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Nach Besetzung der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin: Zwölf Anzeigen wegen antisemitischer Vorfälle gestellt
Wegen antisemitischer Akte während der Besetzung der ASH wurden zwölf Anzeigen erstattet. Indes nehmen jüdische Dozenten die Präsidentin in Schutz. Der Konflikt über den Umgang spaltet die Hochschulspitze.
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Nach der Besetzung der Berliner Alice-Salomon-Hochschule (ASH) hat die Hochschule bisher zwölf Anzeigen gestellt. Das berichtete Staatssekretär Henry Marx (SPD) am Montagvormittag im Wissenschaftsausschuss des Abgeordnetenhauses.
Es lägen mehrere Beweise terrorverherrlichender und antisemitischer Akte vor, die die Hochschulleitung gesichert habe, führte Marx aus. Hier sei die Hochschule ihrer Aufgabe nachgekommen, die Vorfälle zu dokumentieren. Die Wissenschaftsverwaltung hatte das in der vergangenen Woche ausdrücklich eingefordert.
Unter dem Material seien vier Postkarten mit dem Slogan „From the river to the sea“, sechsmal sei das rote Hamas-Dreieck an der Hochschule dokumentiert worden. Eine Postkarte trug den Spruch „Hamas habibi“. Ein Plakat habe postuliert, dass sich mit dem 7. Oktober 2023 der palästinensische Befreiungskampf Bahn gebrochen hätte.
Die Abgeordneten Adrian Grasse (CDU) und Laura Neugebauer (Grüne) wollten von Marx und Senatorin Ina Czyborra (SPD) genauer wissen, wie sie das Agieren der Hochschulleitung bewerten. Die ASH-Leitung unter Präsidentin Bettina Völter hatte den Aktivisten nach beendeter Besetzung am vergangenen Montag für Dienstag bis Donnerstag weiter Raum für Protestaktionen gegeben. Völter war auch unter Druck geraten, weil sie den Einsatz zweier Polizisten am Montagabend „bedrohlich“ nannte, wie auf einem in den Sozialen Medien kursierenden Video zu sehen ist.
Czyborra sagte, die ASH habe als pädagogische Hochschule versucht, die Situation in Gesprächen zu deradikalisieren. Es seien in der vergangenen Woche aber „rote Linien“ überschritten worden, die sie „sehr beunruhigen“ würden. Es würden nun zahlreiche offene Briefe von Hochschulangehörigen mit unterschiedlichen Sichtweisen zirkulieren, inwieweit Studierende und Beschäftigte Angst hatten, in der vergangenen Woche zur Hochschule zu kommen.
Die Senatsverwaltung müsse die Vorfälle nun genau bewerten. Dazu gehöre auch zu prüfen, ob es zur Vernachlässigung von Dienstpflichten gekommen sei. Zu Völters Aussage, die Polizisten seien „bedrohlich“ gewesen, sagte Czyborra, diese sei an einem langen Tag der Besetzung gefallen. Als Senatorin habe sie selber deutlich gemacht, dass sie über den Einsatz der Polizei außerordentlich dankbar sei.
Staatssekretär Marx sagte, die ASH-Leitung habe grundsätzlich gut mit der Polizei kommuniziert und zusammengearbeitet. Die ASH habe sich am Montag, als die Hochschule besetzt wurde, für eine Deeskalation entschieden. Er finde das prinzipiell richtig: „Bei vielen Aktivisten handelt es sich ja wohl auch um Studierende der Hochschule, und man muss am Ende des Tages weiter zusammenarbeiten können.“ Die Überschreitung von Grenzen dürfe dabei nicht hingenommen werden.
Kritisch sehe er, dass die Hochschule danach weiter freiwillig Räume für die Aktivisten zur Verfügung stellte, auch wenn pädagogische Arbeit Ambivalenzen aushalten müsse. Das sei der Hochschule auch kommuniziert worden, mit der er im engen Austausch stand. Für ein solches Vorgehen müsse es klare Regeln geben, es dürfe nicht zu Akten von Antisemitismus, Terrorverherrlichung und Menschenfeindlichkeit kommen. Ähnlich äußerte sich Marx zuvor im Innenausschuss.
Berliner ASH ist beim Umgang mit Besetzung gespalten
Dass es sich bei den Besetzern um viele oder sogar „überwiegend“ ASH-Studierende handelte, wie auch eine Solidaritätsnote für Völter behauptete, lässt sich nach Tagesspiegel-Informationen allerdings kaum halten. Denn das soll entgegen der Bitte der Polizei gar nicht erhoben worden sein.
So hatte sich auch Czyborra am Wochenende auf dem Netzwerk LinkedIn geäußert, wo sie die ASH deutlich schärfer als jetzt im Parlament kritisierte. Nach dieser Darstellung von Czyborra hat sich die ASH-Präsidentin offenbar Hinweisen der Senatsverwaltung verweigert. „Es war versprochen worden zu kontrollieren, ob es sich um Studierende handelt“, schrieb Czyborra. „Leider wurden anscheinend alle Hinweise und Bitten seitens unseres Hauses nicht umgesetzt.“ Das diskreditiere sinnvolle Strategien der Deeskalation und der Öffnung von Dialogräumen. Es sei auch versprochen worden, Beschäftigte und Studierende zu schützen, Straftaten zu dokumentieren und zu unterbinden. Stattdessen sei es zu einer „extrem ausgedehnten Duldung“ gekommen.
Tatsächlich sind die Anzeigen jetzt gegen unbekannt gestellt worden, wie die ASH am Montag bestätigte. Das liege in erster Linie daran, dass die Hochschule nicht wisse, wer konkret das jeweilige Material erstellt hat. „Die Personalien liegen uns darüber hinaus nicht vor“, hieß es.
Wie kam es dann dazu, dass Staatssekretär Marx davon sprach, viele Besetzer seien Studierende gewesen? Marx sagte nach der Ausschusssitzung auf Nachfrage, seine Bemerkungen beziehe er auf eine direkte Aussage der Präsidentin ihm gegenüber. Der Senatsverwaltung würden aber widersprechende Darstellungen vorliegen.
Der Staatssekretär hatte sich wie Czyborra am Wochenende auf LinkedIn noch deutlicher positioniert. Er erinnerte dort daran, dass Hochschulen die gesetzliche Pflicht hätten, gegen Antisemitismus zu handeln und sichere Bedingungen für alle Mitglieder zu schaffen. Die Hochschulen seien nach den Besetzungen und Aktionen seit Oktober 2023 verpflichtet worden, ihre Sicherheitskonzepte zu überarbeiten. „Viele Hochschulen setzen diese Vorgaben professionell um und arbeiten eng mit der Berliner Polizei zusammen“, befand Marx. „Die aktuellen Geschehnisse zeigen jedoch, dass einige Hochschulen überfordert sind.“ Gemeint war damit die ASH.
Die ASH scheint indes gespalten, was den Umgang mit der Besetzung betrifft. Nicht nur zirkulieren unterschiedliche offene Briefe. Der Konflikt reicht bis in die Spitze der Hochschule. Kanzlerin Jana Einsporn, zuständig für Verwaltung, Finanzen, Gebäude und Personal, distanzierte sich vom Verhalten ihrer Präsidentin gegenüber den Besetzern.
Sie hatte sich an den Regierenden Bürgermeister Kai Wegner (CDU) und Czyborra gewandt. Mehrere Kollegen „haben sich an mich gewandt und Besorgnis über die derzeitige Lage geäußert“, schrieb Einsporn. Ihre Mitarbeiter berichteten „von Ängsten und Unsicherheiten, da die Situation vor Ort weniger friedlich wahrgenommen wird, als dies in den Medien dargestellt wird“. So hätten sich „hochschulfremde, vermummte Personen in der Hochschule und in der Nähe von Arbeitsbereichen aufhalten“. Das verstärke das Unsicherheitsgefühl der Mitarbeiter.
Einsporns Subbotschaft war, dass Völter ihre Fürsorgepflicht gegenüber den Mitarbeitenden, nämlich ihre Sicherheit zu garantieren, nicht nachkam. Tatsächlich belegen Videos, wie die Besetzer durch die Flure mit Megaphon laufen. Mitarbeiter berichten davon, wie gegen ihre Bürotüren geschlagen und getreten wurde.
Uwe Bettig, der Dekan des Fachbereiches Gesundheit, Erziehung und Bildung und als Rektor bis 2018 Vorgänger von Völter, sieht das Vorgehen der Hochschulleitung ebenfalls kritisch. Es sei zwar richtig gewesen, in einem Papier rote Linien zu formulieren. „Aber das nützt nichts, wenn sie nicht überwacht werden oder das Überschreiten nicht sanktioniert wird“, sagte Bettig dem Tagesspiegel.
Der Vorgänger Völters übt Kritik
Auch Bettig spricht von verängstigten Mitarbeitern, die sich in ihre Büros einschlossen. „Völter ist nicht nur für die wenigen besetzenden Studierenden zuständig, sondern für die gesamte Hochschule“, sagte er. Auch die Vermummung der Aktivisten zu dulden sei falsch gewesen, weil das die Aufklärung der Vorfälle behindere. Aus Bettigs Sicht gibt es viele, die das Verhalten der Präsidentin völlig falsch finden – genauso wie es viele Unterstützer gebe. Die Kritiker würden sich aber auch aus Angst vor negativen Folgen weniger öffentlich positionieren.
Die Besetzung wird selbst unter jüdischen Studierenden und Hochschulangehörigen völlig unterschiedlich wahrgenommen. Tacheles, eine antisemitismuskritische Studierendengruppe, die an der ASH und an der Humboldt-Universität aktiv ist, hatte den Antisemitismus der Protestaktion in der vergangenen Woche scharf kritisiert.
Einige jüdische Hochschulangehörige stellen sich hinter Völter
Dagegen stellt sich eine kleine Gruppe, teils ehemaliger, jüdischer und deutsch-israelischer ASH-Lehrender nun hinter Völter. Die sieben Personen, darunter der politische Bildner Arnon Hampe und die Sozialarbeiterin und Falken-Mitarbeiterin Dikla Levinger, loben Völters Umgang mit dem Thema Antisemitismus an der Hochschule seit dem 7. Oktober. Nicht nur sei sie unmittelbar nach dem Hamas-Massaker in Israel 2023 auf die Verfasser:innen zugekommen, „um zu fragen, wie es uns geht und was wir in dieser Situation an Support brauchen“. Sie habe sich auch von ihnen Rat dazu geholt, „wie die Hochschule aus unserer Sicht das Thema Israel/Palästina behandeln und gleichzeitig Antisemitismus und antimuslimischem Rassismus entgegentreten kann“.
Das Statement listet verschiedene Formate auf, die die ASH zu Partizipation, Nahostkonflikt, Friedensarbeit und Antisemitismus im Angebot hat oder jüngst hatte. Zwei der Unterzeichner (Arnon Hampe und Vered Berman) gäben an der ASH Seminare zu Antisemitismus und dem Israel-Palästina-Konflikt, in denen sie „in die Auseinandersetzung mit den Studierenden gehen“.
Dass Völter die Besetzung von Montag letzter Woche nicht hat räumen lassen, bezeichnen die Verfasser:innen als „Chance, mit den Studierenden danach an den Erfahrungen zu arbeiten und sie nicht nur auszuschließen und gesellschaftlich zu stigmatisieren“. Es brauche „manchmal auch Streit“ für eine inklusive Gesellschaft.
Zu den antisemitischen Parolen heißt es in dem offenen Brief: „Als Jüd_innen, die in Deutschland leben, wissen wir nur zu gut, dass es keinen Raum gibt, der frei von Antisemitismus ist. Dass es während der Saalbesetzung zu antisemitischen Äußerungen und Handlungen kam, besorgt uns, überrascht uns jedoch nicht.“
Sie seien zum Teil selbst vor Ort gewesen und hätten die Symbole und Parolen gesehen und gehört. „Wir haben jedoch auch erlebt, wie die Hochschulleitung und andere Hochschulangehörige aktiv und mit persönlichem Einsatz deeskalierende Gespräche geführt und klare Grenzen formuliert haben. Diskriminierende Plakate wurden daraufhin von den Besetzenden selbst entfernt.“ Das widerspricht der Darstellung der Deutschen Journalisten Union (DJU), die der ASH-Leitung vorwarf, Vorfälle zu vertuschen und „eilig“ belastendes Material von den Wänden gerissen zu haben.
Das Statement kritisiert auch den Ausschluss mancher jüdischer und israelischer Perspektiven aus dem deutschen Diskurs und spricht von einer Instrumentalisierung von den „viral gegangenen Grenzüberschreitungen von Teilen der Besetzer_innen“ der ASH. Alle „als ‚Antisemiten‘ zu bezeichnen, wie es in einem Statement des Regierenden Bürgermeisters geschah, ist diskriminierend und in dieser Verallgemeinerung schlichtweg falsch.“ Das schütze jüdische Menschen nicht vor Antisemitismus.
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