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Prof. Volker Haucke

© DFG/David Ausserhofer

„Wissenschaft wird hier fast unmöglich gemacht“: Berliner Leibniz-Preisträger prangert Forschungshürden an

Wie entstehen lebende Zellstrukturen aus dem Nichts? Diese Frage treibt den Molekularbiologen Volker Haucke an. Den Forschungsstandort Deutschland sieht er allerdings in ernster Gefahr.

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Um das Universum zu verstehen, haben Menschen seit jeher zu den Sternen aufgeschaut – mit bloßem Auge, mit einfachen Teleskopen, mit Satellitenobservatorien. Um das Phänomen Leben zu verstehen, blicken Wissenschaftler ins Innere von Zellen. Früher mit einfachen Lichtmikroskopen, heute mit hoch entwickelten Geräten, die bis auf einzelne Moleküle heranzoomen können.

Einer dieser Zellforscher ist Volker Haucke, Direktor am Leibniz-Forschungsinstitut für Molekulare Pharmakologie (FMP) in Berlin-Buch. Für seine Reisen ins Lebendige erhält er am Mittwoch den Leibniz-Preis, Deutschlands höchste wissenschaftliche Auszeichnung, vergeben von der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

Millionen Zellen über Nacht analysieren

Zum Gespräch trifft man den Molekularbiologen im lichtdurchfluteten Büro seines Instituts auf einem grünen Campus am Rand der Stadt. Der schlanke 57-Jährige springt sofort auf und kommt dem Besucher mit raschen Bewegungen entgegen. Neben dem aufgeräumten Schreibtisch steht ein blitzsauberes Fahrrad, im Regal reihen sich dicke Lehrbücher. Alte Wälzer über Biochemie, Physik und Zellbiologie. „Eigentlich könnte ich die auch wegtun“, sagt Volker Haucke, und grinst kurz. „Aber dann stünde ja nichts im Regal.“

Der 57-Jährige lässt sich zunächst kaum dazu bewegen, über seine preiswürdigen Erfolge zu sprechen. Stattdessen erzählt er begeistert von einem neuen Gerät, das er auf einer seiner vielen Reisen entdeckt und beim Hersteller in Taiwan gekauft hat. „Microscoop“ heißt es, und sofort ist man mittendrin in jener irren Welt der unsichtbar kleinen Gebilde. „Das Microscoop ist unglaublich präzise“, schwärmt der Biologe. „Es kann mit pixelgenauer Präzision Millionen Zellen analysieren – über Nacht.“

Stark vereinfacht erklärt: Das Microscoop sendet ultrakurze Blitze von infraroten Laserstrahlen aus, die tief in Zellen eindringen. Das können zum Beispiel Zellen von Mäusen sein, die zuvor in einer Kulturschale gewachsen sind. Das Licht wird dadurch in so kleine Portionen aufgeteilt, dass jeweils zwei Photonen, also die kleinsten Einheiten von Lichtstrahlen, auf ein bestimmtes Molekül treffen und es damit aktivieren.

Das Molekül reagiert daraufhin mit den benachbarten Eiweißmolekülen, die man so identifizieren kann. Mithilfe von KI-gestützter Bildanalyse kann der Laserstrahl in einer Nacht auf diese Weise tausende Zellen abtasten. „Wir können gezielt Moleküle in Zellen markieren und so sehen, welche Proteine wo gebraucht werden“, sagt Haucke.

Strukturen aus dem Nichts

Wozu der Aufwand? Es ist vor allem eine Frage, die Volker Haucke antreibt: „Wie kann eine Zelle aus dem Nichts eine neue Struktur aufbauen, für die es nur einen genetischen Bauplan gibt?“ Beispielsweise möchte er verstehen, wie Nervenzellen die so wichtigen Kontaktstellen untereinander – die Synapsen – ausbilden. „Synapsen werden nicht kopiert, sie müssen aus dem Nichts entstehen“, sagt Volker Haucke. „Es gibt einen Bauplan, aber keine Vorlage. Das macht das Ganze so faszinierend.“

Jede Zelle besteht aus vielen Milliarden Molekülen, darunter Proteine in tausenden Arten. Die werden gemäß der Anleitung im Zellkern – dem genetischen Code – hergestellt. Aber dann? Woher „weiß“ das einzelne Proteinmolekül, wohin es wandern, mit wem es interagieren soll? Wie entstehen und vergehen die vielgestalten Strukturen in Zellen, die dafür sorgen, dass wir atmen, denken, lachen können?

Synapsen werden nicht kopiert, sie müssen aus dem Nichts entstehen.

Volker Haucke, Leibniz-Preisträger

Es gibt nicht die eine Antwort auf diese Frage. Doch Volker Haucke sind über die Jahre Entdeckungen gelungen, die das Wunder der Selbstorganisation ein Stück verständlicher machen. Beispielsweise hat er wandelbare Identifikationsmarker entdeckt, die man abgekürzt PIP nennt.

Ordnung im Chaos

Im scheinbar chaotischen Zellgeschehen werden viele Stoffe in Membranhüllen verpackt. In den winzigen Bläschen können sie dann quer durch die Zelle wandern. Und diese Transportbehälter markiert die Zelle mit den PIPs. Deren chemische Natur ist so beschaffen, dass sie blitzschnell zwischen verschiedenen Zuständen hin- und herwechseln können.

Es handelt sich dabei um eine minimale Veränderung, die aber von der Zelle eindeutig abgelesen werden kann. Und sie entscheidet darüber, dass ein Transportbehälter ins Zellinnere gehört. Bei einer anderen Bestückung wandert er zur äußeren Zellmembran, dockt dort an und entlässt seine Fracht ins Freie. 

Tödlicher Gendefekt

Der Prozess ist so fundamental, dass die Folgen verheerend sein können, wenn dabei etwas schiefläuft. In seltenen Fällen zerstört etwa ein Gendefekt eines der beteiligten Enzyme. Bei den betroffenen Kindern können sich Muskelfasern nicht richtig ausbilden, sie sterben in den ersten Monaten nach der Geburt.

Die PIPs sind dabei nur eines von vielen Steuerelementen. „Unsere Forschung zeigt, dass Signalwege und Transportprozesse in Zellen viel dynamischer sind als bisher gedacht“, sagt Haucke. „Es ist nicht einfach ein Schalter, der umgelegt wird – es ist ein fein reguliertes Netzwerk von Prozessen.“

Leidenschaft statt Work-Life-Balance

Mehr als 350 wissenschaftliche Veröffentlichungen mit Volker Hauckes Namen findet man in den Datenbanken. Wie schafft man so ein Pensum? Mit einem wachen Geist und brennendem Interesse: „Wissenschaft ist ein großartiges Unterfangen – was könnte es Schöneres geben?“, so der Forscher.

Auch Disziplin und ein nie nachlassender Arbeitswille gehören dazu. Volker Haucke wohnt mit seiner Frau im Süden von Berlin, seine beiden Töchter sind dort aufgewachsen. Jeden Tag pendelt er zwei Stunden mit der S-Bahn nach Berlin-Buch. Das Auto nehmen? Er winkt ab. „Das wäre tote Zeit.“ Mit dem Laptop auf dem Schoß dagegen lässt es sich arbeiten. Urlaub, Hobbys, Work-Life-Balance? Der Wissenschaftler schüttelt den Kopf. „Meine Forschung ist für mich keine Arbeit – es ist meine Leidenschaft.“

Auf der Suche nach Talenten

Und natürlich sind solche Erfolge nur möglich, indem man sich mit anderen Forschenden vernetzt – und gute Mitarbeiter um sich schart. Einen großen Teil des Jahres ist Volker Haucke daher auf Reisen, in Europa, aber oft auch in den USA oder in China. „Meetings sind nicht nur dazu da, sich Vorträge anzuhören“, sagt er. „In den Kaffeepausen erfährt man, woran Leute wirklich arbeiten – oft Dinge, die nie publiziert werden.“

Dort ist Haucke auch immer auf der Suche nach neuen Talenten. Die vielen teuren Geräte in den Laborräumen könnte Haucke selbst kaum noch bedienen, wie er offen zugibt. Auch nicht das Microscoop. Das können die jeweiligen Spezialisten in seiner Gruppe.

Wissenschaft ist ein großartiges Unterfangen – was könnte es Schöneres geben?

Volker Haucke, Leibniz-Preisträger

Der Preis sei daher auch eine Anerkennung für das ganze Labor, für alle Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, die gegenwärtigen wie die aus früheren Zeiten, betont Haucke. Er sei zudem dankbar für all das, was Deutschland ihm ermöglicht habe.

Doch an dieser Stelle mischt sich Düsternis und eine Spur Bitterkeit in die Begeisterung. Denn ob es in zehn Jahren noch gute biomedizinische Forschung in Deutschland geben werde, bezweifelt Haucke. Zu groß seien inzwischen die bürokratischen Hürden, insbesondere wenn es um die für ihn notwendigen Tierversuche geht.

Wissenschaft wird hier fast unmöglich gemacht.

Volker Haucke, Leibniz-Preisträger

„Ich sitze allein für meine Gruppe 60 Prozent meiner Zeit an Anträgen und behördlichen Genehmigungen“, sagt Haucke. „Wissenschaft wird hier fast unmöglich gemacht.“ Dagegen sieht er vor allem in China ein rasantes Wachstum, die Forscher dort seien extrem motiviert und zielstrebig. „Wenn ich heute in manche Fachjournale schaue, sehe ich kaum noch nicht-chinesische Autoren. Vor 20 Jahren war das noch ganz anders.“

Und daher schließt Volker Haucke, der heute mit Deutschland größtem Wissenschaftspreis ausgezeichnet wird, nicht aus, eines Tages Deutschland zu verlassen. „Ich werde dort hingehen, wo Wissenschaft noch möglich ist.“

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