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Straßenszene in Camden.

© REUTERS

Polizeireform in Camden: Wie die gefährliche US-Stadt Frieden fand

Camden war Amerikas kriminellster Ort. Nach einer Polizeireform ist er zum Vorbild des Landes geworden. Für ihre Sicherheit zahlen die Bewohner aber einen hohen Preis.

Regen trommelt auf die Windschutzscheibe, die Tropfen verschleiern den Blick auf die flachen Häuser, an denen der Streifenwagen vorbeigleitet. Camden. Als Kind, sagt Matthew DiDomenico, stellte er sich diese Stadt als einen Ort des Grauens vor, über den sein Vater düstere Geschichten erzählte, nachdem er von der Arbeit gekommen war. Geschichten, die von Mord und Totschlag handelten, von Drogen und Vergewaltigung.

DiDomenico, 24 Jahre alt, trägt eine dunkelblaue Uniform und sitzt hinter dem Lenkrad. Sein Vater war Staatsanwalt in dem darniederliegenden Industriestandort am Delaware-Fluss, auf der anderen Seite von Philadelphia, gut eine Autostunde von New York entfernt. Er sah das Verbrechen auf der Straße – in den Akten, im Gerichtssaal. Camden hat 77 000 Einwohner, die Hälfte von ihnen ist schwarz, ein weiteres Drittel sind Latinos. 40 Prozent leben unterhalb der Armutsgrenze, nicht einmal die Hälfte der Kinder schafft den regulären Schulabschluss. Gewalt hat die Stadt berühmt gemacht. „Camden“, sagt DiDomenico, „war für mich immer der verbotene Ort.“

Damals, beim Abendbrot im sicheren Vorort, träumte Matt davon, bei der US-Armee anzuheuern. Er wollte in den Krieg ziehen, die Welt retten. Aber nachdem DiDomenico mit der Schule fertig war, schrieb er sich stattdessen bei der Polizei ein. Diese schickte ihn auf die Straßen von Camden. Am Anfang fühlte sich auch das nicht viel anders an, als in den Krieg zu ziehen.

Heute ist aus dem sozialen Brennpunkt eine Vorzeigestadt geworden, die prominente Besucher anzieht: US-Präsident Barack Obama, republikanische Präsidentschaftsbewerber, Polizisten aus anderen Städten, Wissenschaftler und Journalisten. In Camden scheint etwas gelungen, was im Rest des Landes gescheitert ist. Die Zahlen für schwere Kriminalität wachsen nicht, sondern gehen sogar zurück. Und am Delaware-Fluss scheint eine Art Verständigung gelungen zu sein, die dazu führt, dass weiße Polizisten schwarze Jugendliche nicht mehr als Bedrohung oder Zielscheibe wahrnehmen.

Sie haben einen anderen Weg gewählt

In einer Nation, in der Namen wie Michael Brown, Eric Garner, Tamir Rice oder Freddie Gray für Rassismus und tödliche Übergriffe der Staatsgewalt stehen, hat die Polizei von Camden einen anderen Weg gewählt als die Beamten von Ferguson, New York, Cleveland oder Baltimore. Camden verkörpert das andere, bessere Amerika, eine Stadt, in der es keine anlasslos von Polizisten getöteten Schwarzen und keine Krawalle gibt. Camden, so hat es Obama bei seinem Besuch im Mai versprochen, soll die Antwort auf die Vertrauenskrise der staatlichen Ordnungsmacht sein. Was also macht Camden anders, besser?

In der Marion Street im Süden Camdens stoppt Officer DiDomenico seinen Streifenwagen am Straßenrand. Viele Häuser zerfallen in der Gegend, Holzbretter sind über blinde Fensterhöhlen genagelt. Hinter ihm hält sein Kollege Brian Cafferelli. DiDomenico richtet den Blick auf die Rückfront eines zweistöckigen Hauses. Wucherndes Gesträuch verdeckt die Sicht. Die Polizisten nähern sich vorsichtig, einer rechts am Gestrüpp vorbei, einer von links. DiDomenico muss über Schutthaufen und matschige Erde steigen. Wenigstens hat es aufgehört zu regnen. Vier junge Leute, schwarz und weiß, drei Männer und eine Frau, sitzen im Erdgeschoss auf dem dreckbedeckten Boden dessen, was einmal ein Zimmer war, die Rückwand fehlt. Es stinkt nach Urin, Spritzen liegen herum. Der Gestank von Armut hängt in der Luft, der so viele amerikanische Orte einhüllt, Städte und Stadtteile gerade mit vorwiegend schwarzer Bevölkerung.

Wenn der Polizist "Bitte" sagt

Straßenszene in Camden.
Straßenszene in Camden.

© REUTERS

Das Grüppchen blickt den Polizisten aufgeschreckt entgegen. Vorsichtig stehen die Verdächtigen auf. „Bitte kommen Sie raus“, sagt DiDomenico. „Was tun Sie hier?" Der Polizist ist durchtrainiert, er trägt die schwarzen Haare zackig kurz geschnitten. Seine Stimme ist entschieden, aber mit einem freundlichen Unterton und einem „Bitte" in den Sätzen. Die Vier stehen einfach nur da, niemand versucht wegzulaufen. Und die Uniformierten bleiben höflich, zeigen keine Lust daran, die Verdächtigen ihre Macht spüren zu lassen oder sie zu peinigen. Der Kontakt mit der Staatsmacht, der schon beim ersten Mal für Tamir Rice oder Eric Garner den Tod bedeutete, verläuft gewaltfrei.

„Ferguson hat ein Problem bloßgelegt, das nicht nur in St. Louis besteht und das ist das brodelnde Misstrauen, das zwischen zu vielen Polizeibehörden und zu vielen schwarzen Gemeinden existiert“, so hat es Obama nach dem Tod von Michael Brown und den Krawallen von Ferguson formuliert. Der Präsident setzte eine Taskforce ein, die den Rassismus und den Corpsgeist vieler Polizeibehörden bekämpfen soll. Und Obama hob Camden hervor als ein „vielversprechendes Symbol für die Nation“.

Auf Matthew DiDomenico und seinen Kollegen liegen große Hoffnungen. Bei diesem Einsatz klettern die vier jungen Leute nun einer nach dem anderen über lose Bretter und Steine aus der Ruine. „Wir sind hier, um einen Drogenentzug zu machen“, behauptet die junge Frau in einer grauen Jogginghose, als sie vor den Polizisten steht. DiDomenico glaubt ihr kein Wort, trotzdem lässt er sie und zwei andere nach einem genauen Blick und einer kurzen Belehrung ziehen.

Sie sprechen über Drogenkonsum

„Wenn wir sie zum zweiten Mal erwischen, dann stellen wir ihnen einen Strafzettel für unerlaubtes Betreten aus“, sagt er. Aber wovon sollten Drogenabhängige das schon zahlen? Ein junger Schwarzer bleibt bei den Polizisten stehen. Er lässt den Kopf hängen, trägt einen gelben Kapuzenpulli mit Leopardenmuster, darunter ein blau-weiß kariertes Hemd, eine schwarze Basecap ist ins Gesicht gezogen. Er heißt Jimmie. Jimmie hat die Augen fast ganz geschlossen.

„Hast du Drogen genommen?“, fragt DiDomenico.

„Ja“, murmelt Jimmie. Heroin? „Ja.“ „Hast du dir gerade einen Schuss gesetzt?" – „Ja."

Wann Jimmie davor zuletzt gedrückt habe, will DiDomenico wissen. „Heute früher am Tag.“ Wie oft er drückt? „Drei- bis viermal am Tag.“

„Und wie kommst du nach Hause?“ – „Mit dem Zug.“ – „Bist du okay?“ Jimmie nickt, er darf gehen.

Morgen ist Jimmie wahrscheinlich wieder hier, wie auch DiDomenico. Aber heute stirbt zumindest kein junger Schwarzer bei einer Polizeikontrolle.

Jahrelang zählte Camden in der Kriminalitätsstatistik des FBI zu den zehn gefährlichsten US-Städten, 2009 rutschte die Stadt auf den ersten Rang. Die Kriminalitätsrate lag beim Fünf- bis Sechsfachen des nationalen Durchschnitts. Noch 2012 wurden 67 Menschen ermordet, die meisten starben durch Kugeln. Viele Polizisten meldeten sich dauerkrank, und die, die noch Streife fuhren, trauten sich nicht mehr, ihren Einsatzwagen zu verlassen. Nachdem die bankrotte Stadt den Haushalt der Behörde zusammenstrichen hatte, wurde die Polizeiverwaltung von Camden Anfang 2013 aufgelöst. Die Polizeistationen von Camden und Camden County, dem Umkreis, wurden zusammengelegt. Damit verschwand die Stadt – ein gewollter Nebeneffekt – aus der Spitze der Kriminalstatistik.

Kurswechsel auf allen Ebenen

Aber was die Polizei zum Vorzeigerevier gemacht hat, ist ihr strikter Kurswechsel, auf allen Ebenen. Polizisten werden bereits an der Polizeiakademie darauf getrimmt, sich stets so verhalten, als würden sie mit einer Kamera überwacht. Der Einsatz von Waffengewalt gilt als letztes Mittel, anstatt wie so oft im restlichen Amerika als Mittel der Wahl.

Oft patrouillieren die Polizisten jetzt auch zu Fuß durch die Wohngebiete. Fahrradstreifen sollen Nähe zur Bevölkerung herstellen. Die Polizei veranstaltet Grillfeste mit Gemeinden und Basketballspiele mit schwarzen Jugendlichen. Polizisten lesen mit schwarzen Schulkindern. Wenn es heiß wird, gibt es Eis. Das sind „keine Mätzchen“, sagt Polizeivizepräsident Orlando Cuevas. Polizei und Bevölkerung müssten im Kontakt stehen, bevor etwas passiert. „Diese Lektion hat ja wohl jeder seit dem vergangenen Jahr gelernt.“

Er lächelt, solange keiner die eine Frage stellt

Straßenszene in Camden.
Straßenszene in Camden.

© REUTERS

In Cuevas’ kleinem Eckbüro im ersten Stock des Camden County Police Departments steht die Tür offen. Er ist in Eile. Bevor er geht, zeigt Cuevas aber dann noch auf das große Schild, das neben seinem Büro im Flur hängt: „Service before self“, Dienen vor Eigeninteresse, steht da, es ist das Motto der sich neu erfundenen Polizei von Camden County. „Alle müssen mit Würde und Respekt behandelt werden“, schrieb es Polizeichef Scott Thomson in einem behördeninternen Rundbrief im April. „Auch Gesetzesbrecher.“ Angesichts der Berichte über umstrittenes Polizeiverhalten quer durchs Land sei „das Risiko, das Vertrauen der Kommune zu verlieren, mehr denn je real“.

Seine Aufgabe, der bessere Polizist zu sein, nimmt DiDomenico sichtlich ernst. Sein seriöses Auftreten passt zuweilen nicht ganz zu seiner jugendlichen Erscheinung. Im Gespräch nimmt er die Polizeimütze höflich ab, die braunen Augen lächeln freundlich. Solange man nicht die eine Frage stellt: Also, wie konnte die Situation in Ferguson und Baltimore so eskalieren? DiDomenico windet sich, blickt durchs Fenster auf die Straße. „Es war ein Fehler, der beim Erfüllen des Dienstes passiert ist“, sagt er. Es ist eine heikle Frage für Polizisten in Amerika, die meisten weichen ihr ungelenk aus. Sie sprechen von einer „schwierigen Situation“ oder einer „unklaren Beweislage“, sie wollen ihren Kollegen nicht in den Rücken fallen.

Schlechtes Licht auf die Polizei

DiDomenico fährt die Kaighn Avenue entlang nach Westen. Sein Einsatzgebiet ist der zweite Distrikt in Camden. Schließlich antwortet er doch, zögernd. Es scheine, sagt er, als ob es in Ferguson eine Menge Misstrauen gegeben habe, und all das „hat ein schlechtes Licht auf die Polizei geworfen“. Aber viele Leute seien „falsch informiert“. Es ist wahrscheinlich die schärfste Form von Kritik, die man von einem Officer in Camden offiziell hören wird.

In der Liberty Street auf der anderen Seite des Broadway halten die beiden Polizeiwagen vor einem leerstehenden Bankgebäude aus hellem Klinkerstein. Viele Fenster in den oberen Stockwerken sind eingeschlagen. Im Erdgeschoss wächst Gras. Durch eine Garageneinfahrt betreten die Polizisten eine Art Atrium. Gleich links sitzt zusammengesunken eine junge weiße Frau auf einem alten Autoreifen. Es ist gerade hell genug, um zu erkennen, dass sich am anderen Ende ein Mann mit dunkler Haut ganz sacht in Richtung Ausgang schiebt. Die Entscheidung der Polizisten fällt schnell, ein kurzer Satz genügt. Zwar macht Officer Cafferelli einen halbherzigen Versuch zu erkennen, wer sich da hinten so auffällig entfernt. Aber es helfen beide lieber der Frau.

Was machen Sie hier?“, fragt DiDomenico. Die Verdächtige ist halb weggetreten, erzählt eine krude Geschichte. Die Polizisten fragen, ob sie von dem Hilfsprojekt für drogenabhängige Frauen wisse. „Wollen Sie Hilfe?“, fragt der Polizist. „Ich weiß es nicht“, antwortet sie. Es gehört zum Konzept, nicht nur zu kriminalisieren, sondern auch Hilfe anzubieten. Die Drogensüchtige kommt ebenfalls mit einer Ermahnung davon. „Anderswo würde sie ins Gefängnis gehen“, sagt der Polizist später. „Aber was würde das schon helfen?“ Sie vertrauen auf ihre eigene Statistik. Und die belegt, dass zehn Prozent der Aufgegriffenen die Hilfe annehmen.

Für Samstag hat DiDomenico einen Schichtdienst der anderen Art geplant: Er hat zugesagt, mit den schwarzen Jungs aus der Nachbarschaft Basketball zu spielen. „Die Leute sollen eine andere Seite von uns sehen“, sagt er. „Die Menschen denken doch, wir sind Roboter, die es nur darauf anlegen, sie zu schikanieren.“ Edwin, ein schlaksiger 19-Jähriger, der mit den Randalierern von Ferguson sympathisiert, ist ab und zu auch dabei. Er sagt: „Beim Basketball sind die Polizisten okay. Aber Cops bleiben Cops.“

DiDomenico kennt die Sprüche. Und er weiß, dass fast im Wochentakt Gewaltexzesse amerikanischer Polizisten all ihre Bemühungen zunichte zu machen drohen. Erst Mitte Juli bedrohte ein weißer Polizist in Texas die 28-jährige Schwarze Sandra Bland mit der Elektroschockpistole und rief, er werde ihr einheizen, weil Bland mit ihrem Auto ohne zu blinken die Spur gewechselt hatte; am nächsten Tag lag Bland tot in ihrer Gefängniszelle. Die Autopsie legte einen Suizid nahe, die Debatte über Rassismus bei der Polizei war da schon wieder längst entfacht.

Überwachung gehört zum Konzept

Aber auch das Modell Camden fordert seinen Preis. Es basiert auf Freundlichkeit, Respekt – und Rundumüberwachung. „Real-Time Tactical Operational Intelligence Center" steht in weißen Buchstaben auf einem Türschild im Präsidium. Die Holztür führt zum Operationszentrum, in dem immer bis zu zwölf Polizisten im Halbdunkel sitzen und live verfolgen, was sich auf den Straßen tut. Monitore zeigen die gefährlichen Ecken der Stadt, 130 schwenkbare Kameras fangen alles ein, was in Camden passiert, Schuss-Sensoren sind auf den Dächern montiert. Ausgewählte Kameras sind mit Gesichts- und Nummernschilderkennung ausgestattet. „In einem Jahr sollen es schon 200 Kameras sein“, sagt der Chef der Analyseeinheit. Wenn DiDomenico sich einem Gebäude nähert, wissen seine Kollegen oft schon, wie viele Verdächtige sich dort aufhalten und im Zweifel sogar wie diese heißen. Wenn ein Anwohner einen Verdachtsfall melden möchte, kann er umgehend am heimischen Computer ausgewählte Aufnahmen der jeweiligen Kamera sichten und den Zwischenfall markieren. Die Information geht dann sofort an Polizisten in der Gegend.

Camden, das ist mehr und weniger Repression zugleich. Die Statistik kann sich sehen lassen: Die Kriminalität geht zurück, die Zahl der Morde ist gesunken, die Sicherheit an Schulen gestiegen. Die echte Bewährungsprobe aber steht noch aus, falls eines Tages entweder ein Drogenabhängiger einen Polizisten erschießen sollte, oder aber doch ein Officer einen Schwarzen tötet. Erst dann wird sich zeigen, ob Camden wirklich anders damit fertig wird als Ferguson oder Baltimore. Bis dahin freut sich DiDomenico an den kleinen Erfolgen. Früher hätten die Eltern ihren Nachwuchs nicht alleine auf die Straße gelassen, sagt er. „Heute sehe ich in dieser Stadt wieder Kinder auf der Straße spielen.“

Camden ist jetzt sogar Teil des US-Wahlkampfes geworden. Nachdem Obama die Stadt zum Modell erhoben hatte, besuchte der republikanische Gouverneur von New Jersey und Präsidentschaftskandidat Chris Christie Mitte Juli auf seiner Kampagnentour die Stadt. Er sprach über Kriminalreformen, über das Drogenproblem und sagte: „Wenn wir in Camden erfolgreich sind, können wir das ins ganze Land tragen.“

Amerikas einst gefährlichste Stadt ist zum Vorbild geworden. Für ein Land, in dem sich Schwarz und Weiß, Polizei und Bevölkerung nicht mehr feindlich gegenüberstehen.

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