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Container als Zuhause.

© Foto: imago/Christian Mang

Allein in großer Not : Viele jugendliche Ukrainer, Kurden und Russen fliehen ohne Eltern nach Berlin

Aktuell erreichen besonders viele unbegleitete minderjährigen Geflüchtete Berlin. Neben Unterkünften fehlt es auch an Fachkräften, die sie versorgen können.

In diesem Jahr erreichen so viele unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (UMF) Berlin wie seit 2015/16 nicht mehr. Zuständig ist für die ohne Eltern vor Krieg und Elend flüchtenden Kinder und Jugendlichen nach Ankunft die Senatsjugendverwaltung. Laut ihren Zahlen waren es bereits Anfang Oktober 2293 junge Menschen aus Ländern wie der Ukraine der Türkei oder Afghanistan.

Das werde aufs Jahr gerechnet beinahe an die 4252 erstmalig registrierten Kindern- und Jugendlichen ohne Begleitung im Jahr 2015 herankommen. 2021 erreichten nur 699 junge Geflüchtete ohne Eltern Berlin.

Aktuell ist die Lage – Unterbringung, Betreuung, Integration – weit schwerer zu bewältigen als noch 2015/16, heißt es bei der Senatsjugendverwaltung und Experten der Jugendhilfe. Die Liga der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege hat bereits einen schriftlichen Hilferuf an Senatorin Astrid Busse gesendet.

Dringend benötigte zusätzliche Fachkräfte der Jugendhilfe wie Sozialarbeiter sind kaum zu finden. Dabei sind die Jugendlichen laut Senatsverwaltung wegen des teils jahrelangen Aufenthalts in den für ihre Missstände bekannten Lagern in Griechenland oder Italien in noch schlechterer Verfassung als früher, körperlich und seelisch.

Die bestehenden Unterkünfte über freie Träger sind ebenso wie Hostels und die vom Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten getragenen Wohnungen stark belegt, unter anderem durch ukrainische und russische Geflüchtete.

Standards für die Unterbringung wurden gesenkt

Die Senatsjugendverwaltung muss deshalb wieder Hotels, Jugendherbergen und Wohnungen anmieten und sie freien Trägern der Jugendhilfe übergeben. Standards für die Unterbringung, etwa Qualifikation und Anzahl des Personals wurden nach Tagesspiegel-Informationen gesenkt.

Belegte Turnhallen soll es, anders als schon in Nordrhein-Westfalen, nach Tagesspiegel-Informationen in Berlin nicht geben. Andere Stadtstaaten sehen sich schon gezwungen, die unter besonderem Kinderschutz stehenden minderjährigen Unbegleiteten in Zelten unterzubringen.

Wenn in Berlin nach dem sogenannten Clearing alles zu anvisiertem Status, Herkunft, Gesundheit und Bildung geklärt ist, überweist das Landesjugendamt die Geflüchteten an die zwölf Berliner Bezirke, einige auch in andere Bundesländer. Da die Bezirke kaum mehr Kapazitäten haben, verbleiben aktuell mehr junge Geflüchtete in – der kostenintensiveren – Obhut des Landesjugendamtes als üblich.

Erst am Mittwoch gab es eine Krisensitzung in der Senatsjugendverwaltung. Es heißt dort, die Balkanroute sei offensichtlich wieder offen. Und: „Das Land Berlin ist durch den unverminderten Anwuchs der Fallzahlen von UMF in einer extrem herausfordernden Situation.“ Aktuell werden jeden Tag zehn bis 20 Jugendliche in Berlin erst registriert.

Junge Kurden aus der Türkei reisen über den BER ein

Dabei haben sich die von den Jugendlichen als Herkunftsländer angegebenen Staaten im Vergleich zu früheren Jahren verändert. So lag die Ukraine im jüngsten abgeschlossenen Bilanzmonat August mit 102 Jugendlichen bei den Erstankünften vorn.

Während nach dem Krieg vor allem Frauen und Kinder flüchteten, senden jetzt Familien die Jungs mit 16 oder 17 Jahren nach Deutschland, damit sie nicht eingezogen werden können. Auf Platz zwei folgt die Türkei, hier sind es Kurden, die vor allem mit dem Flugzeug über den BER einreisen (89).

An dritter Stelle folgen Afghanen. Sie stellten lange die größte Gruppe bei den Schlauchbootankünften in Griechenland; sie gelangen aus Lagern vom Festland oft über lebensgefährliche Verstecke in Lkw-Laderäumen, mit Autos oder Zügen, mit oder ohne Schlepperhilfe bis nach Deutschland. In Brandenburg findet der Bundesgrenzschutz vermehrt unbegleitete Minderjährige in engen Lkw-Laderäumen auf.

Gerade kam in Berlin eine minderjährige Afghanin mit kleinen Kindern an. Viele haben im Herkunftsland oder auf der jahrelangen Flucht Traumatisierendes erlebt. Die Zustände in den Flüchtlingscamps und auf der Balkanroute sind etwa im früheren Moria-Lager auf Lesbos von Missbrauch, Gewalt, Haltlosigkeit und Vernachlässigung geprägt.

17-jährige Russen flüchten vor dem Militär

Im Beispielmonat August 2022 kamen in Berlin auch 47 Jugendliche aus Syrien nach Berlin. Eltern wollten sie vor dem Militär retten und hofften auf eine Wiedervereinigung über den Familiennachzug, ist von Ronald Reimann vom Vormund-Netzwerk „Akinda“ zu erfahren. Auf Platz Fünf bei den Herkunftsländern folgt mit 43 jungen Flüchtlingen der Libanon.

Nach Erfahrungen von „Moabit hilft“ kommen zunehmend vor junge Russen unter 18 Jahren an, die nicht zur Armee eingezogen werden wollen. Jugendliche, die die lebensgefährliche Flucht aus Afrika überlebten, geben vor allem Guinea, Gambia und Eritrea als Herkunftsländer an.

Die Lage ist geordnet, aber bei weitem nicht entspannt.

 Aziz Bozkurt, Staatssekretär für Familie, Jugend und Digitalisierung

Laut Susanne Gonswa, Sprecherin für den Bereich Jugend und Familie der Senatsverwaltung, wurde das Aufnahmesystem des Landesjugendamtes um das Siebenfache ausgebaut. Auch die Jugendberufshilfe bekomme mehr Mittel. Eine zusätzliche Einrichtung fürs Clearing wurde eröffnet, weitere sind geplant. Viele Jugendliche warten monatelang auf einen Schulplatz, Personal fehlt.

Aziz Bozkurt, Staatssekretär für Familie, Jugend und Digitalisierung, sagte dem Tagesspiegel, „die Situation ist weiterhin geordnet, aber bei weitem nicht entspannt. Wie soll das auch sein, wenn wir wöchentlich mehr als 80 Plätze schaffen und der Fachkräftemangel enorm ist. Wir sind fortlaufend im Aufbau von neuen Kapazitäten - räumlich wie personell - und arbeiten daran, das große Engagement der Berlinerinnen und Berlin unterstützend einzubauen.“

Die Erfahrung von Jugendhilfexperten seit 2015/16 zeigt: Werden die jungen Menschen von Bezugsbetreuern, Vormündern oder Pflegeeltern aufgefangen, können sie erfolgreiche Wege in Schule, Privatem und Arbeitsleben gehen. Doch aktuell beklagt Diana Henniges von „Moabit Hilft“, dass Jugendliche nicht ausreichend betreut würden.

Teils müssten sie Tage ohne Decke auf Matratzen am Boden schlafen, teils jeder im Heim ohne Kontrolle ein- und ausgehen können soll, es an Verpflegung und Wäsche fehle, sie mit Badeschlappen in der Kälte stünden. Es gebe Wohnorte, an denen ab 16 Uhr Ansprechpartner und Sprachmittler fehlen.

Ronald Reimann vom Vormund-Netzwerk „Akinda“ kritisiert wie die Liga, dass „die Standards für die Unterbringung nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz drastisch abgesenkt worden“ sind. Die für Berlin allein zuständige Amtsvormundschaft für UMF in Steglitz-Zehlendorf sei ausgelastet, die gesetzliche Obergrenze von 50 Mündel pro Amtsvormund sei vielfach erreicht.

Akinda, wie auch Cura und Caritas, suchen dringend ehrenamtliche Vormünder. Henniges und Reimann beklagen, dass Jugendliche teils Wochen warten müssten, bevor das Clearingverfahren beginnen könne.

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