
© Bearbeitung: Tagesspiegel/Marie Staggat
Gesellschaft im Rohbau: Warum wir alle am gleichen Tisch sitzen sollten
In Folge 104 unserer Kolumne „In der Lobby“ skizziert die Handwerkskammerpräsidentin, was unsere Gesellschaft von Prinzipien des Handwerks lernen kann.

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Unsere Gesellschaft steht vor großen Herausforderungen. Die Ampel ist abgeschaltet, der Verkehr läuft noch, aber der Motor stottert. Bundeskanzler Olaf Scholz plant, die Vertrauensfrage zu stellen – ein seltenes politisches Instrument, das die Brisanz der aktuellen Lage unterstreicht. Wie in einem Rohbau kommt es nun darauf an, dass zukünftig jedes Teil seinen Platz findet und alle gemeinsam, Politikverantwortliche und Gesellschaft, an einer stabilen Basis arbeiten.
Doch es geht nicht nur um Politik, sondern um etwas Grundlegenderes: den Zusammenhalt. Inspirierendes Beispiel für dieses Prinzip: das Handwerk. Auf den ersten Blick mag es nicht naheliegend sein, hier Parallelen zu ziehen. Doch bei genauerem Hinsehen wird deutlich, wie integrativ und zukunftsweisend das Handwerk ist. Ein Grundsatz, der in vielen Werkstätten gelebt wird, lautet: „Es ist egal, wo du herkommst. Wichtig ist, wo du hinwillst.“ Diese Haltung könnte eine wertvolle Orientierung für unsere Gesellschaft sein.
Stellen wir uns eine Baustelle vor: Die Architektin entwirft, der Eisenflechter stabilisiert, der Maurer baut, die Elektrotechnikerin verdrahtet. Kein einziger Schritt wäre möglich, wenn nicht alle zusammenarbeiten würden. Im Handwerk ist Vielfalt keine Herausforderung, sondern eine Stärke. Unterschiedliche Perspektiven und Fähigkeiten ergänzen sich, um gemeinsam Großes zu schaffen.
Nur mit gegenseitigem Respekt und einem klaren Plan kann etwas von Bestand entstehen.
Carola Zarth
Übertragen wir dieses Prinzip auf die Gesellschaft, wird klar, wie wichtig es ist, Brücken zu bauen, statt Gräben zu ziehen. Doch der Blick auf das gemeinsame Ziel geht in Zeiten von Unsicherheit und Polarisierung oft verloren. Konflikte und Spaltungen nehmen überhand, dabei ist es wie auf jeder Baustelle: Nur mit gegenseitigem Respekt und einem klaren Plan kann etwas von Bestand entstehen.
Das Handwerk lehrt uns noch etwas: Aufbauen und Reparieren ist immer erfüllender als zu zerstören. Sei es ein wackelnder Stuhl, ein altes Fahrrad, eine defekte Heizung oder ein Riss in einer Mauer – der Akt des Wiederherstellens bringt eine eigene Schönheit hervor. Genauso kann es auch mit dem gesellschaftlichen Zusammenhalt sein. Es mag mühsam sein, Brüche zu kitten und Vertrauen zurückzugewinnen, aber am Ende kann etwas stehen, das trägt und hält.
Doch bis dahin bleibt ein Rohbau ohne Engagement aller nur eine unvollendete Idee. Das Fundament kann nur dann tragfähig sein, wenn jede und jeder bereit ist, mit anzupacken. Egal, ob es darum geht, Vorurteile abzubauen, sich für andere einzusetzen oder schlicht die Perspektive des Gegenübers zu verstehen – Zusammenhalt ist keine Einbahnstraße. Wir sollten uns daran erinnern, dass wir alle am gleichen Tisch sitzen, wenn es um die Sicherung des sozialen Friedens in unserer Gesellschaft geht.
Es liegt an uns allen, die Werkzeuge des Miteinanders in die Hand zu nehmen und die Zukunft aktiv mitzugestalten. Die Gesellschaft im Rohbau kann zu einem stabilen Zuhause werden – aber nur, wenn wir bereit sind, die Mühe auf uns zu nehmen, Stein für Stein gemeinsam an unserer Gesellschaft mitzubauen.
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