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Christiane Mückenberger

© Günter Linke, Filmmuseum Potsdam

Nachruf auf Christiane Mückenberger: Sie hätte gewarnt sein können

Konterrevolutionäre Plattform? Sie hat Filmgeschichte gelehrt, sonst nichts. Jetzt war sie arbeitslos - mitten in der DDR!

Stand:

Am 15. September 1965 spielen die Rolling Stones in der West-Berliner Waldbühne. Acht Titel, die Musiker fliehen, Totalschaden der Waldbühne. Die seismischen Wellen reichen bis nach Ost-Berlin, die Partei- und Staatsführung der DDR fürchtet sich sehr. Was macht die Jugend so verrückt? Am 15. Dezember beginnt das 11. Plenum des Zentralkomitees der SED. Am 22. Dezember hat die Filmhistorikerin Christiane Mückenberger einen Termin im DDR-Kulturministerium.

Als die junge Frau, Mitte dreißig, wieder auf der Straße steht, prüft sie ihre Lage: Ich stehe auf der Straße! Ich bin entlassen, fristlos, ich bin arbeitslos, was für ein Wort, und das zwei Tage vor Weihnachten, ja mehr noch: Ich habe Berufsverbot! All das gibt es gar nicht in der DDR. Und was macht die Filmgeschichte denn so gefährlich für die Existenz des ersten Arbeiter- und Bauernstaates auf deutschem Boden? Christiane Mückenberger ist Dozentin an einem denkbar kleinen, geradezu versteckten Institut für Filmwissenschaft, das zur Filmhochschule Potsdam gehört.

Vielleicht sollte sie ihre Sachen dort besser gleich abholen, in der leicht surrealen Zwischenzeit dieses Nachmittags? Denn manche Nachrichten, obwohl der Verstand sie bereits empfangen hat, sind noch längst nicht ins Empfinden eingegangen, sie sind noch gar nicht wirklich. Es wird nicht leichter werden, wenn sie wartet, und natürlich ist sie gespannt, was die Kollegen sagen.

Sicher, sie hätte gewarnt sein können. In letzter Zeit hatten an der Filmhochschule große Parteiversammlungen stattgefunden, in denen sie und zwei Kollegen beschuldigt wurden, eine parteifeindliche Plattform gegründet zu haben. Was hat sie gegründet? Sie hätte lachen mögen, lachen darf man überall, aber besser nicht in einer SED-Parteiversammlung. Also machte die Beschuldigte ein Gesicht, das ihr der Lage angemessen schien. Konterrevolutionäre Plattform? Sie hat Filmgeschichte gelehrt, sonst nichts.

Was ist ein abgedrehter Film? Filmgeschichte!

Allerdings nicht unbedingt Stummfilm. Christiane Mückenbergers Definition der Filmgeschichte neigte durchaus zum Eigenwilligen bei größtmöglicher sachlicher Präzision: Denn was ist ein abgedrehter Film? Filmgeschichte! Nichts gegen Fellini, Antonioni, Resnais, die Sprache ihres Kinos war faszinierend neu und eigenwillig, aber noch aufregender, fand Christiane Mückenberger, war das jüngste polnische, tschechische und sowjetische Kino. Etwa „Von etwas anderem“ aus dem Jahr 1963 von Věra Chytilová über eine tschechische Hausfrau und eine Olympia-Turnerin. Oder „Der Angeklagte“ von 1964 über ein Elektrizitätswerk. Was für ein vibrierendes Kino. Nicht zu vergessen Andrzej Wajdas „Asche und Diamant“. „Kanal“ natürlich. Oder „Das Messer im Wasser“ des jungen Roman Polanski. Jeder gute Lehrer weiß, es genügt nicht, nur über die Dinge zu reden, am besten, man zeigt auch etwas vor, und nun erst im Kino!

Fast die gesamte DEFA-Jahresproduktion 1965 war soeben auf dem Plenum verboten worden, zwölf Filme. Der Präzedenzfall war Kurt Maetzigs „Das Kaninchen bin ich“, für den sie sich besonders eingesetzt hatte. Wahrscheinlich hatte die Entlassene selbst kaum bemerkt, wie sie die alten Wege gegangen war, bis sie vor ihrem Babelsberger Institut stand. Als sie hinein wollte, vertrat man ihr den Weg. Hausverbot! Die wussten also schon Bescheid? Ein Kollege bringe alles, was er auf und in ihrem Schreibtisch finde. Sie stand auf der Straße. So war es also, im falschen Film zu sein.

Ein Mensch hinter Glas, von einem Moment auf den anderen. Als sie nach Hause kam in die Stubenrauch-Straße in Potsdam musste sie damit rechnen, auf einen Mann hinter Glas zu treffen. Zwölf verbotene DEFA-Filme, und wer war der Generaldirektor der DEFA? Ihr Mann, Joachim Mückenberger. Das waren keine guten Aussichten. Es wurden die seltsamsten Weihnachtstage ihres Lebens. Alles Gute zum neuen Jahr? Es begann mit Joachim Mückenbergers Entlassung. Sie waren nun ein real existierendes Kuriosum: ein vollkommen arbeitsloses Ehepaar mitten in der DDR.

Jahrzehnte später würde die Tochter des Regisseurs Kurt Maetzig ihren Vater fragen: Wie geht es denn Christiane? Sie wusste, dass die enge Freundin der Familie sehr schwer krank war, aber Maetzig, der bereits auf die 100 Jahre zuging, antwortete kühl: „Über Krankheiten reden wir nicht!“ So beredt Christiane Mückenberger war, wenn es um das Kino ging, so zurückhaltend war sie, Persönliches betreffend. Das Leben, wusste die Bürgertochter, ist vor allem eins: eine Haltungsfrage. Klagen und Zusammenbrüche sind keine Optionen, und schließlich wusste sie aus dem Umkreis der eigenen Familiengeschichte, was Kommunisten widerfahren kann.

Sie war ein Gleiwitzer Kind. Oberschlesien war reich, und das sah man: Die Schulen, der Bahnhof, das Postamt waren fast zu groß für die alte Stadt und in den Augen des Kindes Christiane noch größer. Eine solche Stadt suggeriert Sicherheit, und ihre Herkunft machte dasselbe: Was sollte der Tochter des Rechtsanwalts Lothar Bolz schon geschehen? Ihr Vater verteidigte allerdings auch Kommunisten, Juden und Polen. Vielleicht ist Lothar Bolz im selben Jahr in die KPD eingetreten, als seine Tochter geboren wurde, 1928. Und als Christiane fünf Jahre alt war, verschwand er plötzlich aus ihrem Leben, um für die ganze Ewigkeit einer Kindheit nicht mehr zurückzukehren.

Alle dichteten und waren geradezu abenteuerlich links

Im Frühjahr 1933 erhält er in Breslau einen lebensrettenden Anruf und kehrt nicht mehr nach Hause zurück, nicht einmal, um das Nötigste mitzunehmen. Als einziger nichtjüdischer Jurist wird er 1933 aus der Anwaltskammer Schlesiens ausgeschlossen. Mit Hilfe seines Jugendfreundes Rudolf Herrnstadt flieht er in die Sowjetunion.

Zwei Gleiwitzer, später in Spitzenämtern der jungen DDR: Lothar Bolz und Rudolf Herrnstadt, geboren im selben Haus, im selben Jahr, Freunde fürs Leben. Der erste später Außenminister, der andere Chefredakteur des „Neuen Deutschland“. Doch Herrnstadt wird bald verdächtigt, Ulbricht im Auftrag Moskaus und im Dienst der deutschen Einheit stürzen zu wollen. Das geschieht 1953. Ulbricht siegt, Herrnstadt geht unter. Aber das kommt alles noch.

Vorerst, 1933, steht Christianes Mutter Elsbeth Bolz in Gleiwitz unter polizeilicher Überwachung und die kleine Tochter in Gefahr, einer nationalsozialistischen Erziehungsanstalt übergeben zu werden. Ein Onkel kann die Kinderheim-Drohung bannen und wird dem Mädchen zum Ersatzvater.

Christiane Mückenberger wird fast nie über diese Zeit sprechen. Aber als die Schriftstellerin Irina Liebmann, Herrnstadts Tochter, beginnt, die Geschichte ihres Vaters zu schreiben, klingt sie, als käme sie geradewegs aus dem Gleiwitz der späten 1920er Jahre: Wie ihre Väter damals im Gleiwitzer Café Schnapka gesessen hätten, immer in großer Runde, auch ein Medizinalrat, ein Justizrat und ein Fabrikbesitzerssohn waren dabei, alle dichteten und waren, gemessen an ihren Berufen, geradezu abenteuerlich links. Die Gleiwitzer Bohéme. Verbürgt ist, dass Christianes Vater Lothar Bolz und Rudolf Herrnstadt bald auch die erste Breslauer Sportzeitung herausgaben. Sie erlebte eine Ausgabe. Auch ein jüdischer Zahnarzt gehörte zur Café-Schnapka-Bohéme. Und dessen Sohn Percy Stulz wird Christiane Bolz’ erster Mann und vertritt etwas später die DDR bei der Unesco.

Soviel Gleiwitz bürgerlichen Ursprungs war also in der anfänglichen DDR. Mutter Bolz und Tochter Christiane zählten nicht zu den Tausenden schlesischer Flüchtlingen, die seit Januar 1945 ihre Heimat verließen. Sie kamen erst 1947, Rudolf Herrnstadt brachte sie, denn seine eigene Familie konnte er nicht mehr holen, die Nazis hatten die jüdischen Herrnstadts ausgelöscht; er war der Letzte.

Lothar Bolz sieht seine Tochter wieder, eine schöne junge Frau, und er weiß sofort, was sie studieren muss: Slawistik. Sowohl Bolz als auch Herrnstadt hatten die deutschen Kommunisten in Moskau immer dafür verachtet, dass nur die wenigsten Russisch lernten, so lange sie auch da waren. Kleinbürger! Polnisch konnte Christiane seit Kindertagen, also würde ihr Russisch kaum schwerfallen. Der DDR-Außenminister behält recht, seine Tochter promoviert 1957 über „Lew Tolstoi in der neuen deutschen Literaturgeschichte“. Aber dann lernt sie den Tolstoi des 20. Jahrhunderts kennen, und der hat keine Romane geschrieben, sondern Filme gedreht: Sergej Eisenstein. Und sie folgt der Spur einer neuen Faszination.

Und nun, im Dezember 1965, sollte das alles schon wieder vorbei sein? Es war schon gut, dass sie Russisch und Polnisch konnte. Denn der soeben abgesetzte Kulturminister der DDR Hans Bentzien hatte eine Idee: Dann übersetzt du eben sowjetische und polnische Bücher! Er war beim Aufbau-Verlag untergekommen, und so übersetzte Christiane Mückenberger in seinem Auftrag auch Jerzy Toeplitz’ „Geschichte des Films“, sechs Bände. Zeit hatte sie.

Christiane Mückenberger saß in ihrer schönen Wohnung in der Potsdamer Stubenrauchstraße, schaute über den Griebnitzsee Richtung Westen, der sie noch immer nicht reizte, und befand, dass ihre Situation durchaus Vorteile hatte. So genau hätte sie Toeplitz’ Filmgeschichte sonst nie gelesen. Und auch ihr Mann, unter dem die DEFA ihre besten Filme gedreht hatte, von „Die Abenteuer des Werner Holt“ über „Nackt unter Wölfen“ bis zu „Spur der Steine“ und den übrigen verbotenen Filmen des Jahrgangs 1965 natürlich, haderte nicht mehr. Es sei vollkommen unhaltbar, dass dieser begabte Organisator den ganzen Tag lang nur aus dem Fenster schaue, hatte Potsdams Oberbürgermeisterin befunden und sah ihn bald als Direktor der Potsdamer Schlösser und Gärten. Kein Ärger mehr, keine Invektiven aus Berlin, nur Barock und Bäume.

Joachim Mückenberger, der Chemnitzer Bäckersohn, lernte, dass Arbeit gar nicht gleichbedeutend mit nervlicher Zerrüttung sein muss. Kinder sind in dieser Hinsicht ohne Frage immer ein Risiko. Er hatte einen Sohn in die Ehe gebracht, der heißt auch Joachim, genannt Mücke. Mücke befand sich in dem Alter, in dem Jungen etwas wagen müssen, schon um ihrer gesellschaftlichen Reputation willen. Meistens führt das nicht dazu, dass die Eltern ihre Wohnung verlassen müssen, in diesem Fall schon.

Eine Nacht in West-Berlin. Und dann klettern wir wieder zurück.

Mücke und sein Freund Sturmo hatten einen Plan, den sie mit vielen Menschen vorher und nachher teilten: Wir klettern über die Mauer! Anders als die meisten hatten sie aber noch einen zweiten Plan: Nur mal gucken! Vor allem bei der Kommune 1 klingeln und über den Ku’damm laufen. Eine Nacht werden wir wohl bleiben, ein Wochenendausflug eben. Und dann klettern wir wieder zurück. Genauso machten sie das.

Ich war im Westen!, wer hätte das schon für sich behalten können? Gegenüber seinen Eltern war Mücke genauso verschwiegen wie die alten Kommunisten. Nur den Freunden gegenüber war das unmöglich, denn was nützt eine so außerordentliche Tat, wenn niemand davon weiß und die anderen nicht zu einem aufblicken, vor allem die Mädchen? Mücke wollte vor allem die Tochter des Potsdamer Polizeipräsidenten beeindrucken. So erfuhr es auch die Staatssicherheit.

Was für eine unmögliche Familie! Die Eltern unterwandern die DDR mit Filmen und Filmgeschichte, der Junge klettert über die Mauer. Apfel und Stamm, wieder einmal. Mücke wurde zur Nationalen Volksarmee eingezogen, und seine Eltern mussten ihre Wohnung im Sperrgebiet verlassen. Das Verhältnis Mückes zu Vater und Stiefmutter neigte zur Dissonanz.

Leben heißt Pläne machen. Pläne sind das Gegenteil von selbstquälerischen, zu unendlichen Schleifen neigenden Selbsterkundungen der Form: Musste alles so kommen, wie es gekommen ist? Christiane Mückenberger hatte schon 1968 ein neues Projekt, gemeinsam mit dem Filmarchivar Wolfgang Klaue. Warum hat Potsdam noch kein Filmmuseum? Im Westen gibt es zwar auch keins, aber die haben auch keine Kinostadt wie Babelsberg. Also schrieben sie schon 1968 das erste Konzept für ein Filmmuseum. Und der Direktor der Potsdamer Schlösser und Gärten wusste auch bald, wo es unterkommen könnte. Im Marstall! Das im Krieg ausgebrannte Potsdamer Stadtschloss hatte die DDR zwar längst abgerissen, aber sein großer alter Pferdestall war noch da und stand sehr baufällig und verloren, ohne jeden architektonischen Zusammenhang an der innerstädtischen Schnellstraße. Ein guter Ort für Deutschlands erstes Filmmuseum. 1981 wurde es eröffnet.

Christiane Mückenberger durfte zurückkehren in Lehre und Forschung, noch einmal wurde alles beinahe so wie Anfang der 60er Jahre. Gab es denn seit 1985, als Gorbatschow kam, etwas Aufregenderes als den sowjetischen Film?

Der Aufbruch von 1989 war auch der ihre, Christiane Mückenberger war noch nicht zu alt, um wieder einmal neu zu beginnen. 1990 wurde sie Intendantin des schon zuvor international renommierten Leipziger Dokumentarfilmfestivals und mehrere Jahre stellte sie im ORB DEFA-Filme vor. Die 1965 verbotenen natürlich, die viele jetzt zum ersten Mal sahen, aber auch solche, die ihr besonders am Herzen lagen. Jetzt wurde sie zur Filmhistorikerin eines ganzen Landes.

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