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Berlin feiert den Mauerfall: Ein Besuch bei der großen Open-Air-Ausstellung
Wo die Mauer einst Berlin teilte, erstreckt sich bis zum Sonntag eine Galerie aus 5000 Bildern. Die Werke eint der Gedanke an Freiheit, die immer wieder neu erkämpft werden muss.
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Berlin feiert den Mauerfall vor 35 Jahren mit einer riesigen Installation: 5000 Plakate stehen auf vier Kilometern des ehemaligen Grenzverlaufs in der Innenstadt. Eines der beiden Enden dieser Open-Air-Ausstellung beginnt am Spreeufer hinter der Moltkebrücke. Die Bilder, erstellt in Hunderten von Workshops während der vergangenen Monate, säumen das Ufer, sorgfältig aufgeständert.
Am Samstagmorgen um kurz nach zehn Uhr herrscht Aufbaustimmung an der Strecke. Auf der Treppe am Marie-Elisabeth-Lüders-Haus bauen Helferinnen und Helfer die Technik auf für das große Konzert der „Band für die Freiheit“ am Abend, bei dem acht große Freiheitshymnen zum Mitsingen erklingen werden – synchron von 700 Profi-Musikern von fünf Bühnen am Streckenverlauf aus eingespielt und übertragen.
Die Idee aus dem Team um Moritz van Dülmen, dem Chef der landeseigenen Kulturprojekte GmbH, zieht an diesem Morgen ein kreatives Durcheinander aus Kabeln, Lampen und Instrumenten nach sich. Irgendwo dudelt ein Saxophon.
Auch Wirtschaftsminister Habeck kommt
Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) lässt sich am Morgen einen Teil der Ausstellung von Moritz van Dülmen zeigen. Immer wieder bleibt er stehen und betrachtet einzelne Plakate, die sich auf die verschiedensten Weisen mit dem Gedanken der Freiheit beschäftigen. „Was bedeutet dir der Mauerfall heute?“ – diese Frage wurde in den Mal-Workshops gestellt, die in Kirchengemeinden, in Schulen, in Unternehmen und auch bei der Polizei veranstaltet wurden.

© Henning Onken
„Ein neues Leben“, „Peace“ oder „Free the Schnauze“: Die gemalten und geschriebenen Antworten auf diese Frage zeigen eine berührende Mischung, die vor allem eins bewusst macht: Das Ringen um Freiheit bleibt zeitlos, die Geschichte ging mit dem Mauerfall nicht zu Ende. Und die geteilte Stadt, die in einer friedlichen Revolution Mauern niederriss und wieder zusammenwuchs, bleibt weltweit ein kraftvolles Symbol der Hoffnung. Da spielt es keine Rolle, wenn die Hälfte der Berliner Bevölkerung den Mauerfall nicht erlebt hat.

© KULTURPROJEKTE BERLIN

© Henning Onken
Die Erinnerung an den großen Aufbruch von 1989 voller Träume und Hoffnungen mischt sich mit Skepsis und Zukunftsangst, besonders durch die Ereignisse der vergangenen Jahre. Am Spreeufer vor dem Marie-Elisabeth-Lüders-Haus steht Chajim Grosser und zeigt sein Plakat: „Keine Freiheit ohne Gerechtigkeit. Kein Frieden ohne Barmherzigkeit“, ist darauf zu lesen.
Grosser hat als jüdisches Kind den Holocaust überlebt und kam 1963 in die DDR. Unter der Mütze trägt er eine Kippa. Für Grosser war der Mauerfall ein großes Geschenk, denn als Redakteur des DDR-Radios hatte er sich durch seine Offenheit ein Berufsverbot eingehandelt.
Dennoch fühlt er sich an diesem Tag mehr an die Shoah erinnert, für die der 9. November 1938 steht. Wie er sich heute fühlt? „Schrecklich, ich könnte heulen“, sagt Grosser, und lässt sich von seinem Sohn und seiner Enkelin kurz in den Arm nehmen. „Wir hatten auf eine bessere Welt gehofft, doch es wurde zu einer Welt des Krieges.“ Es sei alles „für die Katz“ gewesen, sagt er.

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Auf Doreen Herzogs Bild reihen sich Friedenstauben aneinander. Sie war 15 Jahre alt, als die Mauer fiel, und ging in Ost-Berlin in die 10. Klasse. Von der friedlichen Revolution ist ihr besonders in Erinnerung geblieben: der 4. November und die Kundgebung am Alexanderplatz. Dort ging die damals 15-Jährige hin. Statt am Unterricht teilzunehmen, demonstrierte sie für Reisefreiheit. Fünf Tage später war die Mauer offen.

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Als Symbol der persönlichen Freiheit verstehen vier Frauen des Kunstprojekts „Art Ponedilok“ ihre Bilder. Sie zeigen überwiegend Frauenbeine – mal in bunten Ringelsocken, mal mit Chucks oder Highheels.

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Zwei der Frauen des von Maria und Natalia Pechatnikov geleiteten Projekts kommen aus der Ukraine. Eine von ihnen lebte in Charkiw, wo in diesen Tagen immer wieder russische Gleitbomben Menschen töten. Kunst könne auch Therapie sein, sagt eine der Zwillingsschwestern.
Noch am Vormittag tritt die Sonne hinter den Wolken hervor, bringt die Farben der 5000 Bilder zum Leuchten. Die Ausstellung scheint gut anzukommen, wie man am Verhalten vieler Flaneure auf dem weiteren Streckenverlauf Richtung Potsdamer Platz erahnt: Man bleibt stehen, macht Fotos oder nimmt sich als Erinnerung eins der Bücher mit, die an Ständen umsonst verteilt werden. Darin sind alle Plakate abgedruckt, Zeitzeugen-Gespräche der friedlichen Revolution regen zum Nachdenken an.
Es ist keine Frage: Der Mauerfall dürfte auch in Zukunft groß gefeiert werden – trotz Krisen, Krieg und Ampel-Aus. Man darf gespannt sein, wie der nächste große Mauerfall-Geburtstag in fünf Jahren aussehen wird.
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