
© Fotos: Tagesspiegel/Kleist-Heinrich/Probandt
„Berlin ist anders, krasser“: Was die Toten einem Rechtsmediziner über das Leben verraten
Rechtsmediziner Philipp Möller sieht die Folgen von Drogen, von Armut und Einsamkeit, von Gleichgültigkeit, Hass und Gier. Er sagt: „Das ist mein absoluter Traumberuf.“
Stand:
Auf Stahltisch Nummer 4 des Sektionssaals liegt: ein Mann, 54 Jahre alt, 1,69 groß, 60 Kilogramm schwer. Wunden am Kopf, im Gesicht und an den Beinen. Seine Kumpels, die auf der Straße leben, so wie er es tat, sagen: Wir haben ihn so zugerichtet nachts im Keller gefunden, bevor sich alle schlafen legten. Er habe gelallt und gestottert, am Morgen sei er tot gewesen.
Der Gerichtsmediziner Philipp Möller, 37, tritt in Gummistiefeln und mit Plastikschürze an den Sektionstisch und lässt seinen Blick vom Kopf, über die nackte Brust, den Bauch, die mageren Beine bis zu den Füßen der Leiche schweifen.

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© Tagesspiegel/Kitty Kleist-Heinrich
Er will herausfinden: Ist der Mann selbst gestürzt? Oder hat da jemand nachgeholfen? Ist es also kein Unglück, sondern ein Fall für die Mordkommission?
Ein Standardfall, sagt Möller. „Sowas haben wir hier täglich.“
Wie blickt ein Forensiker auf Berlin, Herr Möller?
Die Haut von Aleksander P. ist fahl und kalt. Neun Tage ist der obdachlose Pole tot. Am 6. Mai 2025 wurde sein Leichnam ins Institut gebracht. Möller untersuchte ihn äußerlich, schaute sich die Fotos des Fundorts an, die Polizeiberichte, und telefonierte mit der Mordkommission. „Wir waren uns einig, dass das wahrscheinlich kein Fall für sie ist.“
Was nicht Mord ist, das muss warten. Nun ist die Anordnung zur Obduktion der Staatsanwaltschaft da.
Vorsichtig betastet Möller das Gesicht des Toten. Seine Hände stecken in blauen Gummihandschuhen. Eine Wunde gefällt ihm nicht. In der Ohrmuschel sei ein Riss, sagt er, aus dem es blutete.

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Sollte er jetzt einen Beweis für ein Tötungsdelikt finden, müsste Möller die Obduktion stoppen und die Mordkommission informieren. Neun Tage wären für sie schon verloren, Beweise möglicherweise vernichtet, Zeugen und Verdächtige verschwunden. „Das wäre richtig ätzend.“
Das, was er sieht, spricht Möller in ein Diktiergerät. Er redet leise, sehr schnell, routiniert. „Dunkelrote blutsuspekte Antragungen im Kopfbereich PUNKT Der Leichnam wird gereinigt PUNKT An der Kopfrückseite keine erkennbaren Verletzungen PUNKT Die Haare etwa 2 Zentimeter lang, rotblond und festsitzend mit deutlicher Glatzenbildung.”

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Am Fußende der stählernen Trage liegt das, was vom Leben des Toten übrig blieb: ein von den Sanitätern zerschnittenes Sweatshirt, blutbeschmiert, eine Jeans, ein einzelner Strumpf. Ein Portemonnaie, Krankenkassenkarte und sein polnischer Personalausweis. Die Polizei hat die Habseligkeiten mit in den Leichensack gesteckt.
Philipp Möller ist der Arzt der Toten. Seit rund zehn Jahren arbeitet er im Landesinstitut für gerichtliche und soziale Medizin in Berlin. Er sieht, was Drogen anrichten können, wie Menschen in Armut und Einsamkeit sterben, wie sie sich gegenseitig töten aus Hass, Gier oder Gleichgültigkeit.
Sie alle enden in diesem Saal unter kaltem Neonlicht, Tisch an Tisch aufgebahrt, Stahl, Fliesen, Assistenten klappern mit den Instrumenten.
Es sind freundliche Augen, mit denen Philipp Möller auf dieses Elend schaut. Ein 1,84 Meter großer Mann, Bart, Ohrring. Er sagt: „Berlin ist anders, krasser.“
Wenn Möller morgens gegen 7.30 Uhr den Obduktionssaal betritt, hält er kurz inne, um die zwei Wohlfühlfaktoren zu checken: „Temperatur und Geruch.“
Fällt im Sommer die Lüftung aus, ist es im Saal schon früh schwül und warm. Im besten Fall hängt in der Luft nur der Geruch des Todes, schwer, ein wenig süßlich, metallisch, vermischt mit den Desinfektionsmitteln im Sektionssaal. Im schlechten Fall riecht es nach Fäulnis, Verwesung, auf den Leichen krabbeln Maden, Käfer oder Fliegen.

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Möller sagt: „Das ist mein absoluter Traumberuf.“ Schon bei seiner ersten Obduktion, damals noch im Medizinstudium, sei er von „diesem Reingucken“ fasziniert gewesen. „Wir sehen Sachen, die sonst keiner sieht. Wir graben uns so tief rein, bis wir was entdecken.“
Bis heute erstaune ihn der menschliche Körper, „ein Zauberwerk“. Möller beginnt zu schwärmen, als würde er vor einem Gemälde stehen, er spricht von den Farben, dem leuchtenden Rot des Blutstrahls, dem kräftigen Gelb des Fettes. „Ich finde eine frische Leiche auch ästhetisch.“
Warum ist jede Obduktion anders?
Philipp Möller zoomt sich bei der äußeren Leichenschau selbst nah heran. Er beugt sich tief hinab, diktiert jedes Detail: Die Augen: geschlossen, Hornhäute klar, die Pupillen eng gestellt und rund. Linksseitig beschriebene Einblutung. Die Nase: knöchern intakt, sehr breit, die Spitze leicht nach links abweichend. Das linke Ohr: massiv geschwollen, blutsuspekte Antragungen. Der Mund: spaltbreit geöffnet, die Lippen rötlich-violett, das Lippenrot unverletzt. Der Oberkiefer unbezahnt, im Unterkiefer vier kariös veränderte Zahnreste. Im Unterkiefer flächige rotschwarze Einblutungen.
Während Möller diktiert, greift die Sektionsassistentin zur Rippenschere, um den Oberkörper zu öffnen, ein Instrument, das halb an Bolzenschneider, halb an Gartenschere erinnert. Die Sektionsassistenten oder „Sektioner“ werden von den Forensikern auch „Frau (oder Mann) fürs Grobe“ genannt. Möllers Assistentin schneidet die Leiche nun vom Hals bis zum Schambein in der Mitte auf, trennt die Haut vom Muskel und zieht die Körperhülle nach rechts und links zur Seite.

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Nun liegen Brust und Bachhöhle frei, die Rippen wölben sich darüber in einem blutigen Bogen.
Was die Polizei zu Aleksander P. zusammengetragen hat, liest Möller in einer roten Akte nach. Der Pole hatte auf der Straße gelebt, sich nachts Unterschlupf in verschiedenen Kellern gesucht. Die Tage verbrachte er an Bahnhöfen oder im Volkspark Humboldthain, wo er in wechselnden Gruppen Obdachloser trank.
Einen Liter Wodka täglich, sagen seine Kumpels, so viel habe Aleksander P. mindestens am Tag getrunken und er habe viel geraucht. Besoffen habe er sich ständig irgendwo gestoßen, er sei hingefallen, mit immer neuen Verletzungen im Keller an der Wriezener Straße aufgetaucht.
Bis es an jenem Morgen, es war der 6. Mai, in seiner Ecke plötzlich so ruhig war, kein Schnarchen mehr zu hören, kein rasselnder Atem. Die Kumpels riefen die Feuerwehr, aber da war Aleksander P. schon tot.
Möller findet mehrere Wunden im Gesicht, blaue Flecken und Abschürfungen an den Beinen. „Der Mann ist an der Bande durchs Leben gelaufen“, sagt er. Noch immer deutet nichts darauf hin, dass die Zeugen lügen. Mit der Obduktion wollen die Behörden sicher gehen, wie Möller erklärt. „Es gibt Verletzungen, bei denen man oberflächlich nichts sehen kann, in der Tiefe aber schon.“

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Nach und nach entnimmt Cindy Lichtenstein, die Sektionerin, jetzt die Organe in der Reihenfolge, die Möller am liebsten hat: erst Herz, dann Lungen, dann die Oberbauchorgane, also Leber, Bauchspeicheldrüse, Milz.
Mit einer kleinen Kelle schöpft sie Herzblut aus dem Körper, das mit anderen Proben in die Toxikologie geschickt wird. Lichtenstein schnuppert kurz, sagt: „Alkohol.”
Ein Befund, den Möller, während er die Leber auf einem Tablett seziert, bestätigt findet. Sie wiegt 1610 Gramm und sei leicht vergrößert. „Am Messer bleibt ein deutlicher Fettbeschlag zurück.”

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Nun greift Lichtenstein zum Skalpell, setzt einen Schnitt von Ohr zu Ohr, schneidet die Kopfschwarte auf und legt den Schädelknochen frei.
Die „Frau fürs Grobe“ greift zur elektrischen Knochensäge.
Ton an!
Ein Kreischen durchdringt den Sektionssaal, es riecht nach verbranntem Knochen. Lichtenstein zieht das Sägeblatt einmal um den oberen Teil des Kopfes herum, um das Gehirn des Toten freizulegen. Dann hebt sie vorsichtig die Schädeldecke ab. „Hier ist was“, sagt sie.
Philipp Möller erstarrt. Die Sektionerin hat eine Blutansammlung auf der linken Seite unter der harten Hirnhaut entdeckt. Nun ist klar: Stumpfe Gewalt war im Spiel. Es könnte unglücklicher Sturz gewesen sein – oder ein Schlag, ein Tritt, ein Knüppel.
Schläge oder Hiebe hinterlassen spezifische Verletzungsmuster. Möller beginnt zu suchen, arbeitet still und konzentriert. Noch nie hat er mit seiner ersten Einschätzung falsch gelegen. Geht seine Serie jetzt zu Ende?
Möller legt das Gehirn auf ein Tablett und schneidet es in ein Dutzend gleichmäßige Scheiben. Rechts am Schläfenpol entdeckt er eine Einblutung und nimmt Maß. Sie ist einen Zentimeter groß. Er schaut noch einmal auf die breitflächigen Wunden im Gesicht und am Kopf des Toten. Sie passen in Form und Größe am ehesten zu einem Sturz und erklären, wieso sich das Blut im Schädelinneren auf diese Weise verteilen konnte.
Einen eindeutigen Hinweis auf eine Fremdeinwirkung kann Philipp Möller nicht finden. Er atmet auf.

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Um Fehler auszuschließen, gilt in der Gerichtsmedizin das Vier-Augen-Prinzip. Zum Ende der Obduktion kommt eine weitere Rechtsmedizinerin dazu. Möller zeigt und erläutert, was er herausgefunden hat.
Die Ärzte betrachten noch einmal jede einzelne Verletzung. Am Ende sind sie sich einig: Mit großer Wahrscheinlichkeit hat sich Aleksander P. bei einem seiner alkoholbedingten Stürze ein tödliches Subduralhämatom zugezogen.
Der Befund. (Ton an!)
Nach einer Stunde legt Cindy Lichtenstein die Organe wieder zurück in den Körper von Aleksander P. und vernäht den Schnitt mit groben Stichen. Als er wieder im Leichensack liegt, schieben ihn Möller und Lichtenstein zurück in den Kühlraum, wo er bleibt, bis ihn der Bestatter abholt. Mit der Obduktion ist der Leichnam freigegeben.
Was hat Sie Ihr Beruf über Berlin gelehrt?
Viele in dieser Stadt sterben sehr einsam. Sie liegen Wochen, Monate, manchmal sogar Jahre tot in ihren Wohnungen, ohne dass sie ein Mensch vermisst. Die Rente kommt aufs Konto, die Miete geht per Dauerauftrag raus, bis ein verwester Körper, ein Skelett oder eine Mumie in der Wohnung gefunden wird. „Solche Fälle sehen wirklich sehr, sehr oft.“
Sucht, Armut und Einsamkeit, Mord und Totschlag – was andere verstört oder abschreckt, zieht Möller als Rechtsmediziner an Berlin magisch an. Die Leichen erzählen ihm nicht nur über den Tod, sondern auch das Leben in dieser Stadt. In all seinen traurigen, bizarren und oft skurrilen Facetten.
Wie Möller und seine Kollegen im Institut für Gerichtsmedizin die Geheimnisse der Toten ergründen – Schritt für Schritt –, lesen Sie in der zweiten Folge.
Das Team
Text und Konzept: Katja Füchsel
Fotos und Videos: Kitty Kleist-Heinrich, Melanie Probandt
Gestaltung: Manuel Kostrzynski
Redaktion: Annett Heide
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