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Der Sänger, Gitarrist und Produzent Max Rieger.

© Bettina Theuerkauf

Produzent Max Rieger: Rockstar, unsichtbar

Max Rieger dehnt und staucht Sounds, bis die Energie der Musik alle überwältigt. Damit ist er zum Mastermind des deutschen Untergrund-Rock geworden.

Max Rieger läuft den Ku'damm entlang und kauft nichts. Er trägt ja schon weiße Socken von Vetements. Der Karneval ist lange vorbei, aber der Rieger, sagt er, ist heute mal wieder in Kostüm unterwegs. "Ich bin immer verkleidet", sagt er später und lacht laut auf. Er passe sein Outfit an die Umgebung an, damit sich niemand fragt: "Gehört der hier eigentlich hin?" In Neukölln, wo Rieger lebt, trägt er Cap, Jogginghose und Sneaker und ist dadurch tatsächlich fast unsichtbar, glaubt er. Angesprochen wird er auf der Straße jedenfalls nie.

Der deutsche Rick Rubin

Und das ist eine Kunst. Max Rieger, 26 Jahre alt, kurze blonde Haare, ist zwei Meter groß und der wichtigste Rockstar Deutschlands, den niemand erkennt. Mit seiner Band Die Nerven und seinem Soloprojekt All diese Gewalt tourt er durch Deutschland, außerdem produziert er all die Künstlerinnen und Künstler, die zu lässig für die deutschen Singlecharts und Formatradios sind - und gerade deswegen so beliebt. Drangsal, Jungstötter, Ilgen Nur, Karies und Mia Morgan haben dabei eigentlich nur zwei Sachen gemeinsam: Sie sind Teil einer hippen Gegenkultur, der wenig an Zugänglichkeit und viel an Haltung und Anspruch liegt. Und sie werden von Max Rieger produziert, das heißt: Dass ihre Alben so dringlich und nah und aufrüttelnd klingen, liegt auch an ihm. Denn Rieger ist innerhalb der letzten Jahre zum Mastermind hinter dem deutschen Untergrund-Rock geworden, zu einer Art deutschem Rick Rubin. Er ist jetzt auch offiziell als "Lieblingsproduzent" nominiert, beim Preis der Popkultur, der im Oktober in Berlin verliehen wird.

Max Rieger in der Nähe seines Marzahner Studios.
Max Rieger in der Nähe seines Marzahner Studios.

© Bettina Theuerkauf

Das hat sich so ergeben, sagt Rieger selbst, weil er einfach Glück gehabt habe Aber es hat sich auch so ergeben, weil er sich - wenn es darauf ankommt - selbst komplett zurücknehmen, sich so lange manisch in Musik reinsteigern kann, bis sie radikal wird. Weil er selbst radikal ist, in seinem Denken über Musik. Rieger sagt, wenn etwas scheiße ist. So ist er zu einer Art Marke geworden. Aber zu einer, die sich regelmäßig neu brandet. Zuletzt veröffentlichte er unter dem Namen Obstler ein Black-Metal-Album. Allein eingespielt und -gebrüllt innerhalb von drei Tagen, "in einer manischen Phase", wie er sagt. Die hundert Kassetten waren nach einem Tag ausverkauft.

Rieger stammt aus Esslingen am Neckar, S-Bahn-Bereich Stuttgart, 94.000 Einwohner. Viele alte Gebäude, wenig Subkultur. Dort begann er mit kostenloser Musikproduktionssoftware rumzudaddeln, wie er es selbst formuliert, nahm seine Stimme mit einem MP3-Player von Tchibo auf, klickte sich durch MySpace-Profile. Und er lernte Gitarre spielen, instruiert von den Büchern des "Gitarrenlehrers der Nation" Peter Bursch. Seitdem hat Rieger außer Musik nichts anderes interessiert. Jobs, Geld, Selbstfindungstrip nach Bali - völlig egal.

"Jeder einzelne Schritt wirft dich einen zurück"

Seine erste Veröffentlichung war ein blubbernder, perliger Trance-Remix im Jahr 2011, im Jahr darauf folgte das erste Soloalbum, "Zehn Lieder für Menschen ohne Freunde", das er zehnmal auf CD brannte und das man heute nicht einmal mehr halblegal über Youtube hören kann. Es folgte ein Intermezzo in einer Wave-Band namens Selektion, 17 Jahre alt war Rieger da. Die Band tourte in den Schulferien, manchmal spielte sie erst um vier Uhr morgens Konzerte in irgendwelchen Clubs vor viel älteren Menschen auf Drogen. Die Musik von damals sei heute in Russland sehr beliebt, sagt Rieger. Vor allem aber habe ihn die Selektion-Zeit abgehärtet: Auf die Bühne zu treten sei seit damals kein Problem mehr.

Max Rieger raucht viel, seine Zigaretten zündet er mit Streichhölzern an.
Max Rieger raucht viel, seine Zigaretten zündet er mit Streichhölzern an.

© Bettina Theuerkauf

Rieger, das kann man so sagen, ist eine Erscheinung. Er trägt eine helle Stoffhose, schwarze Lederschuhe und dazu eben jene weißen Socken der Rappern und Fashionistas angesagten High-Fashion-meets-Streetwear-Brand Vetements aus Paris. Rieger raucht viel, seine Selbstgedrehten zündet er mit Streichhölzern an und hält sie lässig zwischen Mittelfinger und Ringfinger. Seine Bewegungen und Gesten wirken , als seien sie Teil einer Performance.

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Zum Beispiel auf der Bühne: Rieger steht alleine da, sein Körper ist angespannt, sein Fuß wippt, um seinen Hals hängt eine Gitarre. Dann beginnt er zu singen, seine Gesten mit den Händen und Armen werden größer und größer, gewichtiger und gewichtiger. Er singt: "Jeder einzelne Schritt wirft dich einen zurück." Jeder Schritt, den Rieger auf der Bühne macht, sitzt perfekt. Während seine tiefe Stimme unter dem Dröhnen verschwimmt, das sich unendlich in die Länge zu ziehen scheint und dann urplötzlich versickert, wirkt er wahnsinnig souverän, auch wenn er von Schmerzen singt.

Rock als Sport

Mittlerweile habe er sogar Outfits für die Bühne, sagt er. Keine Flanellhemden, sondern Funktionsshirts aus synthetischen, atmungsaktiven Materialien mit hoch sitzendem Kragen. Rock als Sport. Max Rieger ist Profi geworden, einerseits.

Andererseits erklärt er, er höre sich Musik nie auf guten Boxen an. "Das interessiert mich nicht. Energie transportiert man im Notfall auch über Handylautsprecher", sagt Rieger. Musik, das erklärt er immer wieder, sei die beste, weil unmittelbarste Kunstform. Man könne durch Musik Menschen emotional erpressen, sie dazu bringen, einem zuzuhören, egal, ob sie das gerade wollen oder nicht. Diese emotionale Erpressung hat Rieger perfektioniert. Sein Trick: Sounds dehnen und zusammenstauchen, Emotionen urplötzlich rausschleudern. Sich nackt machen ohne Kompromisse, ohne Verkleidung, alles so komprimiert auf einen loslassen, dass man nicht mehr fliehen kann, weil da ein Mensch ist, der einen einnimmt.

Rieger in seinem Marzahner Studio: ein aufgeräumter Arbeitsplatz, keine verranzte Slacker-Bude.
Rieger in seinem Marzahner Studio: ein aufgeräumter Arbeitsplatz, keine verranzte Slacker-Bude.

© Bettina Theuerkauf

Der Plan war eigentlich ein anderer: Rieger studierte in Stuttgart Kunst an der Staatlichen Akademie. Während alle anderen fein säuberlich ihre Bewerbungsmappen einsendeten, reichte Rieger einen alten Pizzakarton gefüllt mit hundert Tuschezeichnungen ein - und wurde genommen. Es folgten ein Jahr Uni und die Erkenntnis, dass ihm die Kunst nicht das geben kann, was Musik mit ihm macht. Und dass ihm das Gewese um Kunst auf die Nerven ging. "Ich kann mir keine Situation vorstellen, in der ich aus Höflichkeit mit jemandem über Kunst rede. Nichts ist langweiliger, nichts!", sagt Rieger. Und: "Mir gefiel die Intellektualisierung von Musik an der Kunsthochschule nicht. Musik muss nichts Intellektuelles haben, sie muss unmittelbar sein."

Fiepen auf dem Ohr

Er überlegt kurz und fügt mit etwas lauterer Stimme hinzu: "Du kannst Leute mit Schallwellen überwältigen, ob sie es wollen oder nicht. Das hat so eine Brutalität und Rohheit, das hat mich immer mehr interessiert als eine gemalte Explosion. Ich will lieber, dass du die Explosion hörst - mit Fiepen auf dem Ohr." Einmal saß er in einer Sendung bei Deutschlandfunk Kultur. Da wollte man ihn schon wieder irgendeinem Genre zuordnen, und dann sollte er auch noch ein vom Moderator geschriebenes Gedicht vorlesen. Rieger verließ das Studio.

Zuletzt veröffentlichte Rieger unter dem Namen Obstler ein Black-Metal-Album, allein eingespielt und -gebrüllt innerhalb von drei Tagen.
Zuletzt veröffentlichte Rieger unter dem Namen Obstler ein Black-Metal-Album, allein eingespielt und -gebrüllt innerhalb von drei Tagen.

© Bettina Theuerkauf

Für diese Intensität und diese Radikalität nimmt Rieger in Kauf, auch einmal ein Jahr depressiv durchzuhängen. Sich sozial zu isolieren, nur noch rauszugehen, um an der Tankstelle Tabak zu kaufen, und ansonsten in einer alten Autowerkstatt zu hausen und Musik zu produzieren, sagt er.

Dann muss Rieger los, raus aus West-Berlin, mit der S-Bahn Richtung Marzahn - dort liegt sein Studio. Er muss heute noch an einem Song von Drangsal arbeiten.

Ein bisschen Delay, ein Hauch Reverb

Der Raum im grauen Neubau ist gemütlich. Es riecht ein bisschen nach altem Zigarettenrauch, aber auf die angenehme Art. Auf einem Aschenbecher steht "Max' Ascher". An einer Wand klebt ein Poster, auf dem groß das Wort "Rauschen" zu lesen ist, von draußen rauscht durchs geöffnete Fenster der Lärm einer Baustelle hinein. In der Ecke stehen Gitarren, auf dem Schreibtisch ein iMac. Ein aufgeräumter Arbeitsplatz, keine verranzte Slacker-Bude. Sechs Tage pro Woche verbringt Rieger hier, mindestens sechs Stunden, alles andere wäre sinnlos bei dem langen Anfahrtsweg aus Neukölln. Er sitzt dann an seinem iMac, schiebt Soundspuren in einer Software übereinander und zaubert ein wenig. Er gibt der Musik anderer Künstler*innen an den richtigen Stellen ein bisschen Delay oder einen Hauch Reverb, so lange, bis es in seinen Ohren perfekt klingt. Ob außer Rieger selbst überhaupt jemand die kleinen Details, die er in die Songs einbaut, dechiffrieren kann? Vermutlich nicht.

Irgendwann, sagt er unterwegs, wolle er mit der S-Bahn-Linie 25 vom Bahnhof Hennigsdorf zum Bahnhof Heiligensee fahren. Eine Haltestelle, drei Minuten Fahrt, von der brandenburgischen Grenzstadt im ehemaligen DDR-Territorium rüber in den Westen Berlins. Denn Rieger verbinden nicht nur seine Ku'damm-Erfahrungen, seine Neuköllner Wohnung und seine Liebe für die Einstürzenden Neubauten mit der Stadt.

"Natürlich ist die Gitarrenmusik tot"

1956 schlug sein Opa, der aus Mecklenburg-Vorpommern stammt, bei einem Tanzball einem NVA-Offizier, der vorher seine Freundin belappt hatte, ins Gesicht und brach ihm dabei die Nase. Der Schlag hatte Folgen, Riegers Großvater musste das Land verlassen - und fuhr einfach mit der S-Bahn über die Grenze. "Ich finde es krass, dass diese eine Handbewegung meines Opas dazu geführt hat, dass ich überhaupt existiere, weil so alles seinen Lauf genommen hat" sagt Rieger. Ohne die gebrochene NVA-Nase gäbe es keinen Max, keine Nerven, keine Black-Metal-Alben und auch keinen Studioraum in Marzahn. Und das wäre auch wieder schade, trotz aller Schmerzen. Rieger grinst in sich hinein.

"Natürlich ist die Gitarrenmusik tot, ihr habt sie auch getötet" hatte er früher am Tag gesagt. "Ich bin nicht dafür da, sie wieder zu beleben. Ich will machen, was sich richtig anfühlt." Es ist ihm scheißegal, wer hier wen und was für tot hält oder nicht.

Die Musik hält ihn ja am Leben. 

Johann Voigt

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