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Trotz eines Verbots versammelten sich rund 150 Demonstranten zur LGBTI-Parade in Istanbul.

© Cem Turkel/dpa

Update

Türkei: Polizei löst "TransPride"-Parade in Istanbul gewaltsam auf

Am Wochenende gab es in Istanbul wieder Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei. Präsident Erdogan selbst heizt die Stimmung weiter an - und provoziert die Gezi-Bewegung.

Polizisten in Kampfmontur, Demonstranten, Tränengas: Die Szenen, die sich am Wochenende in der Innenstadt der türkischen Metropole Istanbul abspielten, glichen jenen vor fast genau drei Jahren, als sich die Staatsmacht und die Gezi-Protestbewegung in derselben Gegend fast täglich schwere Straßenschlachten lieferten. Einige Beobachter meinen, dass Präsident Recep Tayyip Erdogan tatsächlich eine Wiederholung der damaligen Auseinandersetzungen provozieren will.

Am Sonntag löste die Polizei gewaltsam eine Gay-Pride-Parade in der Metropole auf. Trotz eines Verbots hatten sich in der Nähe des Taksim-Platzes etwa 150 Demonstranten zusammengefunden, um für die Rechte Homosexueller einzutreten. Mehrere hundert Spezialkräfte standen ihnen gegenüber. Diese setzten Gummigeschosse und Tränengas ein. Die Demonstranten flohen daraufhin in die umliegenden Gassen. Zuvor war bereits ein Aktivist von einem Polizisten daran gehindert worden, vor Journalisten eine Erklärung zu verlesen. Nach türkischen Medienberichten wurden zwei Demonstranten festgenommen. Auch ein Dutzend Homosexuellen-Gegner kam der Nachrichtenagentur Dogan zufolge in Haft.

Die Demonstration mit dem Titel "Trans Pride" fand im Zusammenhang mit der beginnenden LGBT-Woche in der Türkei statt. Erst vor einigen Tagen hatte eine rechtsradikale Gruppe mit Gewalt gegen eine am kommenden Sonntag geplante Homosexuellen-Demo in Istanbul gedroht, die Höhepunkt der Aktionswoche sein soll. Der Istanbuler Gouverneur verbot die Kundgebung daraufhin – doch die Veranstalter wollen sich nicht abschrecken lassen und trotzdem auf die Straße gehen. Dies dürfte die Polizei erneut auf den Plan rufen.

Eine weitere Konfrontation am Samstagabend begann, als die Polizei gegen eine Kundgebung einschritt, mit der gegen einen Überfall auf einen Plattenladen im Szeneviertel Cihangir protestiert werden sollte. Rund 20 islamistische Raufbolde hatten die Gäste in dem Laden verprügelt, in dem das neue Album der britischen Rockband Radiohead per Livestream vorgestellt wurde: Die Besucher des Ladens hätten mitten im islamischen Fastenmonat Ramadan Bier getrunken, brüllten die mit Knüppeln bewaffneten Angreifer.

Erdogan selbst heizte die Stimmung weiter an. In Reden in Istanbul kündigte er an, das nach den Gezi-Protesten von 2013 gestoppte Projekt der Wiedererrichtung eines osmanischen Kasernengebäudes auf dem Gelände des kleinen Gezi-Parks in Istanbul neu zu beleben. Die Kaserne werde gebaut, und eine Moschee sowie ein Opernhaus dazu, sagte der Präsident.

Den Mitgliedern der Gezi-Protestbewegung warf Erdogan vor, ihren eigenen – von Erdogan und seinen Anhängern als verwestlicht, Alkohol-freundlich und säkulär abgelehnten – Lebensstil anderen Türken aufzwingen zu wollen. Der Satz war eine gezielte Provokation durch den Präsidenten, denn viele säkuläre Türken empfinden die Politik von Erdogans islamisch-konservativer Partei AKP als Angriff auf ihren eigenen Lebensstil.

Tweet ruft Polizisten auf, keine Rücksicht mehr zu nehmen

„Wir werden mutig sein“, sagte Erdogan in Anspielung auf die zu erwartenden neuen Proteste gegen das Kasernen-Projekt. Unterdessen verbreiteten Erdogan-Anhängern im Kurznachrichtendienst Twitter offene Todesdrohungen gegen die Gezi-Bewegung. Ein gleichlautender Twitter-Kommentar, der von zahlreichen Gefolgsleuten des Präsidenten kopiert und veröffentlicht wurde, rief türkische Polizisten auf, keine Rücksicht mehr auf Demonstranten zu nehmen: „Sie sollen zuschlagen und sie töten.“

Erdogans neuer Gezi-Anlauf und das gewaltsame Vorgehen der Polizei gegen die Demonstranten verstärken die Spannungen im Land. Manche vermuten hinter der Eskalation eine politische Taktik Erdogans. Schon häufiger in seiner Karriere hat der heute 62-jährige die gesellschaftliche Polarisierung im Land vorangetrieben, um seine eigenen Anhänger vor wichtigen Abstimmungen um sich zu scharen. Nun steht wieder eine wichtige Wahl bevor: Mustafa Sentop, AKP-Politiker und Vorsitzender des Verfassungsausschusses im türkischen Parlament, sagte, seine Partei strebe für Ende des Jahres oder Anfang 2017 eine Volksabstimmung über die Einführung eines Präsidialsystems an.

Um das Referendum anzusetzen, braucht die AKP im Parlament mindestens 330 der 550 Stimmen; bei der Volksabstimmung selbst reicht dann die einfache Mehrheit von mehr als 50 Prozent der Stimmen, um aus der Türkei eine Präsidialrepublik zu machen. Erdogan will beim Referendum nicht nur die AKP-Anhänger, sondern auch andere rechtskonservative Wähler für sich gewinnen.

Das Präsidialsystem sei Erdogans einziges Ziel, hieß es auf der regierungskritischen Facebook-Seite Son Vesayet. Erdogan wolle Chaos und Unruhe anzetteln, um sich auf diese Weise zusätzliche Stimmen zu sichern. „Istanbul und die Türkei gleichen einem Pulverfass,“ kommentierte der Journalist Yavuz Baydar. „Uns stehen schwere Zeiten bevor.“

Übergriff in Istanbul auf Radiohead-Fans

Nach dem Angriff von Islamisten auf einen Plattenladen in Istanbul waren am Samstagabend hunderte Menschen in der türkischen Metropole zu einer Protestkundgebung auf die Straße gegangen. Die rund 500 Demonstranten wurden jedoch von der Polizei mit Tränengas und Gummigeschossen auseinandergetrieben. Am Vorabend hatten Islamisten Fans der britischen Rockband Radiohead angegriffen, weil sie im islamischen Fastenmonat Ramadan Alkohol tranken.

"Alle gemeinsam gegen den Faschismus", riefen die Demonstranten, die sich im Istanbuler Stadtteil Cihangir versammelten. Den islamisch-konservativen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan nannten sie einen "Dieb" und "Mörder", wie ein AFP-Fotograf berichtete. Nach nicht einmal einer Stunde wurde die Protestkundgebung jedoch von der Polizei mit Tränengas und Wasserwerfern aufgelöst.

Recep Tayyip Erdogan im Mai 2016 bei der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Kocaeli.
Recep Tayyip Erdogan im Mai 2016 bei der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Kocaeli.

© AFP

Am Freitagabend waren rund 20 Islamisten in einen Plattenladen im Viertel Tophane eingedrungen und hatten Musikfans angegriffen, die dort das neue Radiohead-Album anhörten. Die Angreifer warfen den Leuten im Plattenladen "Velvet IndieGround" vor, im Ramadan Alkohol zu trinken. Laut der Nachrichtenagentur Dogan wurden zwei Menschen verletzt, die Polizei leitete Ermittlungen ein.

Band bestürzt über Attacke im Plattenladen

Auf Videos der Attacke, die im Internet verbreitet wurden, war zu sehen, wie die Angreifer den Laden verwüsten. Ein Mann, der mit einer Flasche geschlagen worden war, blutet am Kopf. Einer der Angreifer schreit: "Wir werden euch töten, ihr Bastarde!" In Tophane, das im europäischen Teil der Bosporus-Metropole liegt, wurden auch schon mehrere Galerien von Islamisten attackiert.

Wie die Zeitung "Hürriyet" am Samstag berichtete, hielten sich während des Angriffs viele Südkoreaner in dem Plattenladen auf. Auch der Besitzer des Ladens stammt demnach aus Südkorea, lebt aber schon seit vielen Jahren in der Türkei. Das neue Radiohead-Album "A Moon Shaped Pool" konnte am Freitag weltweit in Plattenläden angehört werden.

Die Band zeigte sich bestürzt über den Angriff. "Wir sind mit unseren Herzen bei den Angegriffenen", erklärte Radiohead gegenüber dem Rolling Stone. "Wir hoffen, dass wir auf solche gewalttätigen Ausbrüche von Intoleranz eines Tages wie auf Dinge aus einer fernen Vergangenheit zurückblicken können. Fürs Erste können wir unseren Fans in Istanbul nur unsere Liebe und Unterstützung anbieten." (mit AFP/Reuters)

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