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Fesselnde Reden hält Jan Stöß nicht, aber schlaue Texte kann er schreiben.

© dpa

Berlins neuer SPD-Chef: Jan Stöß: Ein Streber - knallhart und romantisch

Jan Stöß hat den Aufstand in der Berliner SPD gewagt - und gewonnen. In Friedrichshain-Kreuzberg perfektionierte er das scharfe Taktieren, die Kunst der Hinterzimmerpolitik. Seit Februar ist er Sprecher der Parteilinken - und hat ein großes Vorbild in Frankreich.

Von Ulrich Zawatka-Gerlach

Wenn einer ein Problem übertreibt und dann lacht, kann das bedeuten, dass er Humor hat. „Ich bin ein Opfer der Gentrifizierung“, sagt Jan Stöß kokett. In Berlin-Kreuzberg könne er sich keine Wohnung leisten. Das stimmt so natürlich nicht. Jan Stöß ist Richter am Berliner Verwaltungsgericht. Er könnte sich eine Wohnung in Kreuzberg sehr wohl leisten und wohnt trotzdem lieber in Schöneberg, dem westlichen Nachbarbezirk. Die Gentrifizierung, also die Vertreibung der Mieter aus den Innenstadtquartieren, ist aber eines seiner gern zitierten Lieblingsthemen.

Der Machtkampf um die Berliner SPD-Führung in Bildern:

Bekannt wurde Stöß jetzt allerdings durch ein anderes Lieblingsthema. Er hat den Aufstand in der Berliner SPD gewagt. Er hat ihn geplant, vorbereitet – und er hat ihn beim Parteitag am Samstagabend gewonnen. Er hat den vorigen Parteichef Michael Müller aus dem Amt gedrängt, was vor allem deshalb viel Aufmerksamkeit erfährt, weil der Regierende Bürgermeister Berlins, Klaus Wowereit, sehr für Müller gewoben hat – und bisher nur wenig Sympathie für Stöß erkennen ließ.

Auch Jan Stöß kommt in unserer Bildergalerie "Berlin fährt Rad" vor:

Dabei ist Stöß im Umgang, was man einen netten Kerl nennt. Ein geselliger Genussmensch, schwul, zwei Meter groß, mit einem gewinnenden Lächeln. Kräftiger Händedruck. Jeans und Sakko oder Anzug, stets mit offenem Hemd. Am liebsten fährt er Fahrrad, das ist gängig da, wo er wohnt, und auch in seiner politischen Heimat: in Friedrichshain- Kreuzberg. Dort führt er seit 2008 den SPD-Kreisverband. Nun muss Stöß öfter als bisher in die Müllerstraße nach Wedding radeln, zur Landeszentrale der Berliner Regierungspartei. Die ist für Radfahrer ein gefährliches Terrain. Aber Stöß hat keine Angst vor heiklen Situationen.

Friedrichshain-Kreuzberg, sein Bezirk, wird vor allem von Grünen-Wählern bewohnt, der Bezirksverband ist aufmüpfig und politisch bunt gemischt. Stöß perfektionierte dort das scharfe Taktieren, die Kunst der Hinterzimmerpolitik, das Beschaffen innerparteilicher Mehrheiten und die gunstvolle Verteilung von Posten. Seit Februar ist er Sprecher der Parteilinken. Ein kluger, analytischer Kopf, das sagen auch diejenigen, die Stöß nicht sehr mögen. Kein fesselnder Redner, aber einer, der schlaue Papiere schreiben kann. Über soziale Gerechtigkeit und Frieden, Mindestlohn und niedrige Mieten in der Innenstadt, öffentliche Daseinsvorsorge, Fiskalpakt und Reichensteuer.

2008 war Stöß nur den wenigsten Berliner Genossen bekannt, so heimlich, still und leise hatte er sich in die vorderen Funktionärsränge vorgearbeitet. Bis zu den Berliner Wahlen 2011 war er ein Jahr Bezirksstadtrat, gern wäre er danach Staatssekretär in der Finanzverwaltung geworden. Aber das wurde vom parteilosen Finanzsenator Ulrich Nußbaum und Regierungschef Klaus Wowereit gemeinsam verhindert.

Seine politische Karriere begann Stöß in Niedersachsen, wo er 1973 in Hildesheim geboren wurde, und sie verlief äußerst typisch: Schülersprecher, Landesschulbeirat, Bundesschülervertreter, Jungsozialist. Stöß studierte Jura in Göttingen und an der Berliner Humboldt- Universität und promovierte über „Großprojekte der Stadtentwicklung in der Krise“. Seine große Liebe aber ist Paris. Stöß pflegt und hegt die Partnerschaft der Kreuzberger Genossen mit den Sozialisten in der französischen Hauptstadt. Großes Vorbild des frisch gewählten Berliner SPD-Vorsitzenden ist der ebenfalls neue französische Präsident François Hollande. Von seinen Wahlkampfeinsätzen in Frankreich erzählt Stöß mit glänzenden Augen. Wer auf die Idee käme, ihn als sozialen Romantiker einzustufen, liegt vielleicht nicht völlig schief, würde ihn aber gewaltig unterschätzen.

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