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Obduktion_Möller – Folge 2

© Fotos: Tagesspiegel/Kitty Kleist-Heinrich/Probandt

Der Weg der Leichen: Hinter den Kulissen der Rechtsmedizin

Rund 2400 Menschen werden jedes Jahr in Berlin obduziert. Wie Rechtsmediziner die Geheimnisse der Toten ergründen. Schritt für Schritt.

Stand:

Ein Nachmittag, im Juli 2025, bald Feierabend. Philipp Möller, Facharzt der Rechtsmedizin, will vorher noch die Obduktion für den nächsten Morgen vorbereiten. Ein Mann, Mitte 30, offenbar kerngesund, war in seiner Wohnung gefunden worden, die Umstände eher ungewöhnlich. Der Tote war nackt, hing fast wie kniend mit dem Hals in einer Kette, die an einem Hochbett befestigt war.

Wie bei jedem Todesfall zu Hause war ein Arzt zur sogenannten Leichenschau gerufen worden, um den Tod festzustellen und eine erste Einschätzung darüber abzugeben, ob dieser natürlich war oder nicht. Der Arzt vermerkte auf dem Schein: Todesursache ungeklärt. Die Staatsanwaltschaft leitete ein Todesermittlungsverfahren ein und ordnete eine Obduktion an.

Im Transporter der Gerichtsmedizin wurde der Tote ins Landesinstitut für gerichtliche und soziale Medizin gebracht, in die Turmstraße in Berlin-Moabit.

Das Haus O ist das Herzstück des Instituts, ein zweistöckiger roter Backsteinbau, in dessen Untergeschoss sich die Annahme, der Kühlraum und der komplett verflieste Sektionssaal befinden. An warmen Sommertagen empfängt einen schon auf dem Parkplatz schwach, aber unverkennbar, der Geruch der Gerichtsmedizin. Tod, schwer, süßlich, vermischt mit Desinfektionsmitteln.

Es ist ein hartnäckiges Gemisch. Es legt sich auf die Schleimhäute, kriecht in jede Stofffaser. Bevor Philipp Möller an diesem Nachmittag in den Kühlraum geht, wo der tote Mann seit acht Tagen liegt, zieht sich der Rechtsmediziner deshalb um.

Dr. Philipp Möller, Facharzt für Rechtsmedizin am Institut für Rechtsmedizin der Charité in der Turmstraße in Berlin-Wedding mit seiner Assistentin Cindy und einem Praktikanten während der Obduktion einer Leiche.

© Tagesspiegel/Kitty Kleist-Heinrich

Möllers Arbeitsuniform besteht aus blauer Hose und blauem Hemd. Dazu trägt er verschiedenfarbige Socken, eine ist mit den menschlichen Organen, Herz, Leber, Milz gemustert, die andere mit Herzfrequenzen. Eine Freundin hat ihm die Socken geschenkt. Sie verschwinden während der Obduktion in schwarzen Gummistiefeln.

Dr. Philipp Möller, Facharzt für Rechtsmedizin am Institut für Rechtsmedizin der Charité in der Turmstraße in Berlin-Wedding mit seiner Assistentin Cindy und einem Praktikanten während der Obduktion einer Leiche.

© Tagesspiegel/Kitty Kleist-Heinrich

Er ist der Arzt der Toten. Seit rund zehn Jahren arbeitet Philipp Möller im Landesinstitut für gerichtliche und soziale Medizin in Berlin. Einer Obduktion zu einem Todesermittlungsverfahren darf nur ein ausgewählter Personenkreis beiwohnen. Sektionsassistenten, Polizeifotografen, Mordermittler und Staatsanwälte beispielsweise.

Schaubobduktion mit Polizeistudenten

© Katja Füchsel

Für Feuerwehrleute, Sanitäter und Studierende führt das Institut regelmäßig Schau-Sektionen zu Ausbildungswecken durch. Allen anderen bleibt der Zugang verwehrt.

Dr. Philipp Möller, Facharzt für Rechtsmedizin am Institut für Rechtsmedizin der Charité in der Turmstraße in Berlin-Wedding mit seiner Assistentin Cindy und einem Praktikanten während der Obduktion einer Leiche.

© Tagesspiegel

Für die Tagesspiegel-Serie erlaubt Möller einen Blick hinter die Kulissen der Gerichtsmedizin. Wir begleiten Philipp Möller durch seinen Alltag und rekonstruieren seine besonderen Fälle. Fälle, die nicht nur etwas über seine Arbeit, sondern auch über das Leben in Berlin verraten, über gesellschaftliche Missstände, Armut, Einsamkeit und Gewalt.

Er sagt: „Berlin ist anders, krasser.“

Dr. Philipp Möller, Facharzt für Rechtsmedizin am Institut für Rechtsmedizin der Charité in der Turmstraße in Berlin-Wedding mit seiner Assistentin Cindy und einem Praktikanten während der Obduktion einer Leiche.

© Tagesspiegel/Kitty Kleist-Heinrich

Von der Umkleide muss Möller den Sektionssaal in ganzer Länge durchqueren: fünf Stahltische, Wasserbecken, auf Tabletts liegen chirurgische Instrumente für die Obduktion am nächsten Tag bereit.

Philipp Möller – Obduktion

© Tagesspiegel/Probandt

Eine neue Leiche wird in die Annahme gebracht, eingehüllt in einen weißen Plastiksack. Auf einem Schild stehen Name und Aktenzeichen. Die Fahrer der Gerichtsmedizin hieven den Toten auf eine Trage aus Stahl und folgen dem Arzt mit ihrer Fracht in den Kühlraum.

Philipp Möller – Obduktion

© Tagesspiegel/Probandt

Das rechtsmedizinische Institut hat zwei Kühlräume. Sie sind auf zehn bis sechs Grad heruntergekühlt, die rund 100 Plätze darin sind meist voll belegt.

Philipp Möller – Obduktion

© Tagesspiegel/Probandt

Alle Fälle haben eins gemeinsam: Bei der Leichenschau konnte eine Todesursache entweder nicht zweifelsfrei geklärt werden oder die Toten wurden Opfer eines Tötungsdelikts.

Philipp Möller – Obduktion

© Tagesspiegel/Probandt

Möllers Fall steht schon in einem schmalen Gang bereit. Er schiebt die Trage mit der Leiche in einen Lastenfahrstuhl und drückt den Knopf nach oben. Er selbst geht die Treppe hinauf. Oben holt er die Trage aus dem Fahrstuhl und bringt sie weiter ins Haus N, wo die Computertomografie der Charité untergebracht ist.

Philipp Möller – Obduktion

© Tagesspiegel/Probandt

„Unsere CT-Aufnahmen machen wir hier selbst“, sagt Möller. Er ruckelt den Mann im Leichensack auf dem Gerät zurecht, schnallt ihn mit einem Gurt fest.

Philipp Möller – Obduktion

© Tagesspiegel/Probandt

Als der Tote justiert ist, setzt sich Möller im Nebenraum an den Computer und beobachtet, wie der Computer das Innere des Toten vermisst. Die Kette, in der der Mann sich selbst erhängt hatte, liegt mit im Leichensack.

„Auf den Aufnahmen sehen wir alles, was in einen gesunden Körper nicht gehört“, sagt Möller. Kugeln oder Messer beispielsweise. Am Ende macht das Gerät eine 3-D-Aufnahme, die in die Mappe für das Gericht kommt.

Wo dieser Fall, wie es aussieht, nicht enden wird. Möller findet zunächst nichts Verdächtiges.

„Der Vermutung liegt nahe, dass es sich um einen autoerotischen Unfall handelt“, sagt er. Das Opfer habe mit einem Mann zusammengelebt und sich in der Wohnung ein „Spielzimmer“ für sexuelle Praktiken eingerichtet. Vom Hochbett hingen vier solcher Ketten, wie der Tote sie trug. Als er gefunden wurde, war er allein und trug Kopfhörer.

Todesfälle, bei denen die unterschiedlichsten Sexspielzeuge eine Rolle spielen, sehen die Rechtsmediziner in Berlin öfter. „Was die Leute für Zeit, Geld und Geduld investieren, was sie sich wie und wo hineinstecken: Das überrascht mich immer wieder“, sagt Möller. Selbst ihn, als schwulen Mann, in dessen Community Anal-Toys „normaler“ seien.

Oft sterben die Männer, weil sie zu wenig Luft bekommen, oder an Organversagen. „Da wird ein bisschen Kokain genommen, Ketamin, dann noch eine Viagra drauf und schon macht das Herz schlapp.“

Philipp Möller – Obduktion

© Tagesspiegel/Probandt

Sein vielleicht außergewöhnlichster Fall wird jetzt unten im Museumsschrank präsentiert. Möller hatte einen Mann auf dem Seziertisch, der sich in Lederbändern selbst verschnürt hatte, mit Knoten, kleinen Schlössern und Handschellen. „Und als wir alles geöffnet hatten, fiel aus seinem After ein goldverziertes Analplug.“ In der Größe eines Schwaneneis. Die Todesursache des Mannes war allerdings Ersticken.

Dr. Philipp Möller, Facharzt für Rechtsmedizin am Institut für Rechtsmedizin der Charité in der Turmstraße in Berlin-Wedding mit seiner Assistentin Cindy und einem Praktikanten während der Obduktion einer Leiche.

© Tagesspiegel/Kitty Kleist-Heinrich

Im Vorraum des Sektionssaal haben die Rechtsmediziner ihren Museumsschrank eingerichtet, wo sie zumeist historische Schädel, Knochen und Fragmente aufbewahren.

Philipp Möller – Obduktion

© Tagesspiegel/Probandt

Auf den CT-Bildern kann Möller nichts Ungewöhnliches erkennen. Die Todesursache muss die Obduktion am nächsten Morgen klären. Möllers Arbeitstag beginnt gegen 7 Uhr im Institut. Vor ein paar Jahren ist er mit seinem Mann und Hund an den Berliner Stadtrand nach Köpenick gezogen. Sein Wecker klingelt um kurz nach 5.

Philipp Möller – Obduktion

© Tagesspiegel/Probandt

Ab 8 Uhr sind die fünf Stahltische, 2,20 Meter lang, meist alle belegt. Die Sektionsassistenten spülen die Tische mit Wasser ab, damit sich die Körper leichter bewegen lassen. Ein Assistent wetzt die Messer. Insgesamt arbeiten zehn Rechtsmediziner an dem Institut.

Möller tritt in Gummistiefeln und transparenter Plastikschürze an den Tisch, zieht sich blaue Gummihandschuhe über.

Neben den Tischen sind nun leere Leichensäcke mit den letzten Habseligkeiten der Verstorbenen drapiert. In jedem liegt, was der Tote trug, was bei ihm gefunden wurde und was zur Aufklärung beitragen könnte.

Sensible Inhalte

Dieses Foto enthält sensible Inhalte, die einige Menschen als anstößig oder störend empfinden könnten.

Bei nur etwa fünf Prozent der Obduktionen ist ein Verbrechen die Todesursache. Viel öfter geht es um Unfälle, Suizid, Drogenmissbrauch und natürliche Sterbefälle.

© Tagesspiegel/Kitty Kleist-Heinrich

Möller wird häufig die Sektionerin Cindy Lichtenstein zugeteilt, die beiden sind ein eingespieltes Team. „Ich bin die Frau fürs Grobe“, sagt sie, als sie sich vorstellt. Eine zierliche Frau mit braunen Haaren. Korrekt heißt ihr Beruf: Sektionsassistentin, oder kurz: Sektionierin.

Tatsächlich sei ihre Arbeit nicht nur grob wie beim Aufbrechen der Körperhülle und des Schädels, sondern auch filigran. Wenn sie die einzelnen Organe vorsichtig aus dem Inneren entnehme zum Beispiel. Für die Ermittler blieben sie dennoch die Männer und Frauen fürs Grobe. „Der Begriff hat sich so eingebürgert“, sagt Lichtenstein.

Rund 2400 Tote obduzieren Berlins Rechtsmediziner jedes Jahr. Bei nur etwa fünf Prozent der Obduktionen ist ein Verbrechen die Todesursache. Viel öfter geht es um Unfälle, Suizid, Drogenmissbrauch und natürliche Sterbefälle. Auch beim Verdacht auf einen ärztlichen Kunstfehler werden die Rechtsmediziner eingeschaltet.

Dr. Philipp Möller, Facharzt für Rechtsmedizin am Institut für Rechtsmedizin der Charité in der Turmstraße in Berlin-Wedding mit seiner Assistentin Cindy und einem Praktikanten während der Obduktion einer Leiche.

© Tagesspiegel/Kitty Kleist-Heinrich

Gibt es den Verdacht auf ein Tötungsdelikt, ordnet die Staatsanwaltschaft eine Sofort-Obduktion an. Um den Tisch versammeln sich in diesen Fällen zwei Rechtsmediziner, ein Fotograf sowie Vertreter der Staatsanwaltschaft und Mordkommission.

Möller und seine Kollegen werden nicht nur für die Leichenöffnungen von der Staatsanwaltschaft beauftragt. Die Ermittler alarmieren ihn, um erst das Opfer an Ort und Stelle zu untersuchen und anschließend den Beschuldigten. Er fährt zu Tatorten, Fundorten, in Kliniken und Gefängnisse.

Dr. Philipp Möller, Facharzt für Rechtsmedizin am Institut für Rechtsmedizin der Charité in der Turmstraße in Berlin-Wedding mit seiner Assistentin Cindy und einem Praktikanten während der Obduktion einer Leiche.

Sensible Inhalte

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© Tagesspiegel/Kitty Kleist-Heinrich

Jede Obduktion besteht aus einer äußeren und einer inneren Leichenschau. Möller untersucht den Körper des Verstorbenen und spricht alles, was er sieht, für den Sektionsbericht in ein Diktiergerät. Größe, Gewicht, Haarfarbe, Ernährungszustand, Narben, Tattoos, Hämatome.

Dr. Philipp Möller, Facharzt für Rechtsmedizin am Institut für Rechtsmedizin der Charité in der Turmstraße in Berlin-Wedding mit seiner Assistentin Cindy und einem Praktikanten während der Obduktion einer Leiche.

© Tagesspiegel/Kitty Kleist-Heinrich

Nach der äußeren Leichenschau öffnet die Sektionerin die Körperhöhlen, entnimmt die Organe und reicht sie Möller, damit er sie sezieren kann, also auf Krankheiten oder Verletzungen untersuchen. Gewebeproben werden für Untersuchungen in die Toxikologie geschickt. 

Dr. Philipp Möller, Facharzt für Rechtsmedizin am Institut für Rechtsmedizin der Charité in der Turmstraße in Berlin-Wedding mit seiner Assistentin Cindy und einem Praktikanten während der Obduktion einer Leiche.

Sensible Inhalte

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© Tagesspiegel/Kitty Kleist-Heinrich

Das Labor sitzt im Obergeschoss von Haus O, wo die Proben auf unterschiedlichste Substanzen überprüft werden, die beim Menschen zu einer Vergiftung oder sogar zum Tode führen können. Bei Alkohol, Heroin und Meth werden sie hier ständig fündig, klassische Gifte wie Arsen oder Zyanid sind selten.

Dr. Philipp Möller, Facharzt für Rechtsmedizin am Institut für Rechtsmedizin der Charité in der Turmstraße in Berlin-Wedding mit seiner Assistentin Cindy und einem Praktikanten während der Obduktion einer Leiche.

Sensible Inhalte

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© Tagesspiegel/Kitty Kleist-Heinrich

Rund eine Stunde dauert die Obduktion des Toten. Manchmal, wenn das Opfer mit mehreren Stichen getötet, getreten oder geschlagen wurde, stehen die Mediziner mehr als drei Stunden am Tisch, bis sie jede einzelne Wunde untersucht, vermessen und dokumentiert haben.

Dr. Philipp Möller, Facharzt für Rechtsmedizin am Institut für Rechtsmedizin der Charité in der Turmstraße in Berlin-Wedding mit seiner Assistentin Cindy und einem Praktikanten während der Obduktion einer Leiche.

Sensible Inhalte

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© Tagesspiegel/Kitty Kleist-Heinrich

Wenn auch das letzte Organ seziert ist, kommen alle Teile wieder in den Körper. Cindy Lichtenstein greift zu einem groben Faden und einer Nadel und setzt die sogenannte Schmiedenaht so fest, dass die Flüssigkeiten nicht aus dem Körper entweichen können.

Der Anfangsverdacht im Fall des Mannes mit der Kette wird sich bei der Obduktion erhärten: Der junge Mann hat sich selbst erhängt. Möller findet kein Anzeichen für Fremdeinwirkung. Wahrscheinlich war es ein Unfall, vielleicht ein Suizid. Ein Abschiedsbrief wurde nicht gefunden. Möller sagt: „Aber 100-prozentig wird das letztlich nicht zu klären sein.“

Nach der Obduktion hebt Cindy Lichtenstein den Leichnam mit einem Kollegen wieder auf die Trage in den Leichensack. Der Verstorbene kann nun bestattet werden.


In der dritten Folge lesen Sie über Möllers ersten großen Mordfall und wie er half, das Rätsel um zwei Leichen, einen Koffer und eine Sackkarre zu lösen. 


Das Team

Text und Konzept: Katja Füchsel
Fotos und Videos: Kitty Kleist-Heinrich, Melanie Probandt
Gestaltung: Manuel Kostrzynski
Redaktion: Annett Heide

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