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Wie sieht jüdisches Leben in Berlin aus – mit, trotz und abseits von Antisemitismus?

© Montage: TSP | Fotos: privat, Martha Lochhead, Miriam Alster, Arndt Beck

„Ein Gefühl von Zuhause war für mich immer sehr schwierig“: Vier Jüdinnen und Juden erzählen von ihrem Leben in Berlin

Wie sieht jüdisches Leben in Berlin aus? Vier Menschen berichten von ihren Erfahrungen in der Hauptstadt des Landes, das ihren Vorfahren das Unvorstellbare angetan hat.

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Zwischen Polizeischutz, Stolpersteinen, Aufarbeitung und regelmäßigen tätlichen Angriffen: Jüdisches Leben in Berlin ist komplex. Die Gemeinde ist mit rund 11.000 Jüdinnen und Juden verhältnismäßig klein, eine offene Ausübung der Religion „etwas Besonderes“, wie es ein Mitglied ausdrückt. Das heißt, sie fällt auf.

Was macht das mit den Menschen? Ist so etwas wie Normalität überhaupt möglich? Vier Jüdinnen und Juden erzählen hier von ihren Erfahrungen in der Hauptstadt des Landes, das ihren Vorfahren Unvorstellbares angetan hat. Von Dingen, die sie ärgern, die sie verletzen, die sie freuen – und die sie sich wünschen.


Tim Motz, 35, klassischer Musiker, lebt in Neukölln:

„Ich komme aus London und habe längere Zeit in Wien gelebt. Jetzt bin ich in Berlin. Ich wollte diese Stadt besser kennenlernen. Meine Großeltern der einen Seite kommen aus Berlin, die anderen aus Wien. Außerdem habe ich Deutsch studiert, ich spreche also die Sprache.

Ich bin ein relativ praktizierender Jude, ernähre mich teilweise koscher. Als ich nach Berlin kam, habe ich mich kurzfristig dazu entschlossen, hier eine Kippa zu tragen. Das habe ich in London nie getan. Diese Entscheidung hat nicht direkt etwas mit der Stadt zu tun. Ich glaube, dass ein solcher Bruch leichter ist, wenn man an einen neuen Ort kommt, wo niemand einen kennt.

Antisemitische Erfahrungen machte der vor Kurzem nach Berlin gezogene Tim Motz vor allem in der Bahn.
Antisemitische Erfahrungen machte der vor Kurzem nach Berlin gezogene Tim Motz vor allem in der Bahn.

© Martha Lochhead

In meinem Berliner Alltag denke ich nicht darüber nach, welche Erfahrungen ich konkret als Jude mache. Ich tue hier genau dieselben Dinge mit Kippa, die ich auch ohne tun würde. Jüdisch zu sein, ist ein zentraler Teil meiner Identität, aber nicht der einzige. Ich bin auch durch und durch britisch. Und österreichischer Staatsbürger. Obwohl ich in Neukölln lebe, habe ich Antisemitismus bislang vor allem in der Bahn erfahren.

Einmal waren in der S-Bahn ein paar Jugendliche, die dort rauchten und tranken, sich also ziemlich asozial verhielten. Als ich mich in ihre Nähe setzte, fingen sie an, Dinge wie ‚Yahud‘ und ‚Falastin‘ zu rufen, arabische Begriffe für Juden und Palästina, die gegenüber Jüdinnen und Juden oft abschätzig gebraucht werden. Das war Antisemitismus.

 Jüdisch zu sein, ist ein zentraler Teil meiner Identität, aber nicht der einzige. Ich bin auch durch und durch britisch. Und österreichischer Staatsbürger. 

Tim Motz, 35

Daraufhin entwickelte sich eine interessante Dynamik. Eine Dame, die mir gegenüber saß, brüllte sie irgendwann an, dass sie leiser sein sollten. Das war absolut gerechtfertigt. Trotzdem fühlte ich mich dabei unwohl. Ich war ihr einerseits dankbar, schließlich hatte sie sich gegen dieses Verhalten ausgesprochen. In einem Moment, in dem ich mich als öffentlich erkennbarer Jude nicht sicher genug gefühlt hatte, um dasselbe zu tun. Trotzdem dachte ich später: Sie hat das nicht getan, weil die Jugendlichen sich antisemitisch verhielten. Ihr ging es um die People of Color, die sich daneben benommen hatten. Ihr Ton war ihnen gegenüber abwertend, das hat man deutlich gemerkt.

In Berlin fällt es mir sehr leicht, in die jüdische Community einzutauchen. Ich war in einigen Synagogen, alle haben mich sehr herzlich aufgenommen. Komisch finde ich das viele Sicherheitspersonal vor Synagogen und jüdischen Gemeindezentren. Das ist im Vereinigten Königreich anders. Ich verstehe, warum es gebraucht wird, gerade nach den Angriffen von Halle. Aber ich weiß nicht, ob ich mich dadurch sicherer fühle. Es gibt mir irgendwie das Gefühl, eine Zielscheibe zu sein.

Wenn man sich durch Berlin bewegt, wird man sehr oft an den Holocaust erinnert. Es gibt Stolpersteine, es gibt die Holocaust-Gedenkstätte. Aber ich glaube nicht, dass diese Assoziationen für andere Menschen wirklich noch gegenwärtig sind. Ich denke, die Leute sehen die Stolpersteine oder das Holocaust-Mahnmal und es fühlt sich für sie wie etwas an, das mittlerweile Geschichte ist, vorbei. Für mich hingegen ist es sehr präsent und definitiv ein Teil meiner Gegenwart hier.“


Rebecca de Vries, 38, Projektkoordinatorin bei HIAS, lebte in Neukölln:

„Wenn man als Jüdin in Berlin jüdische Dinge machen möchte, gibt es viele Möglichkeiten – zumindest für eine deutsche Stadt. Es gibt unterschiedliche Synagogen, die verschiedene Strömungen vertreten, es gibt kulturelle Angebote, Events zu jüdischen Feiertagen. Doch der Umgang mit jüdischem Leben ist auch in Berlin sehr deutsch. Er ist so, wie man es angesichts der deutschen Geschichte erwartet. Jüdisches Leben wird immer sehr behütet und gefeiert, wenn es stattfindet. Aber gleichzeitig gibt es viele Berührungsängste, Vorurteile und Schuldgefühle, die einen entspannten, unaufgeregten Umgang unmöglich machen.

Rebecca de Vries vermisste lange das Gefühl, irgendwo zuhause zu sein.
Rebecca de Vries vermisste lange das Gefühl, irgendwo zuhause zu sein.

© Miriam Alster

Und auch sonst ist es schwer, die vorhandenen Orte jüdischen Lebens als geschützte Räume zu erleben. Das liegt zum einen natürlich an der Sicherheitslage. Wenn auf Synagogen geschossen wird, wenn man jedes Mal, wenn man zum Gebet geht, erstmal von der Polizei befragt wird und durch einen Metalldetektor laufen muss, dann ist ein positives Gefühl kaum möglich.

Sich in diesem Umfeld zu bewegen und zu versuchen, Frieden zu schließen mit dem, was meiner Familie hier passierte, ist sehr anstrengend.

Rebecca de Vries, 38

Vor einiger Zeit habe ich mal eine Fortbildung abbrechen müssen, weil die Atmosphäre innerhalb der Gruppe zu unangenehm war. Ich hatte mich dazu entschieden, gleich zu Beginn offen zu sagen, dass ich Jüdin bin. Daraufhin musste ich mir von allen Teilnehmenden apologetische Reden anhören. Dass ihr Großvater zwar bei der SS war, aber im Herzen trotzdem Widerstandskämpfer, und ja auch nie auf irgendwen geschossen hätte. Lauter solcher Geschichten, die einfach historisch völlig daneben sind und ohne jeden Realitätsbezug. Es geht dann nur darum, sich mit der eigenen Familiengeschichte wohlzufühlen. Und das alles wird dann auf einen projiziert, sobald man sagt: ‚Ich bin jüdisch.‘

Ich dachte damals: Ich kann ja nicht einmal eine Ausbildung machen, ohne immer wieder in diese Rolle gedrückt zu werden. Ohne mir dabei Entschuldigungen anhören zu müssen, um die ich gar nicht gebeten habe, und Familiengeschichten, nach denen ich nicht gefragt habe. Ich dachte, wenn ich das nicht tun kann, ohne ständig ‚die Jüdin‘ zu sein, dann lasse ich es vielleicht lieber bleiben. Ich habe die Selbstverständlichkeit des Jüdisch-Seins in dieser Stadt und in diesem Land in Frage gestellt.

Für mich war nie Thema, dass ich mich nicht sicher gefühlt hätte. Ich weiß natürlich um die vielen Angriffe auf Jüdinnen und Juden. Nur persönlich ist mir das in diesem Maße noch nicht widerfahren. Aber ob man sich in Deutschland wohlfühlt, ist ein sehr kompliziertes Thema. Ich persönlich bin einerseits dort aufgewachsen. Es ist das Land und die Kultur, die ich am besten kenne und in denen ich mich am entspanntesten bewege.

Aber ein Gefühl von Zuhause, mich zugehörig zu fühlen, das war für mich immer sehr schwierig. Das hat viel mit der Geschichte meiner Familie zu tun, damit, dass die deutsche Vergangenheit so präsent ist. Und auch damit, dass ich das Gefühl habe, dass sich Deutschland damit zwar auseinandersetzt, aber nicht unbedingt auf die produktivste Art und Weise. Es scheint eher wie ein Schluckauf, also etwas Unfreiwilliges, das immer wieder aufkommt und das man akzeptieren muss. Sich in diesem Umfeld zu bewegen und zu versuchen, Frieden zu schließen mit dem, was meiner Familie hier passierte, ist sehr anstrengend. Ich habe immer Leute beneidet, die das Gefühl haben, dort, wo sie aufgewachsen sind, auch wirklich hinzugehören. Da sind ihre Wurzeln, das ist ihr Zuhause. Denn dieses Gefühl habe ich selbst sehr lange vermisst.“


Jake Schneider, 34, Übersetzer und Veranstalter, lebt in Kreuzberg:

„Ich lebe seit 10 Jahren in Berlin. Mein jüdischer Alltag besteht meist darin, dass ich mich mit der jiddischen Sprache, Kultur und Literatur beschäftige. Ich organisiere als Mitglied der Gruppe ,Yiddish.Berlin‘ einen Gesprächskreis, der sich zweimal im Monat trifft. Wir sprechen und singen und quatschen dort auf Jiddisch. Das ist zum Beispiel eine der vielen Schätze der jüdischen Kultur, die man in Deutschland nicht zu hören oder zu sehen bekommt, weil sich so ein großer Teil der Aufmerksamkeit auf Antisemitismus, den Holocaust und Israel zentriert.

Für mich ist es auch ein politischer Akt, keine Angst zu haben

Jake Schneider, 34

Ich habe in den letzten zehn Jahren einzelne, aber sehr wenige Erfahrungen mit Antisemitismus gemacht. Ich könnte davon erzählen, will es aber nicht. Denn es waren Ausnahmen. Viel wichtiger ist mir, dass man mich und andere Jüdinnen und Juden in unserer vollen Bandbreite betrachtet. Dass wir viel mehr sind als Opfer oder potenzielle Opfer. Dass wir nicht nur verängstigt sind. Dass wir nicht nur entweder Israel verteidigen oder es verteufeln. Dass wir nicht nur Überlebende des Holocaust und ihre Nachfahren sind. Sondern Künstlerinnen und Künstler, Schriftstellerinnen und Schriftsteller, und einfach nur, wie man auf Jiddisch sagt, ,stam mentshn‘ – bloß Menschen.

Für Jake Schneider ist es wichtig, Jüdinnen und Juden nicht nur als Opfer wahrzunehmen.
Für Jake Schneider ist es wichtig, Jüdinnen und Juden nicht nur als Opfer wahrzunehmen.

© Arndt Beck

In Berlin kann ich mich frei bewegen. Ich bin nicht immer sichtbar als Jude, aber ich habe auch keine Angst, es zu sein. Für mich ist es auch ein politischer Akt, keine Angst zu haben. Ich finde, wir Jüdinnen und Juden müssen uns gegen den eigenen Zustand der Angst wehren. Wir sollten versuchen, so zu tun, als gebe es keinen Antisemitismus. Und uns entsprechend verhalten. Damit wir auch andere Dinge thematisieren dürfen.“


Levi Salomon, 63, Sprecher des Jüdischen Forums für Demokratie und gegen Antisemitismus, lebt in Mitte:

„Ich lebe seit dem 15. März 1991 in Berlin und mag die Stadt. Ich fühle mich hier wohl. Berlin ist ein weltoffener Ort mit einer toleranten und aufgeklärten Bevölkerung. Aber die jüdische Gemeinde in Berlin zählt nur rund 11.000 Mitglieder – eine verschwindend geringe Zahl. Der durchschnittliche Berliner kennt kaum Juden, die Begegnung mit einem ist für ihn oder sie eine Besonderheit.

Lev Salomon stört es, dass er als Jude immer als etwas Besonders wahrgenommen wird.
Lev Salomon stört es, dass er als Jude immer als etwas Besonders wahrgenommen wird.

© privat

Eigentlich bin ich ein ganz normaler Bürger dieser Stadt. Aber oft fühlt man sich als Jude anders. Wenn man zum Beispiel in bestimmten Bezirken einkaufen geht oder die Straße überquert, wo viele Menschen mit Migrationshintergrund leben, dann muss man sich entsprechend anpassen. Genauso in Bezirken, in denen viele Menschen leben, die man in rechtsextreme Kreise einordnen kann. Du kannst dich da nicht wie ein jüdischer Mensch in Israel oder New York City verhalten. Freitags zum Gottesdienst oder am Schabbat kann man etwa keine Kippa tragen.

Ich würde mir wünschen, dass die Leute mich einfach als ganz normalen Menschen wahrnehmen. Aber sie nehmen mich oft als etwas Besonderes wahr.

Levi Salomon, 63

Dann ist es so: Wenn du mit jemandem ins Gespräch kommst und die Person erfährt, du bist jüdisch, kommt als erste Frage oft: Wie stehst du zu Israel? Es wird sehr viel über die Schoah, Israel oder Antisemitismus gesprochen. Man wird immer als Jude betrachtet, und diese Themen schwingen jedes Mal mit. Man muss immer abwägen: Mit wem spreche ich darüber, damit es nicht zu einer Konfrontation kommt? Das heißt, man ist freier Bürger in dieser Stadt, aber gleichzeitig kein Bürger wie jeder andere.

Ich würde mir wünschen, dass die Leute mich einfach als ganz normalen Menschen wahrnehmen. Aber sie nehmen mich oft als etwas Besonderes wahr. Dabei habe ich keine Besonderheit. Ich bin wie jeder andere auch. Für mich persönlich ist es nämlich keine Besonderheit, einer bestimmten Religion zugehörig zu sein.“

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