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Nachbarschaftsessen auf dem Winterfeldtplatz in Schöneberg. Zu sehen sind Javier Orozco Uribe, Marcel Piotrowski, Jan-Niklas Schmidt und Oliver Leopold Steiner (von links nach rechts).

© Nora Tschepe-Wiesinger

Gastro-Geheimtipp für die Berliner Nachbarschaft : Köche aus der Spitzengastronomie bringen den Kiez an einen Tisch

Vier Schöneberger Freunde organisieren kostenlose Abendessen für Nachbarn an einer Open-Air-Tafel. Sie wollen damit gutes Essen für alle zugänglich machen.

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Am Rand des Winterfeldtplatzes kurz vor der katholischen St. Matthias-Pfarrei stehen zehn weiß gedeckte Tische, darauf Teller mit Brot, Salat und eingelegtem Gemüse, Rote Beete, Möhren, Rettich, verschiedene Käsesorten und Aufstriche. In kleinen Marmeladengläsern leuchten weiße und lilafarbene Blumen, letzte Boten des Sommers an diesem Herbstabend im Oktober. Ein Mann bleibt stehen, betrachtet die Szenerie.

„Ist das hier ne Veranstaltung von der Kirche?“, fragt er Olli, der eine Daunenjacke und runde Brille trägt. „Nee“, lacht dieser und erklärt: „Wir machen hier ein Essen für die Nachbarschaft.“ Man müsse nur seinen eigenen Teller und Besteck mitbringen. „Ach was, toll“, erwidert der Mann. Bloß eine Gabel habe er jetzt nicht dabei, er komme wieder.

Vom Kochen für die High Society zum Kiez-Dinner

„Wir wollten die Leute aus der Nachbarschaft zusammenbringen“, erklärt Olli, der selbst am Winterfeldtplatz aufgewachsen ist. „Und wir wollen gutes Essen aus dem Restaurant-Kontext rausholen.“ Schon im Sommer hätten er und seine drei Freunde Jan-Niklas, Marcel und Javier, die sich noch aus Schulzeiten kennen und alle in Schöneberg wohnen, Dinner-Partys für Freunde auf einem Hof in Brandenburg veranstaltet.

Wir wollen Leute erreichen, die sich kein Dinner für 50 bis 60 Euro leisten können.

Marcel Piotrowski

Marcel Piotrowski bringt bunte Teller in die Kieze.

© Nora Tschepe-Wiesinger

Marcel und Javier arbeiten als Köche in der gehobenen Gastronomie. Marcel erzählt, dass er keine Lust mehr gehabt habe, ausschließlich für die High Society zu kochen. Er sagt: „Wir wollen Leute erreichen, die sich kein Dinner für 50 bis 60 Euro leisten können.“

Einladungsposter rund um den Winterfeldtplatz

In den letzten Wochen haben die vier Freunde, die alle Anfang 30 sind, Einladungsposter rund um den Winterfeldtplatz aufgehängt, in Läden, Hausfluren und Hinterhöfen. Auf einen Veranstaltungshinweis in den Sozialen Medien haben sie bewusst verzichtet. „Wir wollten, dass vor allem die Leute, die hier wohnen, kommen“, erklärt Olli.

100
Nachbar:innen konnten beim Dinner teilnehmen.

Für das Essen anmelden konnte man sich im Voraus über einen Link, bei 100 Anmeldungen hätten sie die Liste geschlossen. Beim Bezirksamt haben sie Tische und Bänke angefragt, eine weiße Plane als Überdeckung gebastelt für den Fall, dass es regnet und auf dem Markt am Winterfeldtplatz eingekauft. Rund 1000 Euro haben sie ausgegeben, 350 Euro seien durch Spenden bereits wieder drinnen. „Wir rechnen nicht damit, dass wir das Geld komplett wieder reinkriegen“, erklärt Jan-Niklas.

Tische, Bänke und eine Zeltüberdachung gab es vom Bezirksamt.

© Nora Tschepe-Wiesinger

Am Sonntagabend sitzen rund hundert Menschen dicht an dicht auf den Bierbänken an den liebevoll dekorierten Holztischen. Einige haben Weinflaschen mitgebracht, eine Lichterkette der Kirche nebenan spendet Licht. An einem der Tische sitzt Ingrid Ackermann mit ihrem Mann John und ihrer Freundin Carla. In einem Schnapsladen habe sie das Plakat mit der Essenseinladung entdeckt, erzählt sie.

Es zieht mittlerweile eine völlig andere Klientel ein. Viel mehr Individualisten und Singles.

Ingrid Ackermann, Anwohnerin Winterfeldtplatz.

Seit 24 Jahren wohnt sie mit ihrem Partner im Seniorenwohnheim der Caritas direkt am Winterfeldtplatz. „Wunderbar“, findet sie die Initiative der jungen Männer, hier ein Essen zu veranstalten. Früher habe man sich öfters draußen getroffen, erzählt sie. Der Kiez um den Winterfeldtplatz habe sich verändert, das merke sie auch im Seniorenwohnheim. „Es zieht mittlerweile eine völlig andere Klientel ein. Viel mehr Individualisten und Singles.“ Die Mietpreise hätten sich seit ihrem Einzug 2001 fast verdoppelt.

Einen Tisch weiter sitzen Bertram, Andreas und Sabine. Sie hätten einen Zettel im Briefkasten gehabt, durch den sie auf das Essen aufmerksam geworden seien, erzählen sie. „Mich wundert es eigentlich, dass so was in der heutigen Zeit noch stattfindet“, sagt Sabine. „Man hat dafür ja eigentlich gar keine Zeit.“ Die Menschen seien satt, das Angebot in einer Großstadt wie Berlin riesig. Gleichzeitig seien viele einsam.

Kiez-Dinner soll auf andere Bezirke ausgeweitet werden

Auch Jan-Niklas, der das Essen mit organisiert hat, sagt, die Stimmung in Berlin habe sich verändert. Als Freunde würden sie sich viele Gedanken machen über die aktuelle politische Lage. Er sagt: „Aber man kann auch nicht immer nur sagen, dass die Politik was machen soll. Man muss selbst aktiv werden.“

Olli erklärt: „Wir wollen rein in den öffentlichen Raum.“ Aktuell seien er und seine Freunde dabei, einen Verein namens „mahlzeit“ zu gründen, um künftige Veranstaltungen einfacher zu organisieren und zu finanzieren. Gerne würden sie im Frühjahr die Essen auch in anderen Bezirken veranstalten, zum Beispiel am Kottbusser Tor in Kreuzberg.

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