Angriff: die Frage nach dem Fundament der Mathematik.

Seit der Antike gilt die Mathematik als Bastion der Vernunft und der Sicherheit. Relativismus gibt es nicht: Ein Satz ist wahr oder falsch, gefochten wird nicht mit Argumenten, sondern mit Beweisen, und wenn eine mathematische Wahrheit bewiesen ist, so bleibt sie es auf alle Zeiten. Doch so klar die Spielregeln dieser Wissenschaft, so unklar ihre Grundlage: Welches ist das Fundament der Mathematik, von dem sie ihre Sätze ableitet?

Zentraler Begriff in dieser Diskussion ist das Axiom. Axiome sind Grundregeln, aus denen sich sämtliche Sätze eines mathematischen Teilgebiets streng logisch ableiten lassen. Per Definition sind Axiome nicht beweisbar, aber sie sollen so „offensichtlich wahr“ sein, dass sie niemand infrage stellt.

1889 schlug der italienische Mathematiker Giuseppe Peano ein System von fünf Axiomen vor für die Zahlenlehre, die Arithmetik. Das erste lautet: „0 ist eine natürliche Zahl“, das zweite: „Jede natürliche Zahl hat genau einen Nachfolger“. So einleuchtend diese Axiome sind: Wie konnte man sicher sein, dass es die „richtigen“ sind? Beweisen kann man sie ja eben nicht. Aber eines ließe sich zeigen (so hoffte man wenigstens): ihre Widerspruchsfreiheit. Axiome, die einander widersprechen, taugen nichts. Ein Beweis der Widerspruchsfreiheit wäre so etwas wie ein Legitimationsausweis für ein System der Axiome.

Der eifrigste Verfechter der Axiomenidee war der deutsche Mathematiker David Hilbert (1862–1943). Um seine Wissenschaft ein für alle Mal auf ein sicheres Fundament zu stellen, rief er seine Zunft zur Durchführung eines gewaltigen Programms auf. Ausgehend von der Arithmetik, sollte ein Gebiet ums andere auf die Grundlage von Axiomen gestellt und sein ganzer Inhalt logisch darauf aufgebaut werden. Die Mathematik würde so zum formalen System: ein Spiel mit strengen Regeln, die festlegen, welche Schritte erlaubt sind und welche nicht – vergleichbar mit Schach.

In einer Grundsatzrede am Internationalen Mathematikerkongress von Paris rief Hilbert im Jahr 1900 seine Kollegen zum Beweis der Widerspruchsfreiheit des arithmetischen Axiomensystems auf: „Überzeugung von der Lösbarkeit eines jeden mathematischen Problems ist uns ein kräftiger Ansporn während der Arbeit; wir hören in uns den steten Zuruf: Da ist das Problem, suche die Lösung. Du kannst sie durch reines Denken finden; denn in der Mathematik gibt es kein Ignorabimus!“ („Ignorabimus“ bedeutet „Wir werden nicht wissen“.)

Hilbert hat das Problem unterschätzt. Gewiss, bei einem übersichtlichen Spiel wie Schach ergeben sich keine Widersprüche, solange man nicht unsinnige Regeln einführt wie zum Beispiel: „Bei jedem Zug muss eine Figur des Gegners geschlagen werden“ (schon beim Eröffnungszug wäre dies nicht einhaltbar, ohne andere Regeln zu verletzen). Umfassendere Systeme weisen jedoch manchmal logische Inkonsistenzen auf, selbst wenn sie auf den ersten Blick harmlos aussehen.

Auch in der Mathematik tauchten bald Widersprüche auf: in der Mengenlehre. Mehr schlecht als recht versuchte man, die Axiome zurechtzubiegen, auf dass die Inkonsistenzen verschwänden. Hilbert fand es „unerträglich“, dass es in seinem Fach, „diesem Muster von Sicherheit und Wahrheit“, zu solchen „Ungereimtheiten“ kam. Umso vehementer forderte er den Beweis der Widerspruchsfreiheit für die Arithmetik, und noch hatte er Hoffnung. Ein letztes Mal jubilierte er an der Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte am 8. September 1930 in seiner Heimatstadt Königsberg: Bislang sei in der Mathematik noch nie ein unlösbares Problem gefunden worden, und zwar seiner Meinung nach darum, weil es „unlösbare Probleme überhaupt nicht gibt. Statt des törichten Ignorabimus heiße im Gegenteil die Losung: Wir müssen wissen, wir werden wissen.“

Was Hilbert nicht wissen konnte: Am Tag davor, am 7. September 1930, war in Königsberg an einer Mathematikertagung ein Mann aufgetreten, der just das bewiesen hatte, was Hilbert so vehement bestritt: die Existenz unlösbarer Probleme. Dieser Mann war Kurt Gödel.

Gödels Auftritt in Königsberg wurde „der bedeutendste Moment in der Geschichte der Logik“ genannt, und doch war er unglaublich unspektakulär. Typischerweise hatte Gödel, der große Schweiger, bis fast zum Schluss der Konferenz gewartet, um dann einen einzigen Satz zu sagen, an dem er vermutlich tagelang gefeilt hatte: „Man kann – unter Voraussetzung der Widerspruchsfreiheit der klassischen Mathematik – sogar Beispiele für Sätze angeben, die zwar inhaltlich richtig, aber im formalen System der klassischen Mathematik unbeweisbar sind.“

Lag es an Gödels schüchternem Vortrag? Lag es an der Unerhörtheit seiner Aussage, die das mathematische Weltbild der meisten Anwesenden infrage stellte? Wir wissen es nicht. Jedenfalls war die Reaktion auf Gödels Satz: keine. Niemand erwiderte. Die Diskussion ging weiter, als wäre nichts geschehen. Es dauerte Monate, bis sich seine Entdeckung in der wissenschaftlichen Welt verbreitete.

Was hatte Gödel gesagt? Es gibt mathematische Sätze, die sind richtig, aber trotzdem kann man sie nicht beweisen. Richtig, aber nicht beweisbar! Und man kann solche Sätze sogar konkret angeben. Gödel hielt es beispielsweise für möglich, dass die sogenannte Goldbach’sche Vermutung dazugehört: Der deutsche Mathematiker Christian Goldbach (1690–1764) hatte behauptet, dass jede gerade Zahl größer als 2 sich als Summe zweier Primzahlen darstellen lasse (4 = 2 + 2, 6 = 3 + 3, 8 = 5 + 3 ...). Bis zum heutigen Tag hat man weder ein Gegenbeispiel noch einen Beweis für diese Vermutung gefunden. (Was allerdings noch nicht bedeutet, dass der Satz unbeweisbar ist.)

Gödels Aussage war aber keineswegs eine bloße Behauptung: Zu jenem Zeitpunkt verfügte er bereits über einen strengen Beweis dafür. Präzise formuliert hat er ihn in seinem berühmten Unvollständigkeitssatz, den er schließlich 1931 in Wien veröffentlichte. Der Unvollständigkeitssatz besteht aus zwei Teilen, und beide sind mathematische Provokationen höchster Güte.

Ungeheuerlichkeit Nummer eins: In jedem widerspruchsfreien formalen System, das mit natürlichen Zahlen hantiert, gibt es unentscheidbare Sätze. In jedem sinnvollen mathematischen System lassen sich Formeln konstituieren, von denen bewiesenermaßen niemand sagen kann, ob sie richtig oder falsch sind. Gödel hat, so paradox es klingt, Unbeweisbarkeit streng mathematisch bewiesen. Es ist, als hätte er Hilbert in mathematischer Sprache entgegengeschmettert: „Doch, auch in der Mathematik gibt es ein Ignorabimus!“

Ungeheuerlichkeit Nummer zwei: Die Widerspruchsfreiheit eines formalen Systems, das mit natürlichen Zahlen hantiert, ist unbeweisbar. Niemals wird es möglich sein, mit mathematischen Mitteln sicherzustellen, dass die Mathematik keine Widersprüche enthält. Für David Hilbert hätte es kaum schlimmer kommen können: Nicht nur gab es keinen Beweis der Widerspruchsfreiheit für die Arithmetik, es konnte überhaupt keinen geben – nicht nur in der Arithmetik, sondern in der gesamten Mathematik.

Dass man überhaupt derart fundamentale Aussagen über mathematische Systeme machen konnte, war etwas völlig Neues. Sowohl der erste als auch der zweite Gödel’sche Satz faszinieren durch ihre „quasi-paradoxe Selbstverneinung“ (John von Neumann): Ein formallogisches System tritt gleichsam aus sich heraus, um Aussagen über sich selbst zu machen.

Große Teile der mathematischen Welt empfanden den Gödel’schen Satz als Katastrophe. Selbst der große englische Philosoph und Mathematiker Bertrand Russell zeigte sich „verwirrt“ und fragte, ob nun „2 + 2 nicht mehr 4, sondern 4,001“ ergebe. Doch Gödel hatte keineswegs gezeigt, dass die Mathematik ungenaue oder falsche Resultate liefert. Gödel hat keinen Widerspruch im Axiomensystem der Arithmetik entdeckt, und weder er noch irgendein anderer Mathematiker glauben, dass es einen derartigen Widerspruch überhaupt gebe. Der französische Mathematiker André Weil fasste die Situation treffend zusammen: „Gott existiert, weil die Mathematik widerspruchsfrei ist, und der Teufel existiert, weil wir das nicht beweisen können.“

Das ist der entscheidende Punkt: Die Mathematiker müssen an die Widerspruchsfreiheit glauben, sie können sie nicht beweisen. David Hilberts Programm, die gesamte Mathematik durch Formalisierung auf eine sichere Basis zu stellen, war grandios gescheitert. Auch in der Mathematik gibt es keine letzte Gewissheit: Das ist die Aussage des Unvollständigkeitssatzes.

Gödel selber empfand das nicht als negativ. Die Vorstellung von der Mathematik als Schachspiel hatte ihm ohnehin nie behagt: Für ihn, den Platonisten, war die Mathematik keine menschliche Erfindung. Er glaubte vielmehr an die Existenz einer vom Menschen unabhängigen mathematischen Wirklichkeit; und Axiome konnten bestenfalls dazu dienen, diese mathematische Wirklichkeit nachzuahmen – vergleichbar den Naturgesetzen, mit denen die Physiker die physikalische Wirklichkeit abzubilden versuchen. Aus dieser Warte ist die Idee, man könne die Mathematik rein formal aus Axiomen ableiten, ähnlich absurd wie die Vorstellung einer rein theoretischen Physik, die auf jegliche Experimente verzichtet.

Und nun hatte Kurt Gödel also mathematische Sätze gefunden; Sätze, die in der mathematischen Wirklichkeit existierten, die sogar wahr sein konnten, aber unbeweisbar, den Formalisten nicht zugänglich. Das bewies seines Erachtens die Richtigkeit seines platonistischen Standpunktes.

Kurz nach der Publikation seines Unabhängigkeitssatzes hatte der junge Mathematiker eine schwere psychische Krise und musste wegen Suizidgefahr ein erstes Mal in ein Sanatorium eingewiesen werden.

Nicht Irrationalität ist das Kennzeichen des Psychopathen, sondern übersteigerte Rationalität. Verschwörungstheorien sind zuweilen ausgeklügelte Systeme, die von außen betrachtet zwar bizarr aussehen, sich aber nicht einfach so widerlegen lassen. Gödel lebte fast ganz in seinem streng rational gebauten Gedankengebäude und war wohl gerade darum besonders anfällig für die Paranoia. Gödels Lieblingsprofessor Philipp Furtwängler sah zwischen Gödels Mathematik und dessen Verfolgungswahn einen Zusammenhang: „Ist seine Krankheit eine Folge des Beweises der Nichtbeweisbarkeit, oder ist seine Krankheit eine notwendige Voraussetzung für die Beschäftigung mit solchen Fragen?“

Für Signale aus der Außenwelt war Gödel wenig empfänglich. Obwohl er viele jüdische Freunde hatte, schien ihn beispielsweise der zunehmende Antisemitismus kaum zu berühren. Als er 1938 für längere Zeit am Institute for Advanced Study in Princeton weilt und dort Besuch vom jüdischen deutschen Philosophen Gustav Bergmann erhält, fragt er diesen arglos: „Und was bringt Sie nach Amerika, Herr Bergmann?“

Die Nazis – Österreich ist mittlerweile an Hitler-Deutschland angeschlossen – entziehen Gödel wegen einer Lappalie die Lehrbefugnis an der Universität Wien. Nun fühlt sich der Logiker, der für seine minutiösen Regelauslegungen berüchtigt ist, herausgefordert: Obwohl er in Amerika bleiben und seine Frau zu sich holen könnte, fährt er Mitte 1939 zurück nach Wien, um, wie er es formulierte, „seine Rechte durchzusetzen“. Beinahe hätte er für diese Torheit mit dem Leben bezahlt. Aber Gödel scheint gar nicht zu merken, in welchem Zustand sich Europa befindet.

Zwei Tage vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs schreibt er seinem in die USA geflüchteten Freund Karl Menger: „Ich bin seit Ende Juni wieder hier in Wien und hatte in den letzten Wochen eine Menge Laufereien, so dass es mir bisher leider nicht möglich war, etwas für das Kolloquium zusammenzuschreiben. Wie sind die Prüfungen über meine Logikvorlesungen ausgefallen?“ Dieser Brief sei wohl „ein Rekord von Unbekümmertheit an der Schwelle welthistorischer Ereignisse“, kommentiert Menger.

Allmählich aber wird das Leben in Wien auch für Kurt Gödel ungemütlich. Völlig überraschend befindet man ihn bei seiner Musterung im September 1939 für „volltauglich“ – all seinen Beteuerungen zum Trotz, er leide an einem Herzfehler. Nun sitzt er also in Wien, im Osten tobt der Krieg, und Gödel kann jederzeit einberufen werden.

Dann wird Gödel eines Tages in der Nähe der Universität von einer Bande Nazischläger angegriffen, die den Intellektuellen mit der Hornbrille offenbar für einen Juden halten (tatsächlich stammte er aus einer christlichen Familie). Seine Frau Adele kann Schlimmeres verhindern, indem sie die Pöbler mit ihrem Schirm in die Flucht schlägt. Die heroische Tat ist sinnbildlich für die Ehe der Gödels: Zwar war Adele, eine ehemalige Nachtklubtänzerin, sechs Jahre älter als Kurt, laut und ungebildet – aber sie hat ihn geerdet, sie hat ihn umsorgt, ohne sie war er nicht lebensfähig.

Jetzt endlich will das Ehepaar ausreisen. Aber wie? Die Amerikaner stellen für Deutsche keine Touristenvisa mehr aus. Nur dem Beziehungsnetz von Gödels Freunden in den Vereinigten Staaten ist es zu verdanken, dass er ein amerikanisches Arbeits- und ein deutsches Ausreisevisum bekommt. Und dann haben Kurt und Adele noch ein weiteres Mal Glück: An eine Atlantikquerung ist nicht mehr zu denken, aber dank des Hitler-Stalin-Pakts ist der östliche Fluchtweg noch offen. Über deutsch und sowjetisch besetzte Gebiete fahren die Gödels nach Moskau, von dort mit der transsibirischen Eisenbahn nach Wladiwostok, mit der Fähre nach Japan und dann über den Pazifik nach Amerika. Sieben beschwerliche Wochen dauert die Reise.

In Princeton trifft Gödel einen alten Bekannten aus Wiener Zeiten: den jüdischen Ökonomen Oskar Morgenstern, der schon 1938 in die USA geflüchtet war. Verständlicherweise ist er erpicht auf einen Lagebericht aus Wien, doch Gödel ist wieder einmal unbeeindruckt von den äußerlichen Geschehnissen. Morgenstern notiert in sein Tagebuch: „Gödel ist aus Wien gekommen. Über Wien befragt: ,Der Kaffee ist erbärmlich.‘ (!) Er ist sehr spaßig, in seiner Mischung aus Tiefe und Weltfremdheit.“

Gödel betrat nie mehr europäischen Boden. „Ich bin so froh, dem schönen Europa entronnen zu sein“, schrieb er seiner Mutter. Er finde „das Land und die Menschen hier 10-mal sympathischer“, und die Behörden funktionierten „10 x 10 x ...besser“ als in Österreich. Man kann gut verstehen, dass Gödel keine Lust hatte, an die bestenfalls halbherzig entnazifizierte Universität Wien zurückzukehren, wo die einst blühende Mathematik darniederlag. Weniger verständlich ist, dass sich Österreich seines berühmten Sohnes nicht erinnerte: Zu Lebzeiten erhielt Gödel, der in Amerika mit Ehrendoktoraten überhäuft wurde, nie eine österreichische Auszeichnung, und kein einziges Mal wurde in österreichischen Medien über ihn berichtet. „Man will anscheinend beweisen, dass ich nicht existiere und nie existiert habe“, kommentierte er bitter.

1947 beschloss Kurt Gödel, sich in den USA einbürgern zu lassen, und er bereitete sich gewissenhaft auf diesen Akt vor. Am Tag vor der Staatsbürgerschaftsanhörung kam er aufgeregt zu Oskar Morgenstern: Er habe in der amerikanischen Verfassung eine Lücke entdeckt, die es erlaube, Amerika auf legale Weise in eine Diktatur zu verwandeln. Morgenstern war alarmiert – nicht wegen Amerika, sondern wegen Gödel. Gemeinsam mit Einstein beriet er, was zu tun sei. Am nächsten Morgen war ein kurioses Trio zum Gerichtsgebäude des Staates New Jersey unterwegs: Am Steuer des Wagens Oskar Morgenstern, auf dem Rücksitz Kurt Gödel und neben ihm Albert Einstein, der eine Schnurre nach der anderen erzählte, um den Einbürgerungswilligen von seinen verfassungstheoretischen Gedankenspielen abzulenken. Gleich beim Einsteigen fragte Einstein: „Nun, bist du bereit für deine vorletzte Prüfung?“

Darauf Gödel: „Was heißt da vorletzte?“

Einstein: „Die letzte kommt, wenn du in dein Grab steigst.“

Doch die Vorsichtsmaßnahmen nützten nichts. Der Richter eröffnete die Anhörung mit der Feststellung: „Bis jetzt hatten Sie die deutsche Staatsbürgerschaft.“ Gödel intervenierte: „Entschuldigen Sie, die österreichische.“ – „Jedenfalls eine böse Diktatur“, fuhr der Richter fort. „Zum Glück ist so etwas in Amerika unmöglich.“ Das war das Stichwort für Gödel: „Im Gegenteil, ich weiß genau, wie das geht!“ Und er legte los. Doch der Richter war milde gestimmt, und nachdem ihm Einstein, der ihn von seiner eigenen Einbürgerung her kannte, einen vielsagenden Blick zugeworfen hatte, unterbrach er Gödels Wortschwall: „Sie brauchen das nicht so genau auszuführen!“

Ja, Gödel war ein Genauigkeitsfanatiker, ein Ordnungsbesessener. Die Ordnung, die er in der Mathematik sah, empfand er auch in der Welt. „Denn sie ist durchaus nicht chaotisch, sondern es herrscht, wie die Wissenschaft zeigt, in allem die größte Regelmäßigkeit und Ordnung.“ Jedes vermeintliche Chaos sei „nur ein falscher Eindruck“. Wo andere den Zufall am Werk sahen, fühlte Gödel Zusammenhänge.

So machte er etwa 1946 den Wahlsieg der Republikaner dafür verantwortlich, dass „die Filme im Laufe des Jahres entscheidend schlechter geworden“ seien. In Kurt Gödels Welt war für den Zufall kein Platz. Er glaubte nicht an den statistischen Zufall der Quantenmechanik, er glaubte nicht an den blinden Zufall der Evolution, und er glaubte nicht an den Zufall im Lotto: „Adele hat ein ausgesprochenes Talent entwickelt, die Nummern bei den Glücksspielen zu erraten. Ich habe das mit ca. 200 Versuchen einwandfrei festgestellt.“ Dafür glaubte er an Gespenster, Telepathie und ein Leben nach dem Tod.

Und er glaubte an Gott. „In der Religion“, schrieb er, „liegt viel mehr Vernunft, als man gewöhnlich glaubt.“ Man könne „ein exaktes Postulatensystem aufstellen mit solchen Begriffen, die gewöhnlich für metaphysisch gehalten werden: ,Gott‘, ,Seele‘, ,Ideen‘.“ Gödel hat sogar versucht – und das im 20. Jahrhundert! –, einen Gottesbeweis aufzustellen: eine streng mathematische Fassung des sogenannten ontologischen Gottesbeweises von Anselm von Canterbury (1033–1109), der aus dem Begriff des vollkommenen Wesens auf die Existenz von Gott geschlossen hatte. Gödels Beweis spielt sich allerdings in einem hochabstrakten System ab; die Formel für „Gott“ lautet darin:

.

Ähnlich fantastisch, wissenschaftlich aber viel bedeutsamer war Gödels Beitrag zu Einsteins 70. Geburtstag 1951: Er schenkte ihm eine Lösung der Grundgleichungen der allgemeinen Relativitätstheorie. Diese kosmologischen Formeln beschreiben die Strukturen von Raum und Zeit, und Kurt Gödel hatte eine Lösung gefunden, die auch von einem Science- Fiction-Autor stammen könnte. Sein Modell beschrieb nämlich ein Universum mit zyklischer Zeit, in dem sich der ganze Weltenlauf endlos wiederholt. „Unternimmt man in einem Raumschiff eine Rundreise auf einer hinreichend weiten Kurve“, so Gödel, „kann man in diesen Welten jede beliebige Region der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft besuchen und wieder zurückreisen.“ Während Gödel bis an sein Lebensende nach Beobachtungsdaten forschte, die sein Modell bestätigten, zeigte sich Einstein weniger begeistert. Gödels Lösung sei zwar mathematisch richtig, aber „aus physikalischen Gründen“ unmöglich. Die Forschung ist sich darüber bis heute nicht einig.

Einsteins Tod 1955 war für Gödel „ein großer Schock“. Nach dem Verlust seines besten Freundes veröffentlichte er keine einzige Arbeit mehr, hielt nie mehr einen Vortrag und vereinsamte zunehmend. Überdies häuften sich seine Anfälle von Verfolgungswahn. Gödel hatte eine besondere Angst vor Kühlschränken, ließ einmal im Winter die Heizung aus seiner Wohnung entfernen, weil angeblich giftiges Gas daraus entströmte, und wenn bestimmte ausländische Mathematiker in Princeton waren, fürchtete er, von ihnen ermordet zu werden.

Im Juli 1977 starb Kurt Gödels letzter Freund, Oskar Morgenstern. Gödel nahm offenbar nicht wahr, dass Morgenstern im Sterben lag. 16 Tage vor seinem Tod schrieb der unheilbar Kranke in sein Tagebuch: „fragte kurz nach meinem Befinden und versicherte, es sei ganz klar, dass meine Krebserkrankung nicht nur gestoppt, sondern zurückgehen werde. Dann ging er zu seinen eigenen Problemen über. Er ging davon aus, dass die Ärzte ihm nicht die Wahrheit sagen, dass sie sich nicht mit ihm befassen wollen, dass er ein Notfall ist und dass ich ihm helfen solle, ins Princeton-Krankenhaus zu kommen. Er versicherte mir auch, dass bereits vor etwa zwei Jahren zwei Männer erschienen seien, die vorgaben, Ärzte zu sein. Sie waren Schwindler, und er habe große Schwierigkeiten gehabt, sie zu enttarnen. Es ist schwer, zu beschreiben, was eine solche Konversation für mich bedeutet: Hier ist einer der brillantesten Männer unseres Jahrhunderts, er ist mir sehr zugetan und leidet ganz klar unter einer Form von Paranoia, erwartet Hilfe von mir, die ich nicht geben kann. Indem er an mir hängt – und er hat offensichtlich sonst niemanden, macht er die Last schwerer, die ich trage.“

Aus Angst vor Vergiftungen aß und trank Gödel immer weniger – zum Frühstück ein Ei, ein oder zwei Teelöffel Tee, manchmal ein wenig Milch oder Orangensaft; zu Mittag meist Bohnen, niemals Fleisch. Was ihn am Leben hielt, war seine Frau, die sich rührend um ihn kümmerte („I have to hold him like a baby“, sagt sie). Aber Adele war selber krank, konnte Kurt immer weniger unterstützen und musste im Herbst 1977 für mehrere Monate ins Spital. Jetzt aß Gödel gar nichts mehr. Als seine Frau Ende Dezember nach Hause kam, wog er noch knapp 30 Kilo. Gödel wurde ins Krankenhaus eingeliefert, wo er am 14. Januar 1978 starb, mit hochgezogenen Knien und eingerolltem Rücken, wie ein Fötus im Mutterleib. Als Todesursache wurde angegeben: „Unterernährung und Auszehrung“, verursacht durch eine „Persönlichkeitsstörung“. Adele starb drei Jahre später.

Mathias Plüss

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