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Sonnenaufgang in Berlin-Friedrichshain, am Rande der Liebig34-Räumung.

© Tobias Schwarz/AFP

Nach der Räumung in Friedrichshain: Die „Liebig34“ wird ideologisch überfrachtet – und Berlin immer enger

Nach der Räumung der Liebig34 in Friedrichshain drängt für die Berliner die Frage: Freiräume, ja – aber was können sie sein und für wen? Ein Kommentar.

Sie ist Symbol und Symptom – die Liebigstraße 34. Am Freitag wurde das Hausprojekt, das sich selbst als „anarcha-queer-feministisch“ bezeichnet hat, von der Polizei geräumt. Die „Liebig34“ ist Symbol für das Berlin, das immer mehr verschwindet. Für die Freiräume, die die Stadt ausmachten.

Räume, in die es Menschen aus dem Rest der Republik und aus dem Ausland gezogen hat. Räume, in denen sich andere Lebensentwürfe verwirklichen ließen. Berlin, Fluchtpunkt und Sehnsuchtsort.

Mitte 1990, in den wilden Nachwendemonaten, wurde das in der DDR heruntergekommene Haus besetzt. Während im November 13 Häuser in der nahen Mainzer Straße geräumt wurden, sich Besetzer und Polizei Straßenschlachten lieferten, Rot-Grün zerbrach, hatte die „Liebig34“ Bestand.

Ebenso wie gegenüber die „Liebig14“ und um die Ecke die „Rigaer94“. Mietverhältnisse wurden legalisiert, Friedrichshain wurde zum Biotop mit Magnetwirkung, Berlin eben. Hier ließ und lässt es sich leben.

Dann wechselte der Eigentümer, ein Immobilienunternehmer übernahm. Ende 2018 lief nach zehn Jahren ein Mietvertrag aus. Kompromisse gab es nicht. Stattdessen ein Räumungsurteil.

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Der selbsterklärte Schutzraum „Liebig34“ für Frauen und queere Menschen wird zu einem neuen Symbol stilisiert: für den Kampf gegen die Gentrifizierung, gegen teure Mieten und Verdrängung – und allgemein gegen den Kapitalismus, den Staat und seine Vertreter. Der Rechtsstaat wird für obsolet erklärt: Gerichtsurteile sind nur akzeptabel, soweit sie der eigenen Seite dienen.

Der Kampf um besetzte Häuser beschreibt die Symptome einer Stadt, in der günstiger Wohnraum knapp wird. In der die Politik versucht, Mieten zu deckeln, in der die neue soziale Frage zur Idee führt, große Immobilienkonzerne zu enteignen und den Wohnungsmarkt der Logik maximaler Rendite zu entziehen.

Eine Bewohnerin schaut vor der Räumung aus der Liebig34.
Eine Bewohnerin schaut vor der Räumung aus der Liebig34.

© Tobias Schwarz/AFP

Häuser wie die „Liebig34“ und die „Rigaer94“ gerieren sich als Bollwerk gegen den Anstieg der Mieten im Kiez, zur Front gegen das vorgeblich heranrückende Kapital.

Dieser ideelle Überbau ist verlockend, denn er ist schön einfach: Gut gegen Böse. Auch daraus haben „Liebig34“ und „Rigaer94“ ihre Symbolkraft gewonnen. Das ideologische Gerüst ist symptomatisch für die linke Szene im Friedrichshainer Nordkiez: Ihr geht es nur um sie selbst, um ihren Freiraum, und nicht um den Freiraum im Kiez für alle.

Die Liebig34 und Freiräume in Berlin

Nachbarn, die sich selbst dem links-grünen Milieu zurechnen, die genau wegen dieses Umfelds auf Brachen genossenschaftlichen Wohnraum geschaffen haben, wurden angegriffen, vor der Haustür bedroht, ihre Häuser beschmiert, die Fenster ihrer Kinderzimmer eingeworfen. Sie wurden zu den bösen Fremden im Kiez erklärt.

Ist das noch links? Kaum. Es ist auch nicht links, durch einen Brandanschlag die S-Bahn auf zentraler Strecke mehr als eine Woche lang zu sabotieren und die Menschen mitten in der Corona-Pandemie in enge Ersatzbusse zu zwingen.

Für Arbeitende, Krankenschwestern und das Dienstleistungsproletariat kämpfen „Liebig34“ und „Rigaer94“ gewiss nicht. Sie akzeptieren nicht einmal deren politische Fürsprecher in der Landespolitik, Linke und Grüne.

Die Stadt bleibt im Wandel. Und die Frage, was Freiräume in Berlin noch sein können und für wen, muss neu beantwortet werden. Für mehr Menschen als die 40 Bewohner eines besetzten Hauses.

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