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Eingang des Clubs Open Ground in Wuppertal. 

© Zenker Brothers

Cooler als das Berghain: Auf diesen Club in Wuppertal ist die Berliner Szene neidisch

Ein Labyrinth aus Stahlbeton in sieben Meter Tiefe – und die ganze Welt will hier tanzen. Eine Nacht in dem Club, über den gerade alle sprechen.

Von Felix Denk

Stand:

Gegen 20.30 Uhr herrscht Festivalstimmung im Flemings. Das Budgethotel in pragmatischen Beigetönen hat Self-Check-In-Terminals statt einer Rezeption, ein Einzelzimmer kostet ab 35 Euro, die Sofas in der Lobby sind bevölkert von Grüppchen in Adidas-Hosen und Hoodies. Sprachgewirr aus Englisch, Niederländisch und Französisch. Noch anderthalb Stunden, dann öffnet das Open Ground, der Club, über den gerade alle sprechen, die sich für Musik interessieren. Er ist – in Wuppertal.

Warum die alle von weit her angereist kommen? Und dann noch in eine Stadt, die bis vor kurzem clubkulturelles Niemandsland war? Dazu muss man sich einmal in die Schlange einreihen, die sich zwei Minuten vom Hotel und frei von Reinkomm-Paranoia bildet, sich von der freundlichen (!) Türsteherin in die Hauspolitik einweisen lassen: „Wir dulden keine rassistischen und sexistischen Äußerungen, keinen offenen Konsum. Wenn was ist, könnt ihr zu mir kommen. Viel Spaß!“

Runter in den Bunker. Treppen zum Club Open Ground in Wuppertal.

© Open Ground

Dann Treppe runter, 20 Euro, Handy-Kamera abkleben und hinter dem nach dem großzügigen, minimal ausgeleuchteten Barbereich zweimal um die Ecke. Dann betritt man das Klangwunder.

Ein akustisches Paradies.

DJ Daniel Wang über das Open Ground

Auf dem großen Dancefloor, dem Freifeld, schieben einen die mächtigen Subbässe von Mala aus London durch den Raum, die Kickdrum massiert den Rücken, den zarten Hall auf der Snare meint man über den Köpfen der Tanzenden schweben zu sehen, irgendwo zwischen den LED-Lichtern, die dort ebenfalls flackern. Der Raumklang ist körperliches Erlebnis. Man hört nicht Musik, man badet in ihr: warm und weich, ohne jegliches Dröhnen, Scheppern und Kreischen. Unheimlich präsent, aber gar nicht übermäßig laut.

Ein Erlebnis, das ansteckt. Bei jedem Backspin von Mala jubelt die Menge wie bei einem Tor beim Fußball, bei einem Dubstück klingt es, als stünde der Sänger neben einem. Den Text kennen eh alle im Publikum. In den kratertiefen Lücken zwischen den Beats ist es plötzlich merkwürdig still, kein Brummen dröhnt aus den Boxentürmen nach, man hört tatsächlich die Leute reden.

Mit der Spitzenanlage von Funktion One, die hier eingebaut ist, könnte man locker ein Festival beschallen. Sie hat ein imposantes Frequenzspektrum, das selbst tiefste Subbass-Regionen präzise abbilden kann. Vor allem aber ist der Raum um sie herum komplett mit eigens entworfenen Absorbern ausgekleidet, die die Kraft der Frequenzen auffangen. Ohne sie würde man nur wüstes Scheppern hören.

Wolfgang Tillmans will mit ein paar Models vorbeikommen

Kurz nach der Eröffnung vor anderthalb Jahren hat der meinungsfreudige DJ Daniel Wang, früher New York, heute Berlin, den Raum als „acoustic paradise“ beschrieben. Der Londoner Produzent Floating Points fand wenig später, es sei der aktuell am besten klingende Club in Europa. Man könnte die Liste der Lobpreisungen lange weiterführen.

Fünf Stunden vorher sitzt Markus Riedel auf der Dachterrasse des Café 23, einem luftigen Pavillon, von dem man auf den Club-Eingang blicken kann. Mit seinem karierten Hemd, Zipjacke mit Plattenladen-Logo und verbindlichem Tonfall ist der Anfang 60-Jährige die Steigerungsform von unaufgeregt.

Unaufgeregt: Club-Macher Markus Riedel.

© Stadtrevue / Thomas Schäkel

Kurze Besprechung im Team. Wolfgang Tillmans werde am Abend mit ein paar Models vorbeikommen. Der Künstler hat demnächst eine Ausstellung in seiner Heimatstadt Remscheid, die nur eine Autobahnausfahrt weiter ist. Tom Tykwer fragt, ob er seinen 60. Geburtstag im Club feiern könne. Der Regisseur ist in Wuppertal geboren. Aus England hat sich für den Abend eine größere Gruppe angemeldet, die DJ Batu hinterherreist, der heute das letzte Set spielt. „Könnte voll werden im Backstage“, sagt Riedel dem Team.

Sein Lebensplan war es sicher nicht, mit über 60 einen Club zu eröffnen. „Ich hab noch nie so viel gelernt und noch nie so gearbeitet“. Seit vier Jahren hatte er keinen Urlaub mehr. Aber es tat sich eben diese einzigartige Gelegenheit auf. „Da kamen gleich mehrere Zufälle zusammen“, sagt Riedel.

Die Stadt suchte eine Idee für den Bunker

Los ging es damit, dass die Stadt den Platz vor dem Bahnhof neu gestalten wollte. Die Bundesstraße wurde untertunnelt, darüber Raum für Gastronomie und Läden geplant. Und man suchte eine Lösung für den alten Bunker unter dem ehemaligen Busbahnhof. Doch was tun mit so einem Labyrinth aus Stahlbeton in sieben Meter Tiefe? Die Stadt dachte an etwas, das die meisten anderen Gemeinden, wenn überhaupt, dann am äußersten Rand des örtlichen Industriegebiets genehmigen: einen Club. „Das war tatsächlich die erste Idee“, staunt Riedel.

Ganz tief rein: das Open Ground befindet sich unter einem ehemaligen Busbahnhof.

© Open Ground

Dann fragte man bei lokalen Unternehmen, ob jemand Interesse habe, in die unterirdische Immobilie mit bis zu 1,80 Meter dicken Decken aus Stahlbeton zu investieren. Unter anderem wurde man bei Thomas Riedel vorstellig, einem Hidden Champion der Kommunikationstechnik. Wenn Taylor Swift auf der Bühne steht, die Schiedsrichter in der Bundesliga oder die Formel-1-Piloten ihren Teams kommunizieren, verwenden sie seine Technik. Aber ein Club? Davon hatte er keine rechte Ahnung. Aber sein Bruder Markus.

Der war in den 1980er Jahren nach Berlin gezogen, hatte seinen Job als Krankengymnast geschmissen und im Kumpelnest 3000 zu arbeiten begonnen, der plüschigen Bar in einem ehemaligen Bordell, die sein Schulfreund Mark Ernestus gegründet hatte. Bald darauf eröffnete der den Plattenladen Hardwax, ohne den Techno in Berlin kaum vorstellbar ist. Markus Riedel war der Mann, der sich um den Laden kümmerte. Als Mark Ernestus zu produzieren begann und die Platten, die er mit Moritz von Oswald als Basic Channel veröffentlichte, zum Allerheiligsten des Techno wurden, managte Riedel das Label. Später zog er zurück nach Wuppertal.

„Ich hab sofort Mark gefragt wegen des Projekts“, sagt Riedel. „Wir dachten, wir sind alt, es ist Wuppertal – keine Chance.“ Andererseits: die Möglichkeit, einmal umzusetzen, was klanglich möglich ist, das war dann doch zu aufregend, um es zu lassen. Zumal sein Bruder Thomas Riedel finanziell voll hinter dem Projekt stand.

Und so sägten sie bald hundert tonnenschwere Betonquader aus der Erde, entfernten Wände, entdeckten beim Bohren einen weiteren Raum, der gar nicht auf den Bauplänen verzeichnet war, ein ehemaliger Wasserspeicher, heute der zweite Dancefloor. Sie fertigten für die Absorber extra Stahlrahmen, da man sie aus thermischen Gründen nicht direkt an die Wand schrauben konnte.

Meterdicker Beton. Baustelle vor dem Open Ground.

© Open Ground

Die zwei Millionen, die sie mal geplant hatten, haben sie bald weit überschritten. Sehr viel Geld in einer Branche, die gerade bedenklich kriselt. In Berlin ächzt die Szene unter der allgemeinen Teuerung, in England schließen aktuell zehn Clubs pro Monat. Die Jungen gehen seltener aus und trinken weniger. Wie soll es dann in der sechzehntgrößten Stadt Deutschlands mit 360.000 Einwohnern funktionieren?

Tat es erstmal auch nicht. Nach dem Eröffnungswochenende im November 2023 waren viele begeistert, aber auch einige irritiert. Auf dem großen Floor lief Reggae, kein Techno. Die lokale Szene fremdelte mit dem neuen kulturellen Leuchtturm. Jeder, der schon mal auf zwei Partys und einer Hochzeit aufgelegt hatte, wollte bei ihnen spielen, erzählt Riedel. Im Frühjahr wurde es dann schon mal leer. Als der DJ Lag aus Südafrika eingeflogen kam, der schon für Beyoncé produziert hat, waren keine 200 Leute da.

Gerade die Engländer haben kein Problem, sich ins Flugzeug zu setzen, wenn ihr Lieblings-DJ spielt.

Markus Riedel, Clubchef, über sein internationales Publikum

Es musste etwas passieren. Runter mit dem Eintrittspreis wollten sie nicht, hätte man nur noch einen der beiden Räume bespielt, würde man auch nur noch die Hälfte fürs Geld bekommen, also strichen sie den Freitag und legten alle Kraft auf den Samstag. Zusätzlich öffneten sie donnerstags, da geht es um 20 Uhr los, der Eintritt ist frei und es spielen lokale DJs.

Das brachte die Wende. Mittlerweile seien sie viel besser vernetzt in der Region. Zu ihnen kommen drei Gruppen, sagt Markus Riedel. Die Locals aus der Stadt, dann Leute aus dem weiteren Umkreis: Köln ist 40 Minuten, Düsseldorf 30 Minuten entfernt. Dortmund und Essen ebenfalls nah. Und schließlich seien Brüssel, Amsterdam, Paris, Frankfurt und Berlin auch nicht weit. „Etwa ein Drittel kommen angereist. Gerade die Engländer haben kein Problem, sich ins Flugzeug zu setzen, wenn ihr Lieblings-DJ spielt.“

Teamleistung. Die Mitarbeitenden des Clubs.

© Open Ground

„Wo kommst du her?“, ist dann auch Smalltalk-Thema an der Bar, wo es vier Sorten Bier, aber keine Brauereiwerbung gibt und man sich dank der Absorber unterhalten kann, ohne schreien zu müssen. Noch so ein Klangwunder. Ein Kölner berichtet von Whatsapp-Gruppen mit Fahrgemeinschaften, der letzte Zug verlässt gegen 1 Uhr Wuppertal, sind ja nur zwei Minuten zum Bahngleis. Ein Berliner erzählt beim Negroni, dass die Atmosphäre hier viel freundlicher sei als in den Clubs, in denen er sonst feiert.

Geht schneller als die Berghain-Schlange.

Arthur Rieger, künstlerische Leitung im Open Ground, über die vierstündige Anreise aus Berlin

Ungewollter Selbsttest durch den Reporter. So gegen 2.30 Uhr, Primetime auf dem Dancefloor, die Stimmung kurz vor dem Siedepunkt. Beim Versuch, das Handy zu zücken, um etwas zu notieren, rutscht die EC-Karte aus der Tasche, die exakt so dunkelgrau ist wie der gegossene, auffallend weiche Asphaltboden. Beim ungelenken Versuch, mit der Handytaschenlampe den Boden abzusuchen, hört eine höhere einstellige Zahl an Menschen auf zu hüpfen und hilft bei der Aktion.

Aus Berlin ist man in vier Stunden hier. „Geht schneller als die Berghain-Schlange“, sagt Artur Rieger an der Bar. Er muss es wissen, er legt dort oft auf und pendelt zwischen Berlin und Wuppertal. Im Open Ground hat er die künstlerische Leitung. Hier spielen einige, die sonst deutlich größere Orte füllen. Manche Produzenten wollen ihre eigenen Stücke am nächsten Morgen nochmal auf der Anlage hören, erzählt er. Andere spielen besondere Sets, weil die Musik in dem Raum viel nuancierter und detailreicher klingt. Andersrum verzeiht sie auch nichts: Produktionsfehler hört man sofort.

Sie buchen auch öfters Bands, versuchen, das Programm weit zu fassen, auch ein Abend muss nicht unbedingt ein Thema haben. Da dürfen viele Sachen stattfinden. Man spürt die Neugier und Aufbruchstimmung: Was ein Club noch sein kann, außer einem Ort zum Tanzen? Ein Ort, wo man Platten hört. Der auch mal tagsüber aufhat, vor allem aber: einer, der Identität schafft.

„Ich würde mir wünschen, dass hier langfristig was entsteht“, sagt Rieger. Dass man hier coole Musik erleben könne, für die man sonst nach Berlin müsste. Und dass die jungen Leute vielleicht erst gar nicht wegziehen und selbst Musik produzieren – genau für dieses akustische Paradies.

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