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Ein Trump-Fan in Milford, Pennsylvania.

© imago images/ZUMA Wire

Von Washington bis Kairo: Wie Tagesspiegel-Korrespondenten ihre Arbeit in aller Welt erleben

Ob in den USA oder Israel, Brasilien oder Spanien: Korrespondenten schauen genauer hin und helfen uns, die Welt und die Zusammenhänge besser zu verstehen.

Sie sind das Herz der Auslandsberichterstattung. Korrespondentinnen und Korrespondenten schauen genauer hin, beliefern die Redaktion mit authentischen Informationen und helfen uns, die Welt besser zu verstehen.

Hier schreiben ehemalige und aktive Berichterstatter von ihrer Zeit im Ausland – und ihren dort gewonnenen Erkenntnissen für die eigene Zukunft.

Doch, Augenblick: Es sind nicht nur Berichte aus dem Ausland. Nach der Wende war auch Brandenburg eine neue Welt für den Tagesspiegel. Deshalb berichtet auch unser Korrespondent von damals, wie er Land und Leute erlebte.

ADAM'S MORGAN UND ZURÜCK. ALSO GUT. OPA ERZÄHLT. VON AMERIKA

Robert von Rimscha.
Robert von Rimscha.

© Auswärtiges Amt

Robert von Rimscha war von 1996-2000 erster US-Korrespondent des Tagesspiegel

Ob es gute Jahre waren? Fraglos. Was man alles erleben darf! Wem man begegnen kann! Was man sieht und spürt als Korrespondent - das ist das einmalig Reizvolle an diesem Job.

Im Herzen von WASP-Amerika, bei Rotary-Honoratioren in einer neuenglischen Kleinstadt. In Indianerreservaten. In schwarzen Kirchen, elitären und evangelikalen. In der Jugendstrafanstalt, im Nacht-Gericht, bei der Grundausbildung der Marines, in der Zentrale der Kommunistischen Partei der USA. Steffi Graf heiratet Andre Agassi - breaking news! Im jaulenden Werk von Harley Davidson. Bei einer Botschafter-Bestätigung im Senat. In einer Oberschule nur für LGBT-Teenager.

All die Hollywood- und Broadway-Premieren: "Lion King" durfte ich als erster sehen, "Rent" auch. Bei christlichen Fundamentalisten in den Appalachen. Bei jungen Volontären in einem heruntergekommenen irischen Großstadtviertel. Bei Veteranen. Bei chinesischen Exilanten, die 1989 vom Tienanmen vertrieben wurden. Und neben dem Politischen: Interviewpartner von Architekt Peter Eisenman bis Musik-Avantgardistin Laurie Anderson. Amerikas Vielfalt erleben und erzählen, darum ging es.

Diese Freiheit und der Platz zum Abdruck der Einsichten - beides ist kleiner geworden. Als ich 1996 Amerika-Korrespondent wurde, gab es weder Handy (die ersten Trendsetter hatten bereits eines) noch e-Mail, online-Aktualisierung oder Social Media. Andere Zeiten, fürwahr. Meine Artikel wanderten damals nach Berlin über ein piepsendes System namens "combox". Agenturtauglichkeit und Zitierhäufigkeit waren noch nicht wichtig, Google-Rankings noch nicht geboren.

Entlang der 16. Straße in Washington, nahe der ich wohnte, nordwärts vom Weißen Haus, habe ich einmal die Kirchen gezählt. 46. Entlang einer Straße! Amerika ist sehr anders als Europa. Mein Viertel hieß "Adam's Morgan". Die beste Musikkneipe dort hieß "Madam's Organ". Die beste Bar war "Angle's" - weltbeste Tresenkraft: Anita aus Tasmanien. Dort tranken irischstämmige Autoren und Kriegsfotografen aus dem Afghanistan-Einsatz. Meine Nach(hoch 4)-Folgerin wohnt in der Nähe. 1996 war das ein kaputtes Ghetto, zerstört seit den Unruhen nach dem Mord an Martin Luther King. Ein vernageltes Schrott-Haus kostete 2000 Dollar. Heute werden 2 Millionen für dieselbe Immobilie verlangt. Amerika ist Dynamik. Prince spielte im "930 Club" gratis und ohne Ankündigung von 3 bis 6 Uhr morgens. Habe ich das berichtet?

Der deutsche Diplomatensohn Jens Söring, der vor kurzem freikam, saß schon damals wegen Doppelmordes in Haft. Im Jugend-Knast nahe Boston interessierten die kriminellen Kids sich vor allem für die DDR: Wie konnte man fliehen, wie die Mauer überwinden? Ausbruchsfantasien eben, weltweit. Als Deutscher war man immer wohlgelitten.

Schon vor der Rückkehr nach Berlin stand ein Urteil fest: Zynismus und Missgunst sind in Deutschland verbreiteter. Etliche in Deutschland kriegen Schnappatmung, wenn man die beiden Begriffe "USA" und "Werte" in einem Satz verwendet. Irgendwo zwischen der kritischen Betrachtung von Sklaverei, Indianermord, Irakkrieg und Trump (damals: Bush Junior) ist Amerika in Deutschland viel Glaubwürdigkeit abhanden gekommen. Aber die USA bleiben ein Reflex. Wenn in Halle oder Hanau Rassisten Menschen töten, gibt es hierzulande keine Großdemonstrationen. Wenn Amerikas Polizisten George Floyd erwürgen, dann schon. Wir markieren gern die Fehler der anderen.

Trump ist nicht Amerika. Aber ein Teil davon

Nach Jahren als Amerika-Korrespondent weiß man: Trump ist nicht Amerika. Aber ein Teil davon. Deutsche Skepsis ist nicht die gängige Form amerikanischer Kritik. Die Erneuerungsfähigkeit dieses Landes bleibt beeindruckend. Und amerikanische Naivität hat einen Vorteil: die Fähigkeit zur Selbstkritik. Die meisten derer, die sich dort für die Größten halten, räumen überraschend schnell ein, dass es auch ganz anders sein könnte.

Die beiden politischen Top-Ereignisse meiner Amerika-Jahre, das Impeachment-Verfahren gegen Bill Clinton in der Affäre um Monica Lewinsky und der gerichtliche Endlosstreit zwischen Al Gore und George W. Bush um den Sieg bei der Präsidentschaftswahl von 2000, wirken im Rückblick possierlich. Die Welt ist böser geworden. 9/11, Trump und Corona sind drei Stichworte für das zuvor Undenkbare, das Wirklichkeit geworden ist.

Zugleich sollte die Rückschau nicht nostalgisch sein. Die Balkan-Kriege tobten, und das alte Europa fand keine Lösung. Es war sehr schwer, deutschen Lesern klarzumachen, dass Clinton nicht von wildgewordenen Puritanern einer Sex-Affäre beschuldigt wurde, sondern von Gegnern wie Zweifelnden einer massiven Behinderung der Justiz, also des Absolutismus im Geiste. 

"Jede Stunde hinter dem Schreibtisch ist eine verlorene."

Berlin erschien mir nach der Rückkehr, was Berichterstattung durch die Presse anbelangt, Institutionen- und Gremien-fixiert. Ich bin nicht lange danach aus dem Journalismus ausgestiegen. Am Tagesspiegel lag's nicht. Es lag am Reiz des Neuen.

Als ich später Botschafter wurde, bat ich einen erfahrenen Kollegen um Rat. "Rausgehen!", meinte der. "Jede Stunde hinter dem Schreibtisch ist eine verlorene." Das darf man nicht wörtlich nehmen. Organisatorisches vom Büro-Computer gehört dazu. Aber im Kern hat der Mann recht. Für Botschafter wie für Auslandskorrespondenten gilt: Der Lehnstuhl-Typ ist fehl am Platz. Korrespondent sein kann lebenslange Nach- und Nebenwirkungen haben. Meinen 16. internationalen Umzug habe ich gerade hinter mich gebracht.

Im privaten "Cosmos Club" am Dupont Circle redete Monica Lewinsky mit ihrem Anwalt. Beide saßen an der Bar. Draußen, jenseits des Metallzauns, warteten 200 Journalisten und 60 Kameras auf das erste Live-Bild der Dame. Ich schritt mit ihr hinaus. Breaking News!

Robert von Rimscha war von 1991-2004 Redakteur beim Tagesspiegel, seit 2001 Leiter der Parlamentsredaktion. 2010 trat er in den diplomatischen Dienst ein und ist seit August 2020 Chef der Kulturabteilung der Deutschen Botschaft in Warschau.

KORRESPONDENTEN SIND ÜBERSETZER

Malte Lehming 2004 zu Besuch im "Texas Prison Museum"von Huntsville, Texas. Für drei Dollar gab's das Foto, so finanziert sich das Museum. Huntsville verzeichnet die meisten Hinrichtungen in den USA.
Malte Lehming 2004 zu Besuch im "Texas Prison Museum"von Huntsville, Texas. Für drei Dollar gab's das Foto, so finanziert sich das Museum. Huntsville verzeichnet die meisten Hinrichtungen in den USA.

© privat

Malte Lehming war von Ende 2000 bis 2005 der zweite USA-Korrespondent des Tagesspiegel

Was bleibt, ist Sehnsucht. Mag die Zeit im Ausland anstrengend und turbulent, entbehrungsreich und nervenaufreibend gewesen sein: Die Prägungen, die von ihr ausgingen, sind identitätsstiftend. Wer fortgeht, nimmt sich mit. Wer wiederkommt, nimmt sich als einen anderen mit.

Und auch diese drei Sätze können rückblickend wohl viele Auslandskorrespondenten unterschreiben: Es wurde mehr geschrieben, als reflektiert worden war. Es wurde weniger geschrieben, als Material vorhanden war. Je tiefer das Land ergründet wurde, desto fremder wirkte es.

Das prägende Datum meiner Zeit in den USA war der 11. September 2001. Es war morgens, ein Dienstag, die Sonne schien. Ich saß an meinem Schreibtisch, als die Redaktion aus Berlin anrief. Ich möge den Fernseher einschalten, da seien verstörende Bilder aus New York zu sehen. Was folgte, ist bekannt.

["Gefühle sind melodisch. Manchmal, wenn der Schock ganz tief sitzt und die Trauer einen zu überwältigen droht, entlädt sich das Ringen um Worte in einem Lied." So begann Malte Lehmings Reportage "Die Angst sucht ein Gegenüber" am 13. September 2001 im Tagesspiegel. Hier können Sie die Zeitungsseite als PDF herunterladen.]

Fünf Tage später, als in der Kathedrale von Washington D.C. der Gedenkgottesdienst für die Opfer der Anschläge stattfand, sackte das Ereignis in meine Gefühlswelt, Trauer überwältigte mich. Erst als am Ende die Glocken läuteten, drang die Dimension der Tragödie ins Bewusstsein ein. Vorher hatte ich funktioniert, hatte gelesen, recherchiert, geschrieben. Wie in Trance. Wahrscheinlich geht es nicht anders.  

Korrespondenten sind Übersetzer. Sie kennen ihr Publikum zu Hause und werden nach und nach geprägt von dem Land, aus dem sie berichten. Sie müssen in ihrer alten Sprache neue Geschichten erzählen. Über Amerika, darüber klagt fast jeder USA-Korrespondent, glauben viele Deutsche, genau Bescheid zu wissen. Die reflexauslösenden Begriffe lauten: Todesstrafe, Waffenbesitz, Unilateralismus, Frömmigkeit, Rassismus, Umweltverschmutzung, Prüderie, Diskriminierung.

Das lässt manche Kollegen ungeduldig werden. Wozu haben sie sich jahrelang kundig gemacht? Doch faktengetränkte Gegenargumente reizen eher zum Widerspruch als der Versuch, aus den Lesern Reisebegleiter zu machen. Ihnen den Weg zu schildern, der einen selbst verwandelte und in der Begegnung mit dem Fremdartigen reicher gemacht hat. Gute Korrespondenten sind schlechte Lehrmeister.  

In den USA, das habe ich erst spät verstanden, steht nie etwas still. In Thinktanks wird über alles diskutiert, kein Gedanke ist zu radikal. Soll man Steuern total abschaffen und alles privatisieren, bis hin zum Militär? Sind Roboter die besseren Soldaten? Wer solche Thesen spontan als verrückt oder naiv abtut, beweist nur seine eigene Fantasiearmut. Das Silicon Valley entstand aus der Hippiebewegung – „we can change the world“. Apple, Google, Facebook und Amazon haben die Welt wirklich verändert.  

Neugier, Abwechslung, Aufbruch, Mobilität, Veränderungswille: Solche Gefühle dominieren und erklären manche Phänomene – zum Beispiel die Trump-Revolution – adäquater als Schlagworte wie Globalisierung, Stadt-Land-Gegensatz, alte weiße Männer. Europäer haben genügend Kriege und Revolutionen erlebt. Ihr Hunger nach Umbrüchen ist gesättigt. In den USA muss immer alles in Bewegung sein.

Deshalb auch musste auf den Nine-Eleven-Schock reagiert werden, und die Reaktion musste im Verhältnis zur Wucht des Schocks stehen. Guantanamo, Afghanistan- und Irakkrieg, Heimatschutzministerium, weltweiter Krieg gegen den Terror, verbunden mit Demokratisierungstheorien: Im Nachhinein wirken solche Maßnahmen undurchdacht, übertrieben, aktionistisch. Doch sie wurden vom Gros der Bevölkerung getragen, Nichtstun war keine Option. 

Für den Korrespondenten hieß die Aufgabe: Wie erkläre ich nachvollziehbar die Politik meines Gastlandes, die von einer Mehrheit seiner Bewohner unterstützt wird, einer Leserschaft in Deutschland, die diese Politik mehrheitlich ablehnt? Solche Bemühungen wurden ein ums andere Mal als Parteinahme für die US-Regierung missverstanden. „Geh‘ doch lieber auf eine Antikriegs-Demonstration“, wurde mir empfohlen, „statt zum ,black-coffee-briefing‘ des neokonservativen ,American Enterprise Institute‘“.

Manchmal nach meiner Zeit in den USA denke ich an den Schriftzug im Foyer der Humboldt-Universität, der die elfte Feuerbachthese von Karl Marx zeigt: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt drauf an, sie zu verändern.“ Für Auslandskorrespondenten gilt: Viele von ihnen wollen das Land, aus dem sie berichten, verändern, es kommt drauf an, es zu verstehen.

GRENZEN DES VERSTÄNDNISSES BLEIBEN

Barack Obama und Christoph von Marschall beim Wahlkampf 2008 in Iowa.
Barack Obama und Christoph von Marschall beim Wahlkampf 2008 in Iowa.

© privat

Christoph von Marschall war USA-Korrespondent von 2005-2013

Was ist der größte Gewinn für einen Auslandskorrespondenten? Der neue Blickwinkel. Und das gleich doppelt. Man lernt das Gastland kennen mit seinen Besonderheiten – und lernt aus der Ferne zugleich das eigene Heimatland besser kennen, von praktischen Alltagsdingen bis zu Politik, Wirtschaft und Kultur. Das Berichten und Erklären, was sich in den USA abspielt und warum, führt zwangsläufig zum Vergleichen mit den aus Deutschland gewohnten Maßstäben.

Täglich wird der Korrespondent mit der Frage konfrontiert, warum die Amerikaner so vieles anders regeln: Schule, Studium, Gesundheitsversorgung, Krankenversicherung, Wahlsystem, Steuern, Finanzaufsicht, Energieversorgung, Klimaschutz, Polizei, Strafverfolgung, Waffengesetze. Was sind die Vor- und Nachteile der einen, was die Vor- und Nachteile der anderen Variante?

„Die spinnen, die Amis!“ Das ist der erste Reflex, unter Donald Trump noch weit häufiger als in meinen Korrespondentenjahren unter George W. Bush und Barack Obama 2005 bis 2013. Auch damals gab es viel Irrtierendes zu berichten: über tödliche Amokläufe in Schulen und Einkaufszentren, Rassismus und Polizeigewalt, die Methoden im „Krieg gegen den Terror“ samt Drohneneinsatz und Gefangenenlager Guantanamo, die Arbeit der Geheimdienste, die Hinnahme menschengemachter Umweltkatastrophen. Und die weltweite Finanzkrise, die ihren Ursprung in einem unverantwortlichen Umgang mit Immobilienkrediten hatte.

Obama löste eine Welle der Euphorie aus

Es gab aber auch viele Fortschritte und einen Zukunftsoptimismus, der in Deutschland weniger verbreitet ist. Ganz voran war da eine Welle der Euphorie, als Barack Obama 2008 zum ersten afroamerikanischen Präsidenten gewählt und 2012 wiedergewählt wurde. Er modernisierte die USA in vielen Bereichen, brachte die allgemeine Krankenversicherung, die formale Gleichberechtigung der sexuellen Minderheiten und eine amerikanische Form der Energiewende auf den Weg. Er schloss Abrüstungsverträge mit Russland, z.B. über die Verschrottung eines Drittels der strategischen Atomwaffen, experimentierte mit der Annäherung an den Iran und an Kuba. Er führte die USA aus der tiefen Finanzkrise heraus und verschärfte die Bankenaufsicht – effektiver, als das in Europa geschah.

Zu Obamas Bilanz gehört freilich auch, dass er den Weg zu Trumps Wahl ebnete. Ganz ähnlich, nur in umgekehrter Dynamik, wie zuvor zwei Amtszeiten unter George W. Bush die Türen des Weißen Hauses für Obama geöffnet hatten. Die US-Wähler neigen zu Pendelausschlägen, die die vorige Ära korrigieren.

Trumps Wähler wollten Kurskorrekturen, die ihr Selbstverständnis betreffen: als Bürger der führenden Weltmacht sowie eines mehrheitlich weißen Landes, das offen für (legale) Einwanderung ist und tolerant gegenüber Minderheiten – solange sie die weiße Dominanz nicht bedrohen. Trump-Wähler haderten mit Obamas Umgang mit illegaler Einwanderung und seinem kooperativen Umgang mit China, das die USA gerade als größte Volkswirtschaft ablöste.

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Bei allem Bemühen, das Gastland USA mit Empathie zu betrachten, um es den Leserinnen und Lesern erklären zu können – Grenzen des Verständnisses bleiben. Zum Beispiel: Wie kann es nach vier Jahren Trump eine offene Frage sein, ob er wiedergewählt wird? Doch das Ausmaß der blinden Flecken wird kleiner, je länger man sich mit den USA beschäftigt. Und auf einmal spinnen nicht mehr nur die Amis.

Warum glauben die Deutschen so sehr an den Staat und misstrauen der freien Wirtschaft? Warum wählen sie ein so teures Modell der Energiewende? Ihr Strompreis liegt drei Mal so hoch wie in den USA. Sind sie so viel besser im Umgang mit Menschen anderer Hautfarbe, sexuellen Minderheiten oder Polizeigewalt? Wieso spielt Deutschland bei entscheidenden Zukunftstechnologien wie der digitalen Kommunikation und der künstlichen Intelligenz keine Spitzenrolle? Und warum tut es sich so schwer mit der traurigen Erkenntnis, dass die Weltpolitik konfrontativer wird und europäische Demokratien ihre Interessen robuster verteidigen müssen? „Wandel durch Annäherung“ funktioniert offenkundig weder gegenüber Putins Russland noch Xis China.

Je nachdem, von wo aus man die Welt betrachtet, drängen sich andere Fragen und andere Antworten auf. Das macht das Korrespondentenleben so bereichernd.

VON GRÜNEN OHREN UND SOZIALEM GEWISSEN

Barbara Junge war von 2013 bis 2016 Korrespondentin des Tagesspiegel in den USA. Sie ist heute Chefredakteurin der taz.
Barbara Junge war von 2013 bis 2016 Korrespondentin des Tagesspiegel in den USA. Sie ist heute Chefredakteurin der taz.

© David Oliveira

Barbara Junge war von 2013-2016 Korrespondentin in den USA

Im Spätsommer 2013, wenige Wochen, nachdem meine Familie, ich und irgendwann dann endlich auch unsere Möbel in Washington DC angekommen waren, nahmen wir uns vor, den amerikanischen Führerschein zu beantragen. Wir luden die Lern-App auf unsere Geräte, besorgten die nötigen Unterlagen samt notarieller Beglaubigung, meldeten uns dazu an und fuhren dann bestens vorbereitet, so dachten wir, ans andere Ende der Stadt zur Führerscheinstelle. Erst ich, dann mein Freund. Was sollte noch schief gehen?

Ich machte den Test, bestand und bekam meinen Führerschein, gültig für zwei Jahre. Mein Freund machte seinen Test einen Monat später, ich begleitete ihn. „Den Schein gibt es für Ausländer nur für sechs Monate", beschied ihn die Frau am Schalter. Wo diese Regelung geschrieben stehe? Wir sollten ja mehrere Jahre im Land umherfahren und berichten. Fehlanzeige. Ob er denn nicht vielleicht andere amerikanische Dokumente hätte, einen Führerschein zum Beispiel? Nein, wir sind ja Ausländer. Entnervt forderten wir, den Vorgesetzten zu sprechen. Vermutlich um uns loszuwerden, trug der Vorgesetzte eine mehrjährige Laufzeit in den Führerschein meines Freundes ein, ein beliebiges Datum, ohne jeden Sinn. Und der Führerschein hat in den USA fast den Stellenwert, eines Personalausweises. Das war der Moment als ich das deutsche Ausbildungssystem lieben lernte.

Die USA haben die besten Universitäten, in Kalifornien bestehen ganze Ortschaften aus Hochbegabten, Bestausgebildeten und Bestverdienenden. Universitäten wie Harvard, das MIT, Columbia an der Ostküste oder Stanford im Westen verkaufen mit verboten hohen Studiengebühren den gesicherten Zugang zur Elite.

Die Kehrseite davon sind Millionen von Menschen in niedrigqualifizierten Jobs ohne jegliche Ausbildung und Millionen mäßig qualifizierter  Menschen in mittleren Anstellungs- und Handwerksberufen. So wie die Schere zwischen den Habenden und den Nicht-Habenden sich in den USA weiter und weiter öffnet, klaffen die Ausbildung der Hochqualifizierten und der Niedrigqualifizierten auseinander.

Welche sozialen Chancen im deutschen Schul- und Ausbildungssystem liegen, bei allen Mängeln, sieht man nach ein paar Jahren des Lebens und Arbeitens in den USA erheblich besser.

Zu meiner Zeit in Washington war Barack Obama Präsident. Er setzte gegen erheblichen Widerstand eine Reform der Krankenversicherung durch. An das deutsche System reicht dieses nicht heran. Von der Dürftigkeit sozialer Absicherungssyteme in den USA weiß man in Deutschland auch ohne in Amerika gelebt zu haben Bescheid.

Aber die niedrigen Standards der Qualifikationen spürt man im Alltag an jeder Ecke. Auf der Führerscheinstelle, bei der Social Security Administration, bei der Bank oder in Verhandlungen mit Umzugsunternehmen oder  Handwerkern, wir hörten in den vier Jahren nicht auf, uns zu wundern und zu ärgern.

Von jenen Deutschen, die schon länger in den USA leben, wird man als Neuling mit einen klugen Spruch empfangen: „Es wäre besser, die Amerikaner hätten grüne Ohren.“ Nur weil sie ähnlich aussehen und ein ähnliches politisches System haben, heißt das nicht, dass wir uns wirklich ähnlich seien. Die Akzeptanz dieser Zustände hat sich uns trotzdem nie ganz erschlossen.

Dieser Text wäre fast ohne die Erwähnung von Donald Trump ausgekommen. Aber wenn man sich immer wieder fragt, was in diesem schönen freien Land gerade passiert, dann spielt die Ausbildungsfrage eine Rolle. Es gibt enorm viele US-Amerikaner, die einen nur sehr eingeschränkten Bildungshorizont haben. Und es gibt enorm viele US-Amerikaner, die genau wissen, welche Vorteile sie von einem solchen Präsidenten haben. Das, was in Deutschland in einem erheblichen Umfang als soziales Gewissen lebt, ist keines, nach dem die US-Gesellschaft funktioniert.

Mein Partner wurde in unserer Zeit in Washington übrigens als Frau geführt, stand so in seinem Führerschein.

Barbara Junge war von 2001 bis 2016 Redakteurin beim Tagesspiegel. Seit 2016 war sie stellvertretende Chefredakteurin der "taz", seit August 2020 bildet sie zusammen mit Ulrike Winkelmann eine weibliche Doppelspitze.

HOMEOFFICE

Juliane Schäuble 2018 vor ihrem ersten Termin im Weißen Haus.
Juliane Schäuble 2018 vor ihrem ersten Termin im Weißen Haus.

© Privat

Juliane Schäuble berichtet seit 2018 aus den USA als Tagesspiegel-Korrespondentin

Als ich im Mai 2018 mit drei Koffern in Amerikas Hauptstadt ankam, mir in kürzester Zeit eine Wohnung suchte, mein Leben hier organisierte und neue Freunde fand, war Donald Trump bereits anderthalb Jahre im Amt. Anderthalb Jahre lang hatte dieser US-Präsident schon aus dem Weißen Haus heraus die Welt auf den Kopf gestellt – und er tut es seitdem jeden Tag, mit Aufregern und Tweets in einer atemberaubenden Schlagzahl. Gute zwei Jahre später ist hier fast nichts mehr, wie es einmal war: nichts in den transatlantischen Beziehungen, nichts im Umgang von Presse und Politik, und seit Corona auch nichts mehr im Leben einer Tagesspiegel-Korrespondentin.

19 Jahre vor meinem Neustart in Washington, DC, lebte ich hier schon mal für fast ein Jahr. Ich war zum Studium und für erste Arbeitserfahrungen hierhergezogen und hatte mich damals auf Anhieb in die Stadt verliebt: in ihre Liberalität und Weltoffenheit, den ewig blauen Himmel, das immer spannende Welthauptstadtleben, den großen Optimismus. Nur ungern bin ich damals nach Deutschland zurückgekehrt, und es ging auch nur, weil mir mein Vater sagte, nach Washington könne ich doch immer zurückkehren. Er hat Recht behalten.

Der Tagesspiegel ist im Ausland nur mit dem „Büro Washington“ fest vertreten, wie es so schön heißt. Ein richtiges Büro hat soviel ich weiß keiner meiner Vorgänger bezogen, allein schon die Zeitverschiebung legt es nahe, dass Korrespondenten hier von Zuhause aus arbeiten. Wer will schon um halb sechs freiwillig seine Wohnung verlassen, wenn es am heimischen Schreibtisch doch so bequem ist?

Dass meine Zeitung mir diese Position anvertraut hat, ist immer noch eines der schönsten Geschenke, das ich je bekommen habe – trotz chronischen Schlafmangels und zunehmender Trump-Erschöpfung. Und trotz dieser vermaledeiten Pandemie, die uns nicht nur den Wahlkampf verdorben (wer reist schon gerne mit Jill Biden rein virtuell nach Arizona?), sondern auch einen Heimatbesuch in diesem verrückten Jahr bislang unmöglich gemacht hat.

Auf einmal ist es da, das Heimweh, ich träume von Krustenbrot, Maultaschen, Berliner Plätzen, den Alpen und griechischen Inseln – und ja, liebe Kollegen: sogar von unseren Konferenzen am Askanischen Platz. Vom Rhythmus der 19- und 20-Uhr-Nachrichten und einer Pause im daueraufgeregten amerikanischen Nachrichtenstrom. Dass ich Schwarzwälderin, Berlinerin, Deutsche und Europäerin bin, und das gerne, ist mir hier wieder sehr bewusst geworden.

Dabei liebe ich dieses Land mit seinen grandiosen Landschaften und den gastfreundlichen Menschen. Wo einen wildfremde Fremde auf Reisen ansprechen und zum Essen/Bier/Wein einladen, weil sie sich freuen, dass man sich so für ihr Land interessiert, dass man dafür sogar aus Deutschland hierhergezogen ist - „Da war ich mal stationiert“, „Ich wollte immer schon mal nach Berlin“ und „Meine Großmutter kam aus Heidelberg“ hört man dauernd.

Aber seit meinem ersten Aufenthalt in Washington (und schon gar seit meiner Austauschzeit als Schülerin in Texas) hat sich dieses Land auch sehr verändert. Manche Probleme sind vielleicht einfach nur größer geworden. Der amerikanische Traum ist für viel zu viele zum Albtraum geworden. Die Kluft zwischen Arm und Reich ist hier so riesig, dass ich mich jeden Tag freue, mit einer deutschen Krankenversicherung keine Angst davor haben zu müssen, finanzielle Risiken einzugehen. Dazu hat die Armut in diesem Land der angeblich unbegrenzten Möglichkeiten viel zu häufig ein schwarzes Gesicht.

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Unvorstellbar sind die Zustände für viele in amerikanischen Städten: Die Menschen in Chicagos Southside oder Teilen von Baltimore leben unter solch erbärmlichen Umständen, wie ich dies von Europa nicht kenne. Obdachlose gehören zu häufig zum Stadtbild: Als sich Washingtons Innenstadt mit Beginn der Pandemie leerte, waren sie auf einmal noch sichtbarer als ohnehin schon. Dass das so hingenommen wird, verstehe ich bis heute nicht – obwohl ich weiß, dass viele private Initiativen das Leid zu lindern versuchen und dass auch in Berlin viele Menschen auf der Straße leben.

Schwer zu ertragen ist außerdem der Grad der Polarisierung in diesem Land. Wenn ich mir bei einer Trump-Rallye zu lange die Verschwörungstheorien sowie den Hass auf politisch Andersdenkende und „die Medien“ angehört habe, brauche ich häufig erstmal Abstand, um mich wieder daran zu erinnern, warum ich dieses Land liebe. Aber auch die andere Seite wird immer maßloser in ihrer Kritik – Zweifel an der eigenen Position und Offenheit für Andersdenkende muss man inzwischen sehr genau suchen.

Wenn ich dann die politischen Debatten in meiner Heimat verfolge wie gerade bei den Demonstrationen vor dem Reichstag, dann beschleicht mich die Sorge, dass wir die gleichen Fehler machen könnten wie die Amerikaner. Es wäre schön, wenn ich hier unrecht hätte.

PAPIERLOS IN LONDON

Screenshot mit Autorenbild aus dem Blog "London Blogging. Ein Berliner auf der Insel", den Korrespondent Markus Hesselmann in seiner Zeit in Großbritannien schrieb.
Ein Screenshot aus dem Blog "London Blogging. Ein Berliner auf der Insel", den Korrespondent Markus Hesselmann in seiner Zeit in Großbritannien schrieb.

© Tsp

Markus Hesselmann berichtete 2007/2008 aus dem Vereinigten Königreich

Jetzt kann ich's ja verraten: Ich hätte das mit der WM 2006 auch ohne London gemacht. Als Chefredakteur Lorenz Maroldt mich irgendwann im Laufe des Jahres 2005 bat, aus der Berlin-Redaktion noch einmal in die Sportredaktion zurückzugehen und dort die Ressortleitung während der Fußball-WM in Deutschland zu übernehmen, versprach er, dass ich danach für den Tagesspiegel nach London gehen könnte.

Er wusste sehr gut, dass mich als England-Fan nicht nur britische Politik, sondern auch Fußball und Pop interessierten. Wir beide fanden, dass für einen London-Korrespondenten diese Themen genauso wichtig sind wie das politische Geschehen. 2007 war die Welt noch in Ordnung. Vergleichsweise. An die Geschichten über 30 Jahre Punk oder über Billy Braggs Besuch (samt Mini-Konzert) im Wandsworth Prison, an die Spielberichte aus der Premier League (mit Robert Huth!) oder die Interviews mit den Wahl-Londonern Jens Lehmann und Michael Ballack erinnere ich mich genauso gern wie an die politischen Beiträge über die Endphase der Ära Blair/Brown, an Labour- und Tory-Parteitage oder Wahlen in Nordirland und Schottland.

Oder eins der großen Dramen von Wembley, als England gegen die bereits für die Fußball-EM 2008 qualifizierten Kroaten spielte und eigentlich alles klar gehen sollte. Gleichzeitig lief irgendein Testspiel der deutschen Elf. Ich schrieb per Fernzugang direkt auf die Sportseite, ein Einspalter war geplant, Aufmacher Deutschland, yawn. Während das englische Verhängnis seinen Lauf nahm, layouteten die Sportkollegen in Berlin die Seite um, mein Randstück rückte beim Schreiben in die Mitte, "EM ohne England", mit Schlusspfiff fertig, nun doppelt so lang.

Für die Politik verfasste ich Kritisches über Gordon Brown und seine auch bei ihm schon populistisch motivierte Abwendung von Europa, hin zum Innerbritischen ("British jobs for British workers"). Aber auch Optimistisches wie den britische Innovationskraft und Kreativität feiernden Essay "Im Insel-Labor", das sich heute liest wie vom anderen Stern.

Ich gebe gern zu, dass ich mir trotz Browns Irrwegen niemals hätte vorstellen können, dass diese Insel - ja nicht nur Mutterland des Fußballs und des Pop, sondern auch der Fairness und des Common Sense - sich derart radikalisiert. Dass die geschätzten Briten für den EU-Austritt votieren und einen Mini-Trump zum Premierminister wählen würden. Einmal hatte ich mich zu der These verstiegen, dass doch ein Referendum ganz gut wäre, weil es Großbritannien durch einen Sieg der Vernunft in der EU legitimiere.

[Markus Hesselmann leitet heute die Leute-Newsletter. Darin berichten wir wöchentlich aus den zwölf Berliner Bezirken. Die Newsletter können Sie hier kostenlos bestellen: leute.tagesspiegel.de]

Auch im Berlin-Teil konnte ich ein paar Stücke unterbringen, denn ich liebe Städtevergleiche. In den ersten beiden Einträgen meines kleinen Lieblingsprojekts "London Blogging. Ein Berliner auf der Insel", ging es darum, was London Berlin voraus hat und umgekehrt, samt Ehrenrettung der BVG, denn die erwies sich als allemal verlässlicher als die Londoner Tube. Auch im Betriebsstörungsbingo waren die Briten damals schon kreativ ("faulty communications equipment"). Ich finde ohnehin, dass der Job des Korrespondenten dem Lokalen ganz ähnlich ist. Auch die Lokalen sollten alle Themen lieben.

Und dann war da noch meine ganz persönliche Digitalisierung with a little help from my British friends, durch die der Wunsch aufkam, nach der Rückkehr zu helfen, den Tagesspiegel digital voranzubringen. Anfangs schleppte ich täglich die schweren britischen Zeitungen vom Kiosk nach Hause. Bis ich merkte, wie gut die Online-Seiten der britischen Medien inzwischen waren. In Deutschland gepflegte Mythen, etwa dass "Online" immer kurz und knallig bedeutet (der eine oder andere denkt das heute noch) zerplatzten angesichts endlos gehaltvoller Guardian-Stücke. Das Büro wurde papierlos, und zwar konsequent. Einen Drucker habe ich gar nicht erst angeschafft.

WANDEL BRAUCHT ZEIT

Frank Jansen, Redakteur, berichtete von 1990 bis 1995 aus Frankfurt (Oder) und Cottbus.
Frank Jansen, Redakteur, berichtete von 1990 bis 1995 aus Frankfurt (Oder) und Cottbus.

© Mike Wolff

Frank Jansen berichtete von 1990-1995 aus Brandenburg

Als alles anfing, im April 1990, kannte ich weder Frankfurt (Oder) noch Cottbus. Die Lausitz befand sich irgendwo hinter dem Horizont. Von Brandenburg kannte ich nur Potsdam. Doch Berichterstattung aus der „Mark Brandenburg“, wie der Tagesspiegel die Region zwische Elbe und Oder zunächst nannte, war dringend nötig. Fünf Monate nach dem Fall der Mauer war das Ende der DDR in Sicht, die Zeitung wollte der Leserschaft nahe bringen, was sich  im Umland tat und vor allem: veränderte. Mein Kollege Michael Mara, ein erfahrener Journalist, und ich, gerade erst mit dem Volontariat fertig, wurden von Geschäftsführung und Redaktion beauftragt, „machen Sie mal Brandenburg“.

Mara ging nach Potsdam, ich nahm mir Frankfurt (Oder) und Cottbus vor. Eine größere Herausforderung für einen jungen Journalisten ist kaum denkbar, als von heute auf morgen in  komplett unbekannte Regionen zu fahren und sofort zu berichten, möglichst täglich. Doch es war leichter als gedacht. Selbst das gemächliche Brandenburg vibrierte. Der Umbau von der SED-Diktatur in Demokratie und Marktwirtschaft war auch in Frankfurt (Oder) und Cottbus ein Abenteuer. Mit welchen Risiken, erfuhr ich gleich im April bei der ersten Tour nach Cottbus.

Am Rathaus prangte das Schild einer Firma westdeutscher Unternehmensberater. Sie waren dabei, den Immobilienbesitz der Stadt in einen geschlossenen Fonds zu übernehmen. Der seit Dezember 1989 amtierende Oberbürgermeister Waldemar Kleinschmidt, ein aufrechter Mann aus der Ost-CDU, hatte ein mulmiges Gefühl. Er fürchtete, die Stadt würde ihren wertvollen Besitz verlieren und bat den West-Berliner Journalisten, den er gerade erst kennengelernt hatte, um Hilfe.

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Bei meinen Recherchen wuchs denn auch der Verdacht, Cottbus könnte sich auf einen schlechten Deal einlassen. Die kritischen Texte im Tagesspiegel gefielen der Firma nicht, doch letztlich behielt die Stadt ihre Immobilien. Im Gegenzug baute das Unternehmen in Cottbus ein Einkaufszentrum. Kleinschmidt und die örtliche Politik hatten rasch lernen müssen, dass Marktwirtschaft neben Segen auch Fluch im Angebot hat.

Ich blieb fünf Jahre in Ostbrandenburg, von einem Korrespondentenbüro in Frankfurt (Oder) aus fuhr ich den Landstrich ab und auch nach Polen. Schon früh war zu spüren, dass am östlichen Rand der Bundesrepublik die Freude über Freiheit und Demokratie umschlug in Skepsis und Existenzängste. Die Treuhandanstalt schaffte es nur mit Mühe, wenigstens Teile der einstigen Planwirtschaft zu privatisieren.

In Eisenhüttenstadt bangte die Belegschaft des EKO-Stahlwerks jahrelang um seine Zukunft. Zu DDR-Zeiten arbeiteten im Kombinat 16.000 Männer und Frauen, heute sind es noch 2500. In Frankfurt (Oder) brach das Halbleiterwerk zusammen, hier waren 8000 Menschen tätig gewesen.  Und die in der Bevölkerung grassierenden Sorgen schlugen um in Aggressivität, vor allem gegen Migranten. Viele Jugendliche drifteten ab in Rechtsextremismus und attackierten Ausländer.

Schon 1990 gab es kaum einen Ort ohne herumlungernde Skinhead-Cliquen. Vier Tage nach der Wiedervereinigung erstachen junge Nazis in Lübbenau den Polen Andrzej Fratczak, im November prügelte in Eberswalde ein rechter Mob den   Angolaner Amadeu Antonio zu Tode.  Ich war schockiert. Und es nahm kein Ende. Als am 8. April 1991 an der deutsch-polnischen Grenze der visafreie Verkehr begann, bewarfen Jungnazis am Übergang in Frankfurt (Oder) einen polnischen Bus mit Steinen. Ein Ende des Hasses ist auch heute nicht in Sicht.

Als ich 1995 nach Berlin zurückkehrte, war meine Bilanz als Korrespondent in Brandenburg ein Mix aus harten Erfahrungen und der Erkenntnis, dass demokratischer Wandel viel Zeit und Geduld erfordert. Und doch möchte ich die fünf Jahre   nicht missen. Intensiver, als ich es in Brandenburg erlebt habe, kann  Journalismus kaum sein.  Frank Jansen

SCHNELL IN KONTAKT

Lissy Kaufmann berichtete von 2011 bis 2019 aus Israel.
Lissy Kaufmann berichtete von 2011 bis 2019 aus Israel.

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Lissy Kaufmann berichtete von 2011 bis 2019 aus Israel

Es war im Sommer 2014, als sich Berlin plötzlich sehr nah anfühlte. Gut – es herrschte Krieg, in Tel Aviv ertönte Raketenalarm und auch die Sommerhitze mit einer Luftfeuchtigkeit von rund 80 Prozent erinnerte nur bedingt an die deutsche Hauptstadt. Doch die Tagesspiegel-Kollegen riefen an und bestellten eine Geschichte über „Berliner im Krieg“. Also suchte ich sie – und fand Birte, die seit mehr als zwei Jahren in Israel lebte. Sie erzählte, wie sie in Steglitz aufwuchs, an der FU studiert, die Mutter langjährige Tagesspiegel-Leserin. Und jetzt, hier in Israel, da sei es doch schon komisch, wenn der Alarm losgehe, während man grade auf dem Klo sitze. Da müsse man sich wohl mal beeilen. War das noch Berliner Lebensgefühl? Oder schon Tel Aviver Unbeschwertheit? Wir wurden jedenfalls Freunde. Und Berlin blieb – auch dank des Drahts zum Tagesspiegel – irgendwie immer ein Teil dieser Stadt.

Dass ich Birte als Protagonistin für meine Geschichte schnell gefunden hatte, lag nicht nur daran, dass es in Israel viele Berliner gibt – sondern auch daran, dass man in Israel ganz problemlos an Kontaktdaten fremder Menschen kommt. Deutsche Datenschutz-Bedenken wirken von dort aus betrachtet – nun ja: mindestens umständlich.

Während meiner Anfangszeit in Israel diskutierte Deutschland noch darüber, ob man sich wohl auf Whatsapp anmelden soll und ob das alles sicher ist. Israelische Kollegen rückten währenddessen auf Nachfrage ohne zu zögern selbst Privatnummern von Politikern raus. Es gibt eine Whatsapp-Gruppe, in der israelische Journalisten Handynummern von Schauspielern, Sängern oder Abgeordneten austauschen. Nach dieser Erfahrung kommt verzweifeltes Unverständnis auf, wenn es bei Anrufen in deutschen Büros heißt: „Ist in der Mittagspause“ oder „schon im Feierabend“. Wie, ich bekomme die private Nummer dieses mir fremden Menschen nicht?

Bewusst geworden sind mir in Israel auch die hohen Qualitätsansprüche in deutschen Redaktionen sowie die Liebe zu Details und genauen Beschreibungen. Nach der Journalistenausbildung hatte ich dies immer als selbstverständlich betrachtet – in Israel aber erst schätzen gelernt. Auch wenn es Nerven gekostet hat. „Wir brauchen die Bilder hochauflösend“, hieß es aus der Redaktion. Was Israelis verstehen, ist: Her mit den Bildern – egal wie. Trotz detaillierter Anleitung verschickten sie oft Mini-Versionen per Whatsapp – selbst wenn sie selbst gar nicht die Bildrechte besaßen. Ich musste vermitteln – um Geduld bitten auf der einen Seite, Druck machen auf der anderen.

Und dann: dieses sehr wahre Klischee der deutschen Genauigkeit. Israelis konnten oft nicht verstehen, warum ich für eine Reportage einen Protagonisten brauche, den ich begleite, dessen Leben ich mir anschaue oder dessen Arbeit – manchmal einen Tag lang. Manchmal länger. Geht das nicht am Telefon? In einem Interview? Wieso musst du dabei sein? Weil genau dass doch Journalismus ist: Dabei sein, wenn etwas passiert, um genau das beschreiben und einordnen zu können. Und wen, so fragten mich Israelis oft, interessiert das denn in Deutschland? Der Streit am See Genezareth zwischen den Säkularen und den Ultraorthodoxen? Das Leben in Tel Aviver Bauhaus-Gebäuden? Der Alltag eines schwulen Elternpaars?

Auch das – so habe ich in Israel gemerkt – ist typisch deutsch: Sich mit Themen ausführlich und gründlich zu beschäftigen, auch wenn sie nicht direkt vor der eigenen Haustüre passieren – um diese verrückte, komplizierte Welt ein kleinwenig verständlicher zu machen. Dass der Tagesspiegel Raum für solche Geschichten bietet: auch das habe ich in meiner Zeit als Korrespondentin sehr zu schätzen gelernt.

GANZ NAH DRAN

Philipp Lichterbeck berichtet seit 2012 aus Brasilien.
Philipp Lichterbeck berichtet seit 2012 aus Brasilien.

© Florian Kopp

Philipp Lichterbeck berichtet seit 2012 aus Brasilien

2012 hatte ich genug. Nach 17 Jahren in Berlin entschloss ich mich, in Brasilien ein neues Kapitel aufzuschlagen. Als Nicht-Berliner war ich nie vollkommen in der Stadt angekommen. Sie wirkte auf mich immer wie ein riesiger fantastischer Abenteuerspielplatz, aber nicht der Ort, den man Heimat nennt. Lateinamerika mit seiner überwältigenden Natur und seinen vitalen und gleichzeitig so zerrissenen Gesellschaften hatte mich hingegen lange fasziniert und angezogen – beruflich wie persönlich.

Zum Tagesspiegel war ich 1999 als Praktikant gestoßen, ich hatte hier ein Volontariat gemacht und im Lauf der Jahre Reportagen aus aller Welt geschrieben: von Nordkorea über Ruanda bis Haiti, Paraguay und Sachsen-Anhalt. Zuletzt arbeitete ich in der Kulturredaktion. Was ich am Tagesspiegel immer mochte, war die Offenheit, Kollegialität und Begeisterungsfähigkeit der Redaktion. Aber nun wollte ich noch einmal los. Chefredakteur Lorenz Maroldt kam eines Abends zu mir in den Spätdienst in der Kulturredaktion und sagte: „Ich finde es super, wenn Leute das Wagnis Ausland eingehen. Mach es!“

Mein Plan war es, als freier Korrespondent über die Fußball-WM und die Olympischen Spiele in Rio zu berichten. Brasilien galt als kommende Supermacht: ein Wirtschaftsgigant mit einer jungen vitalen Bevölkerung und einem riesigen Schatz an Kultur und Natur. Ich kalkulierte, dass dies gute Voraussetzungen für viele interessante Geschichten sein würden. In Rio angekommen, bezog ich zunächst ein Zimmer in einer WG. Der Ausblick war herrlich, er reichte über das alte Zentrum Rios und die enorme Guanabara-Bucht bis zu einer Gebirgskette. Aber wenn ich nach unten blickte, sah ich eine Favela und ich entdeckte Einschusslöcher in der Hauswand. Sie stammten von Querschlägern, die bei Kämpfen zwischen Drogengangs und der Polizei heraufgeschwirrt waren. „Willkommen in Rio“, sagte eine meiner beiden Mitbewohnerinnen. „Wenn es knallt, sehen wir uns in der Küche, die ist sicher.“

Damals fand ich das spannend, aber heute widert es mich an, wie man sich hier an Gewalt und Ungleichheit gewöhnt hat. Die Episode illustriert den großen Widerspruch Amerikas: ein unfassbar schöner und reicher Kontinent, der seit 500 Jahren von Ungerechtigkeit und Gewalt geplagt wird.

Meine erste Reportage für den Tagesspiegel handelte dann von einer Favela, die eine Seilbahn bekam. Das Armenviertel sollte eine touristische Attraktion werden. Während der Recherche wurde ich von Drogengangstern gestoppt, die mir eine Pistole in den Bauch drückten. Sie wollten sichergehen, dass ich kein Polizeispion bin. Ich ahnte damals, dass vieles an der Geschichte vom Aufsteigerland Brasilien nicht stimmte.

Tatsächlich kam es anders: Brasilien stürzte ab. Es gab Massenproteste und Korruptionsskandale. Die Wirtschaft schrumpfte, die Arbeitslosigkeit stieg, der Real verfiel. Eine Präsidentin wurde abgesetzt, ein Ex-Präsident kam ins Gefängnis. Binnen weniger Monate brachen zwei Minendämme, Hunderte Menschen wurden getötet. Das Nationalmuseum in Rio brannte ab. Eine schwarze politische Newcomerin wurde ermordet. Es kam der Crash: die Wahl des Rechtsextremisten Jair Bolsonaro zum Präsidenten. Der hasserfüllte Bolsonaro, unter dem der Amazonaswald in neuer Geschwindigkeit zerstört wird, ist für mich eine Warnung an Europa. Er ist das, was Gesellschaften bekommen, die keinen Kompass mehr haben. Gesellschaften ohne Persönlichkeiten, Parteien oder Bewegungen, die eine positive Vorstellung von Zukunft formulieren können. Dann schlägt die Stunde der Zyniker.

Ich hatte in diesen Jahren alle Hände voll zu tun. Immer wieder wollte die Tagesspiegel-Redaktion verstehen, was hier vor sich geht. Kein Ereignis symbolisierte Brasiliens Absturz dabei besser als das 1:7 gegen Deutschland im WM-Halbfinale. Ich schaute das Spiel im Vereinshaus einer Sambaschule. Schon in der Halbzeit klingelte mein Handy. Der Tagesspiegel-Sportchef war dran. „Schreib auf, was da los ist“, sagte er atemlos. „Das ist ja irre. Wie reagieren die Leute, gibt es Tränen, Ausschreitungen, was bedeutet das alles?“ Im Morgengrauen sandte ich meine Reportage nach Berlin.

Es sind diese Momente, für die man Korrespondent ist: Wenn man das Gefühl hat, ganz nah dran zu sein am Geschehen und den Lesern etwas davon vermitteln kann. In Berlin mache ich nun jedes Jahr Ferien und genieße die hohe Lebensqualität der Stadt: Sicherheit, ein toller öffentlicher Nahverkehr, allgemeiner Wohlstand, viel Freizeit, die Abwesenheit von Elend. Ich wundere mich dann häufig auch über die Deutschen, die immer etwas finden, um zu meckern, etwa wenn der ICE 15 Minuten Verspätung hat. In Brasilien wäre man froh, es gäbe überhaupt Züge. So verschieben sich die Perspektiven.

VERÄNDERTE WAHRNEHMUNG

Andrea Nüsse (2006) war von 2000 bis 2008 Korrespondentin im Mittleren Osten für den Tagesspiegel und das Handelsblatt, erst in Amman, dann in Kairo.
Andrea Nüsse (2006) war von 2000 bis 2008 Korrespondentin im Mittleren Osten für den Tagesspiegel und das Handelsblatt, erst in Amman, dann in Kairo.

© www.marco-urban.de

Andrea Nüsse berichtete von 2000 bis 2008 aus Amman und Kairo

Die Rückkehr nach Deutschland nach knapp acht Jahren Korrespondententätigkeit in der arabischen Welt war ein Kulturschock. Geht man als Korrespondent ins Ausland, ist das wie eine Mini-Auswanderung, wenn auch meist auf Zeit. Aber acht Jahre sind lang. Der Alltag vor Ort wird der Normalzustand. Die Kinder gehen in Amman (Jordanien) und anschließend Kairo (Ägypten) in die Schule, ihre Freunde heißen Hamza und Nezrin, Autofahren kennt man nur noch als einen täglichen Überlebenskampf, in dem man nie zögern darf, um der Millionenmetropole Kairo voranzukommen.  Die Dienstreisen gehen in Krisen und Kriegsgebiete – während der zweiten Intifada durch die Palästinensergebiete oder im Krieg in den Irak.

Als Korrespondentin taucht man natürlich besonders ein in die Gastgesellschaften, die man verstehen will, um dann den Lesern auch ein differenziertes, manchmal überraschendes Bild zu vermitteln. Deutschland ist vier lange Flugstunden entfernt und wird zum Land für die Sommerferien, in denen man meist die Familie besucht.

Daher ist die Rückkehr hart und man durchläuft einen umgekehrten Anpassungs- und Integrationsprozess. Im Straßenbild in Berlin fand ich am auffälligsten, dass plötzlich alle Menschen mit einem Kaffeebecher in der Hand durch die Straßen und U-Bahnen liefen. Coffee to go – im Jahr 2000 gab es das nicht. Da war man eher noch froh, wenn man ein Café kannte, in dem sie guten Kaffee servierten. Und ich erinnere mich auch noch an die Überraschung, dass an jeder Straßenecke plötzlich ein Nagelstudio zu finden war -  da hatte sich in der Körperpflege definitiv etwas verschoben in meiner Abwesenheit.

Gleichzeitig kam mir Berlin, auch mitten in der Innenstadt, wie eine Rentnerstadt vor: So leer, so leise, so ordentlich. Fast unheimlich. Heute würde ich manchmal sagen: so langweilig  - im Kontrast zu den verstopften, bunten, die Nacht hindurch belebten Kairoer Straßen mit Garküchen und Geschrei. Ich habe ägyptische Freunde, die in Deutschland gelebt haben und hier physisch unter der Stille gelitten haben. Die Deutschen sprechen wirklich viel leiser als die Ägypter.

Aber sie sind so unerbittlich streng, daran musste ich mich erst wieder gewöhnen. Fahrradfahren war ja eines der größten Plaisirs, die ich in Deutschland wiedergefunden hatte. Aber der Dämpfer kam zugleich, beim vorsichten Anfahren an der noch roten Ampel, wenn die Fußgänger schon Grün haben. Da war doch wirklich ein Polizist auf einem Motorrad hinter mir hergefahren, hatte diese Verhalten offensichtlich einmal beobachtet, überholte dann, um rechts abzubiegen und ums Karree zu fahren – damit er an der nächsten Ampel wieder hinter mir steht! Um mir dann voller Begeisterung und Befriedigung zu erklären, ich bekäme soundsoviele Punkte in Flensburg. Der Versuch, in typisch ägyptischer Manier mit Scherzen die Anspannung zu lösen und das regelwidrige, aber nicht wirklich kriminelle Verhalten wegzureden, ging völlig in die Hose. Ich kam mir so fremd vor.

Oder wenn ich heute zurückdenke, wie ich in Berlin auf Wohnungssuche gegangen bin! Wie man das eben in arabischen Ländern tut: Man fragt die Bawabs, so eine Art Portier-Hausmeister, die meist mit ihrer Familie im Eingang oder hinter dem Fahrstuhl wohnen, ob in dem Haus eine Wohnung frei ist. In Berlin-Schöneberg bin ich auch so rumgelaufen, habe Leute, die vor ihrem Wohnhaus beschäftigt waren, gefragt. Ich fand das damals völlig normal -  und bin auch fündig geworden!

In den Medien war der Kulturschock ein anderer: Wie wenig Interesse und Platz für Außenpolitik da ist. Wie weit weg der Rest der Welt doch ist. In der Redaktion dann die Verwunderung, dass so viel telefonisch recherchiert werden kann, Interviews geführt werden, still und effizient. In der arabischen Welt geht ohne den persönlichen Kontakt gar nichts. Man muss durch die halbe Stadt fahren, sich treffen, über Gott, die Familie und die Welt plaudern und dann kommt man zum Thema. Alles andere wäre unhöflich und geht gar nicht. Außerdem muss man gerade als ausländische Korrespondentin oft erst mühsam Vertrauen aufbauen, und das geht nur von Angesicht zu Angesicht.  

Das Interessante ist, dass die Reintegration in die eigene Gesellschaft nicht unbedingt leichter ist, als sich in einer fremden Gastgesellschaft zurechtzufinden. Denn da geht man davon aus, dass man eigentlich alle Codes kennt. Aber man selbst und sein Blick haben sich verändert.

WARUM SIESTA, SANGRIA UND STIERKÄMPFE AUF DEM RÜCKZUG SIND

Ralph Schulze berichtet für den Tagesspiegel seit 1998 aus Madrid.
Ralph Schulze berichtet für den Tagesspiegel seit 1998 aus Madrid.

© Kai-Uwe Heinrich

Ralph Schulze berichtet seit 1998 aus Spanien und Nordafrika für den Tagesspiegel

Neulich fragte der Kollege einer deutschen TV-Redaktion, ob ich dem Fernsehpublikum erläutern könne, warum die Siesta und die Stierkämpfe in Spanien so beliebt sind. Wie bitte? Als ich erklärte, dass im 21. Jahrhundert weder das eine, noch das andere der Wirklichkeit entspreche und in die Schublade der Klischees gehöre, war das Gespräch schnell beendet.

Natürlich hatte die Siesta in Spanien, wo im Sommer die Schattentemperaturen auf 40 Grad hochkochen, in früheren Zeiten, als es noch weniger Klimaanlagen gab, ihren Sinn. Doch das hat sich inzwischen geändert. Übrigens auch bei diesem Korrespondenten. Umfragen belegen, dass die meisten Menschen in Spanien heutzutage keine Siesta mehr schlafen. Und wenn, dann eher nur am Wochenende.

Der faule Spanier, der am liebsten in der Hängematte oder auf dem Sofa liegt – dieses Bild hatte wohl auch Angela Merkel im Kopf, als sie 2011 die Südeuropäer mit der Aufforderung entzürnte, mehr zu arbeiten und weniger Urlaub zu machen. Dabei war es damals schon so, dass spanische Angestellte weniger Urlaubsanspruch haben und mehr Stunden arbeiten als die Deutschen. Und das oftmals mit 50 Prozent weniger Lohn.

Ja, die lieben Vorurteile. Von denen ist man, wenn man als Korrespondent neu ins Land kommt, natürlich auch nicht gänzlich befreit. In dieses Kapitel gehören ebenfalls feststehende Meinungen über Toreros und Stierkämpfe, die vielerorts in Deutschland immer noch als ein Markenzeichen für spanische Kultur gesehen werden. Dabei ist auch dies heute eher Vergangenheit: Die Zahl der Stierspektakel hat sich in den letzten zehn Jahren halbiert; das Interesse und die Zuschauerzahl gehen kontinuierlich zurück. Immer mehr Arenen müssen deswegen schließen. Also von wegen „Land der Stierkämpfer“.

Mein letzter Stierkampfbesuch liegt schon ein paar Jahre zurück. Damals drehte sich mir bei dem blutigen Spektakel fast der Magen um. Das war in der südspanischen Stadt Sevilla, die gerne wegen ihrer Traditionstreue als die spanischste aller Städte bezeichnet wird. Spaniens alter König im Ruhestand, Juan Carlos I., saß am selben Tag auf der Ehrentribüne. Er klatschte, wie die meisten der überwiegend älteren Torero-Fans, den Stiertötern begeistert zu.

Aber was ist schon typisch spanisch. Spanien ist heute ein modernes, tolerantes und weltliches Königreich, in dem die Mehrheit der Bevölkerung der einst so einflussreichen Kirche den Rücken zukehrt. Zudem ein multikultureller Staat, in dem nach Unabhängigkeit strebende Regionen wie Katalonien oder das Baskenland ganz eigene Vorstellungen von der Nation haben.

Die Lektion, die man lernt, lässt sich so zusammenfassen: „Das Spanien“ gibt es nicht. Sondern es handelt sich um eine Nation der Nationen – eine Realität, die auch viele Spanier nicht wahrhaben wollen.

Der Liste der Klischees, über die man als Korrespondent regelmäßig stolpert, lässt sich noch länger fortsetzen: Der Flamenco zum Beispiel, den angeblich jede Spanierin tanzt, aber in Wirklichkeit nur von wenigen Frauen beherrscht wird. Oder die Paella, die viele Touristen, die ihr Lieblingsurlaubsland besuchen, für das Nationalgericht halten. Dabei hat die Paella nur in der Reisregion Valencia eine lange Tradition. Auch die Sangria kommt eher bei Urlaubern auf den Tisch – die Spanier bevorzugen Wein und Bier.

Ja, und dann natürlich das beliebte Bild vom „Macholand“, in dem sexuelle und gewalttätige Übergriffe gegenüber Frauen angeblich deutlich schlimmer als im Rest Europas sind. Auch von dieser Behauptung bleibt nichts mehr übrig, wenn man die Fakten bemüht: Denn nach den internationalen Statistiken sieht es im nördlichen Ländern in Sachen Männergewalt nicht besser oder vielfach sogar noch schwärzer aus.

Nur ein Beispiel: In Spanien (47 Millionen Einwohner) wurden in 2018 laut spanischer Regierung insgesamt 47 Frauen von ihrem Partner umgebracht. In Deutschland (83 Millionen Einwohner) gab es nach Angaben des Bundeskriminalamtes im selben Zeitraum 122 weibliche Opfer – im Verhältnis zur Bevölkerung gesehen also deutlich mehr. Ist jetzt Deutschland Europas neues Macholand?

HISTORISCHES GEDÄCHTNIS

Sandra Weiss unterwegs in Lateinamerika. Sie berichtet seit 2003.
Sandra Weiss unterwegs in Lateinamerika. Sie berichtet seit 2003.

© Privat

Sandra Weiss berichtet seit 2003 aus Lateinamerika

Meine erste Reportage, die laut online-Archiv im Tagesspiegel veröffentlicht wurde, ist 17 Jahre alt. „Der Wind schlägt Wunden“ heisst sie und berichtet von einem seltsamen Sprühregen, der die Bauern im Norden Ecuadors krank werden lässt. Heute wissen wir: Das Ganze war Glyphosat, das die kolumbianische Luftwaffe im Zuge des „Plan Colombia“ von den USA geliefert bekam, um damit die Kokaplantagen der Farc-Guerilla im Süden Kolumbiens nahe der Staatsgrenze zu besprühen

Es war ein Freiland-Test für das Glyphosat, bevor es zusammen mit genveränderter, Glyphosat-resistenter Soja die Landwirtschaft in Südamerika revolutionieren würde. Koka war der Vorläufer von Kokain, die Farc galten als Narco-Terroristen, und der Süden Kolumbiens war eine gesetzlose Drogenhochburg, in die sich kein Ortsfremder wagte. Doch der Wind trug die Chemikalie über die Grenze, und so wurde das Ganze bekannt.

Der Text ist ein gutes Beispiel dafür, weshalb es wichtig ist, Korrespondenten zu haben, die reisen, Augen und Ohren offenhalten und sich vor Ort die Dinge genau ansehen – und Redaktionen, die bereit sind, dafür zu zahlen. Denn das ist nicht nur eine Investition in eine gute Geschichte, sondern in langfristiges know-how und in ein Kontakt-Netzwerk und damit in qualitativ besseren Journalismus.

Auf die komischen Vorgänge in der abgelegenen Dschungelregion machte mich damals ein Ökonom aufmerksam, der später eine Schlüsselrolle in Ecuadors Bürgerrevolution spielen und es bis zum Vorsitzenden der Verfassungsändernden Versammlung bringen sollte – Alberto Acosta. Von seinen Einschätzungen und Einblicken profitiere ich bis heute.

Dann gibt es ein weiteres Merkmal, das gute Korrespondentenberichte meiner Meinung nach auszeichnet: Historisches Gedächtnis, um Dinge einzuordnen. Gesellschaftliche Entwicklungen verlaufen nicht linear, sondern in Kapriolen, aber nie im luftleeren Raum. Nur im Zusammenhang kann man falsche Argumentationen und politische Opportunisten entlarven, statt kurzlebigen Trends aufzusitzen. Nur wer die Dinge im Kontext sieht, Widersprüchliches nicht ausblendet, alle Seiten anhört, nachfragt, Experten zu Rate zieht, Protagonisten und Lokalitäten kennt, kann der Verlockung widerstehen, Narrativen aufzusitzen oder in die wortgewaltige Kiste der Klischees und ideologischen Welterklärungen zu greifen.

Die sind schneller zur Hand, billiger, wenn sie sich aus Sekundärquellen und dem Internet speisen, und passen oft besser ins polarisierende Storytelling, das sich durch die sozialen Netzwerke und den Clickbait-Journalismus US-amerikanischer Machart ausgebreitet hat. Doch ich bin überzeugt, dass derjenige, der einen journalistischen Beitrag liest, sieht oder hört, Recht auf Mehrwert hat – den es freilich nicht gratis geben kann.

Der Rest ist journalistisches Fast Food: Es ist billig oder gratis, fordert keinem eine Anstrengung ab, macht aber Hersteller und Konsumenten auf Dauer gleichermaßen krank. Ein Tiktok-Tanzvideo kann jeder ohne großen Aufwand daheim drehen. Recherchieren, wie sich die regierende Mafia in Venezuela bereichert, nicht. Das ist mühsam, gefährlich und langwieriger, als etwa einen vernichtenden Kommentar über den Tropen-Sozialismus zu schreiben.

Vieles ist heute in der Tat besser und einfacher geworden im Korrespondentenalltag. Nie waren so viele Quellen so offen zugänglich. Die multimedialen Formate, mit denen ich gerne experimentiere, erlauben ganz andere Erzähl- und Darstellungsformen. Durch die Digitalisierung ist die Übertragung einfacher, schneller und qualitativ viel besser geworden, vor allem bei Fotos und Videos. Arbeiten in internationalen Teams aus verschiedenen Redaktionen erleichtert die Recherche, senkt die Kosten und erhöht die Reichweite. In Zeiten, in denen viele Probleme global sind und Unternehmen weltweit operieren, geht es nicht mehr ohne diesen kollaborativen Journalismus.

Den Lesern auch einmal neue Ideen präsentieren statt nur Probleme kennt man als „lösungsorientierten Journalismus“, einen neuen Ansatz, den ich etwa bei meiner Geschichte über die syntropische Landwirtschaft in Brasilien ausprobiert habe (hier multimedial: amazonian-future.de/syntropie/). Auch da zeigte sich übrigens: Das Klischee vom bösen Großgrundbesitzer und Regenwaldabholzer muss nuanciert werden, in Wahrheit sind die Dinge komplizierter. Es gibt viele Wege, wie der Auslandsjournalismus auf der Höhe der Zeit und spannend für den Leser bleibt, ohne darüber das Handwerk zu vergessen.

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