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Im Rathaus Lichtenberg musste ein 84-jähriger Besucher medizinisch betreut werden. Dem Notfallsanitäter werden anschließend Vorwürfe gemacht.

© Kitty Kleist-Heinrich

Retter behindert, Journalisten eingeschüchtert: Lichtenbergs Bezirksbürgermeister in Erklärungsnot

Ein betrieblicher Ersthelfer wird beim Rettungseinsatz für einen Besucher des Bezirksamts behindert. Inzwischen ist die Staatsanwaltschaft mit dem Fall betraut. Und der Rathauschef schüchterte Journalisten ein.

Stand:

Es ist 11.45 Uhr, als am Montag, dem 10. Februar, ein 84-jähriger Mann im Bezirksamt Lichtenberg plötzlich bewusstlos zusammenbricht. Der Mann stand in der Warteschlange zur Briefwahl, Umstehende eilen ihm zu Hilfe, der Pförtner alarmiert die Feuerwehr. Nicht alarmiert wird der betriebliche Ersthelfer. Dieser bekommt den Tumult trotzdem mit, eher zufällig. Er reagiert sofort. 

Er holt den Notfallrucksack und geht zu dem Patienten. Der Senior hat mehrere Vorerkrankungen am Herz, ein Hochrisikopatient, wie sich später herausstellt. Jede Sekunde kann sich sein Zustand massiv verschlechtern. Am Ende geht es um Leben und Tod, sogar um eine mutmaßliche Störung eines Rettungseinsatzes. Und damit möglicherweise um eine Straftat. Dazu um versuchte Einschüchterung der Presse. Ein bundesweites Vorzeigeprojekt für Zivilschutz und Katastrophenhilfe liegt deshalb inzwischen brach.

Der Ersthelfer, Katastrophenschutzbeauftragter des Bezirks, zertifizierter Rettungssanitäter und jahrelang ehrenamtlich bei einer Hilfsorganisation tätig, wird von anwesendem Personal des Rathauses dabei behindert, Hilfe zu leisten. Inzwischen ist ein Ermittlungsverfahren anhängig.

Immer wieder wird der Sanitäter aufgefordert zu gehen, statt den Senior zu versorgen. Sogar am Zugriff auf den Notfallrucksack behindert man ihn.

Vorwurf eines Befehlstons

Nach dem Rettungseinsatz wird im Bezirksamt nicht diskutiert, weshalb die Hilfeleistung des Ersthelfers gestört wurde. Vielmehr werden ihm zufolge Vorwürfe gegen ihn erhoben.

Im Personalgespräch mit dem Bezirksbürgermeister Martin Schaefer (CDU) soll sein Verhalten disziplinarisch scharf kritisiert worden sein. Er habe im „Befehlston“ mit dem Rettungsdienstpersonal der Feuerwehr bei der Übergabe des Patienten gesprochen, soll ein Vorwurf lauten.

Martin Schaefer (CDU), Bezirksbürgermeister in Berlin-Lichtenberg.

© BA Lichtenberg/ Krostitz

Die Berliner Feuerwehr wusste auf Nachfrage hiervon nichts zu berichten, bestätigt dem Tagesspiegel aber ausdrücklich, dass die „Kommandosprache“ in Notsituationen normal sein – damit keine Informationen verloren gehen und eine klare, unmissverständliche Absprache möglich ist. Man kann auch sagen: Man reduziert sich verbal auf das Wesentliche und verzichtet dabei auf Bitte und Danke angesichts bestehende Lebensgefahr.

Der Ersthelfer macht noch am Abend auf der Plattform X seinem Unmut Luft und schildert sein Erleben, anonym, ohne dass jemand erfährt, wo im Bezirksamt Lichtenberg sich der Vorfall zutrug. Zahlreiche Rettungsdienstler und Katastrophenschützer reagieren entsetzt. Weitere Recherchen ergeben, dass sich der geschilderte Einsatz im Rathaus Lichtenberg ereignete, die Feuerwehr bestätigt den Notruf von dort um 11.46 Uhr.

Daraufhin schaltet sich nun auch der Journalist Lars Winkelsdorf, Co-Autor dieses Textes, ein und versucht, Bezirksbürgermeister Schaefer zu erreichen. Was war da los?, möchte er wissen. Mehrere Anrufsversuche sind erfolglos, doch schließlich ruft Schaefer zurück. Er wird am Telefon laut. Erst behauptet er, nicht zur Auskunft verpflichtet zu sein und will das Gespräch abbrechen. Dann kommt es zu einem heftigen Zwist über das Landespressegesetz. Am Ende sagt der Bürgermeister, man möge ihm eine Email mit den Fragen schicken.

Einschüchterungsversuche und Strafanzeige

Die übersandten Fragen beziehen sich auf die Störung des Ersthelfers. Es geht um schwere, auch strafrechtlich relevante Vorwürfe, um „unterlassene Hilfeleistung“ und „Behinderung von Hilfe leistenden Personen“ durch das Rathauspersonal bei der Rettung des Seniors.

Schaefer antwortet nun aber nicht selbst, sondern verweist an seine Pressestelle, die im Wesentlichen bestätigen wird, dass man sich für die Hilfe durch Laien entschied und nicht für den Rettungssanitäter, doch man betrachtet dies als ausreichend: „Erste Hilfe wurde geleistet, den telefonischen Anweisungen des Rettungsdienstes wurde Folge geleistet.“

Nur: Inzwischen sind in der Sache Verfahren bei der Polizei anhängig. Die „Ermittlungsvorgänge wurden zur weiteren Entscheidung an die Staatsanwaltschaft Berlin übergeben“, sagte ein Sprecher. Der bei seiner Arbeit an dem Senior mutmaßlich behinderte Rettungssanitäter soll demnach Strafanzeige erstattet haben. Und er wurde durch verordneten Zwangsurlaub kaltgestellt, wie von mehreren Seiten im Bezirksamt berichtet wird.

„Es gibt eine zunehmende Unsicherheit wegen nicht nachvollziehbarer Personalentscheidungen“ durch den Bezirksbürgermeister“, sagt ein Beamter. Es herrsche „eine komische Angststimmung“, viele fragen sich: „Können wir die nächsten sein, die vor die Tür gesetzt werden?“

Gleichzeitig herrscht nun Unruhe bei Freiwilligen eines Prestigeprojekts im Zivilschutz namens „Zertifizierte Ehrenamtliche Unterstützungskräfte im Bevölkerungsschutz“, kurz „Zeus“. Seit einem Jahr werden Freiwillige geschult, um bei größeren Einsatzlagen helfen zu können. Ins Leben gerufen wurde das Projekt vom Katastrophenschutzbeauftragten des Bezirkes, von jenem betrieblicher Ersthelfer, der dem 84-Jährigen half.

50 Zeus-Kräfte wurden 2024 ausgebildet, ein weiterer Kurs mit 80 Anwärtern sollte im März beginnen. Doch der Katastrophenschutzbeauftragte sei nicht mehr erreichbar, beklagen die Freiwilligen in einem Schreiben an den Regierenden Bürgermeister Kai Wegner (CDU). Sie seien Rentner, Studenten, Handwerker, Beschäftigte in Bundes- und Landesbehörden, Juristen, Ärzte, Psychologen, Pharmazeuten und Ingenieure.

Für die zweite Zeus-Gruppe, die ihre Ausbildung im März beginnen sollte, hätten einige „extra Bildungsurlaub beantragt“ und sich „Betreuungsmöglichkeiten für ihre Kinder gesucht“. Nun aber gebe es „konkrete Anhaltspunkte dafür, dass der Katastrophenschutzbeauftragte das Projekt nicht weiterführen darf, weil der Bezirksbürgermeister es so will“, heißt es in dem Schreiben an Wegner.  

Rücktritt nahegelegt

Mittlerweile haben die Teilnehmer eine Absage des Kurses per Email von Schaefer erhalten. Zwar halte er an dem Projekt fest, heißt es darin, aber: „Wie wir dies in Zukunft gestalten werden, müssen wir perspektivisch sehen“. Eine Sprecherin erklärt auf Nachfrage: „Die anstehenden Kurse im Zeus-Programm müssen aus organisatorischen Gründen aufgrund personeller Engpässe entfallen.“

Die FDP in Lichtenberg beklagt, dass das Bezirksamt gegen den ausgebildeten Ersthelfer vorgehe statt eine mögliche unterlassene Hilfeleistung aufzuarbeiten. „Wenn Martin Schaefer, der Bezirksbürgermeister Lichtenbergs, tatsächlich lieber gegen einen betrieblichen Ersthelfer vorgeht, anstatt die Behinderung seiner Hilfeleistung zu untersuchen, und anschließend einen Journalisten einschüchtert, dann kann es nur eine Konsequenz geben“, sagt der Vorsitzende der FDP Lichtenberg, Batuhan Temiz, von Beruf Mediziner und Offizier bei der Bundeswehr. „Martin Schaefer muss sein Amt niederlegen.“

Mehrfach hat der Tagesspiegel beim Bezirksamt versucht zu erfragen, etwa zu der unterlassenen Hilfeleistung und wie die Behörde damit umgeht und ob hier eine mögliche Strafvereitelung vorliegt, wenn gegen den Störer der Rettungsmaßnahme nicht vorgegangen wird. Die Antwort: „Dem Bezirksamt gegenüber sind keine derartigen Vorwürfe oder Anzeigen durch beteiligte Personen noch ein verhinderter Einsatz bekannt.“

Auch auf mehrfache Nachfrage bleibt das Amt dabei: „Erste Hilfe wurde geleistet. Es wurden keinerlei Rettungsmaßnahmen behindert.“ Es seien auch keine solchen Beschwerden oder Anzeigen bekannt. Dabei soll in den dienstlichen Gesprächen exakt diese Behinderung des Sanitäters Thema gewesen sein. Und Martin Schaefer weiß durchaus, wie Strafanzeigen erstattet werden.

Fünf Beamte in Uniform

Als Reaktion auf die kritischen Nachfragen suchte sich Schaefer bei X einzelne Postings des Co-Autoren Winkelsdorf, um gegenüber dem Staatsschutz des Berliner Landeskriminalamtes eine „Bedrohung“ zu behaupten. Weil er in einem Post den Bezirksmitarbeiter beschimpft hat, der den betrieblichen Ersthelfer beim Hilfseinsatz behindert hat.

Schaefer stellte eine Anzeige. Die Folge: Der Journalist bekam Besuch. Fünf Beamte in Uniform standen vor seiner Haustür in Hamburg, um eine „Gefährderansprache“ vorzunehmen.

Schaefer, so die polizeiliche Anweisung, solle „in Ruhe gelassen“ werden. Untersagt wurde auch, Schaefer „im Bezirksamt aufzusuchen“. Eine Anweisung, die der Hamburger Staatsschutz nicht in Gänze nachvollziehen konnte. Wie der Bezirkspolitiker überhaupt auf eine solche Idee kommt, ist dabei ebenfalls unklar, denn die X-Posts beziehen sich klar erkenntlich überhaupt nicht auf ihn.

Nachdem der Tagesspiegel zu dem Vorgang, unangenehme Fragen und Konfrontationen von Politikern durch die Polizei unterbinden lassen zu wollen, einige Tage in engem Austausch mit der Berliner Polizei stand, hat sich dies inzwischen aufgeklärt.

Gegen den Co-Autor werde nach Schaefers Anzeige zwar pro forma wegen Beleidigung ermittelt, die journalistische Tätigkeit sollte durch die Gefährderansprache aber nicht behindert werden. Selbstverständlich könne für die journalistische Recherche der Kontakt gesucht werden, erklärte die Polizei.

Ermittlungen pro forma

Sollte Martin Schaefer als Amtsträger eine Bedrohung inszeniert haben, um sich unangenehmer Presseanfragen zu entledigen, wäre dies nicht nur im Hinblick auf die Pressefreiheit ein Skandal, sondern auch mit Blick auf alle Politiker, die tatsächlich wegen ihrer Arbeit bedroht und angegriffen werden.

Hatte das Bezirksamt noch am Mittwoch vor der Bundestagswahl auf Tagesspiegel-Anfrage erklärt, dass das Internet kein rechtsfreier Raum sei, reagiert es nach Konfrontation mit dem Sachverhalt und dem Eindruck eines weiteren Einschüchterungsversuchs ausgesprochen schmallippig.

Woraus Schaefer schloss, dass ein X-Post auf ihn bezogen sei? Dazu erklärte die Pressestelle: „Dies zu klären, obliegt den Ermittlungsbehörden.“ Ähnlich antwortet das Bezirksamt auf Frage, ob Schaefer die Polizei auch über die weitere Korrespondenz und die schriftlichen Anfragen zu möglichen Amtsdelikten informiert hat.

Offen bleibt die Frage, weswegen das Bezirksamt Lichtenberg nicht einfach selbst auf die Hilfeleistung eines dort tätigen Rettungssanitäters verwiesen hat, wenn an den Vorwürfen nichts dran wäre. Dies allerdings müssen nun ebenso die Ermittlungsbehörden klären. So wie die Frage, ob hier inzwischen eine versuchte Strafvereitelung vorgelegen hat.

(Mitarbeit: Dominik Lenze)

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