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Sozialstudie: Kreuzberg fällt durch

In der Sozialstudie schneidet Kreuzberg schlecht ab. Die Leute leben trotzdem gerne hier – auch mit wenig Geld.

Kreuzberg ist mal wieder durchgefallen. Schwer gezeichnet von Armut und Arbeitslosigkeit. So sagt es zumindest die neue Sozialstudie der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung. Bis auf den Bergmannkiez mit seiner zentralen bunten Touristenmeile, der Bergmannstraße, ist ganz Kreuzberg betroffen. In der Kategorie vier, der schlechtesten möglichen Bewertung, wo es keinerlei positive Bewegung und nichts als Stagnation gibt, rangiert beispielsweise Oranienplatz im nördlichen Kreuzberg. Komisch, gerade der sieht weiß beschneit und von schmuck sanierten Altbaufassaden flankiert, so gar nicht arm und elend aus.

Und ringsherum ist kaum ein Kreuzberger zu finden, der nicht gern hier arbeitet oder lebt. Sie loben die schöne Mischung aus Nationen und Berufen, die Toleranz und Lebendigkeit. „Hier leben kühne, mutige Menschen“, findet ein überzeugter Oranienplatzanwohner, „keine Spießer“. Alle stricken an ihrem eigenen Mythos Kreuzberg aus dem lauschigen Miteinander von Kreativität und Mangel mit.

Gabriele Wede, 41, ist Malerin und arbeitet in der Galerie Maifoto, nur ein paar Schritte vom Platz entfernt in der Dresdener Straße. Das sei hier absolut kein Verliererkiez, sagt sie, „ich habe eher den Verdacht, er wird immer mehr zum Gewinnerkiez“. Das ist genau die Wahrnehmungsschere, mit der der Bezirk lebt. Die Oranienstraße ist Kneipen- und Flaniermeile für Touris aus aller Herren Länder. Viel hipper als die Bergmannstraße. Und wer eine coole Idee hat, will in Kreuzberg leben und arbeiten. Die Gewerbemieten in der Oranienstraße seien absurd gestiegen, sagt Joachim Semrau vom Modeladen „Allet rund“ in der Dresdener. Und auf der anderen Seite weist die Studie alarmierende Werte gerade bei den türkisch- oder arabischstämmigen Kreuzbergern aus. Sie haben die höchste Arbeitslosenqote und das niedrigste Haushaltseinkommen.

Die Statistik sei grausam, seufzt Joachim Semrau, aber abgesehen vom krassen Junkie-Elend am Kottbusser Tor, kann er sonst keins vor der Ladentür sehen. Der Mann ist überzeugter Kreuzberger. Hier lebten schließlich alle am Existenzminimum, auch Kneipiers, Händler und Künstler. Armut und ein gutes Leben schließen sich nicht aus, ist seine lässige Philosophie. „Bildungsbürger wissen damit umzugehen.“ Und die anderen? „Die haben tatsächlich verschissen“, für die müsse man was tun.

Das sieht auch der grüne Bezirksbürgermeister Franz Schulz so, der seinen Bezirk durch die Statistik nicht diskriminiert sieht. Die Daten kennzeichneten den tatsächlichen Entwicklungsbedarf in den Kiezen, sagt er, und fordert eine Bildungskampagne, die besonders die Kreuzberger mit Migrationshintergrund erreichen soll. Gegen die Verdrängung alter Mieter durch Zuzügler mit dickem Portemonnaie soll der Milieuschutz helfen. Schon jetzt bezahlen die Alteingesessenen etwas weniger als die Hälfte ihres Einkommens für das Wohnen. Große soziale Kontraste auf engstem Raum habe es im Bezirk allerdings schon immer gegeben. Früher die Arbeiterhaushalte neben den Bildungsbürgern, jetzt die Arbeitslosen neben der Kreativszene.

Bislang sei das noch ein Miteinander, finden die Leute rund um den Oranienplatz und keine Spaltung in Arm und Reich oder Deutsche oder Türken und Araber. Die meisten zumindest. Die Kellnerin im „Art in chocolat“ am Oranienplatz lebt seit ihrer Geburt hier und kennt niemanden aus dem „türkischen“ Kreuzberg. Das geht dem jungen Dönerverkäufer im Imbiss am Moritzplatz andersrum genauso. An diesem zugigen, noch auf Gestaltung hoffenden Ort versteht jeder, was die miese Kategorie vier bedeutet. Es lebt sich hier gut, findet der Türke. „Kumpels, Freundin, alles hier“. Geld habe in den Sozialbauten an der Oranienstraße allerdings keiner. Das bestätigt auch Nina Hipp, 51. Sie verkauft in ihrem Baby-Laden „Steckenpferd“ am besten günstige Kinderwagen. Oder – selten – auch sauteure. Dazwischen tut sich nichts. Die altintellektuellen Kreuzberger seien kinderlos und die jungen, coolen Zuzügler auch: „Auf der Durchreise halt“, wenn Kinder kommen, zögen sie weg. Der Türke aus dem Imbiss bleibt. „Aus Kreuzberg weg? Niemals“, lacht er. Gunda Bartels

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