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„Die Tarnkappe“: Ein Tagesspiegel-Artikel von Pauline Nardi aus der Nachkriegszeit
„Schimpfkanonaden und Drohungen, geboren aus Gehirnen, denen der hitlerische Terror schmeckte, weil er die anderen traf.“ Am 21. Februar 1946 schrieb Pauline Nardi über Unbelehrbarkeit und Heuchelei im Nachkriegs-Deutschland.
Stand:
Die Verfasserin, deren erschütternde „Rufe ohne Echo“ (Nr. 18 des „Tagesspiegel“) in ganz Deutschland gehört und von zahlreichen Blättern aufgegriffen worden sind, spricht hier mit erfrischender Deutlichkeit von jenen verdächtigen Gruppen, die sich heute überall anzubiedern und einzudrängen versuchen.
Nicht nur die Menschen, sondern auch andere Lebewesen, viele Tiere und selbst Pflanzen versuchen, Gefahren durch Tarnung zu begegnen. Ich glaube, auch der kompromißloseste Wahrheitsfanatiker wird gegen diesen Akt der Notwehr nichts einzuwenden haben, sondern sogar selbst einmal die Tarnkappe überziehen, wenn es ihm geraten erscheint. In diesem letzten (hoffentlich letzten) upd furchtbarsten aller Kriege hat die Tarnung ihre großen Triumphe gefeiert, Triumphe, die den Sieg der gerechten Sache nicht nur beschleunigten, sondern darüber hinaus auch manchem Menschen das Leben retteten.
Wie aber jedes Ding an sich seine guten und bösen Seiten hat, so auch die Tarnung, die jetzt in den Nachkriegsmonaten allerlei gefährliche Blüten treibt. Der giftige Dunst, den sie ausstrahlen, ist eine permanente Gefahr für alles Gesunde, Gerade, Saubere. Wer den Krieg haßt, als die sinnloseste aller menschlichen Auseinandersetzungen, wer den Frieden inbrünstig bejaht, muß diese ebenso feige wie bösartige Tarnung aufspüren, ihre Nutznießer stellen und unschädlich machen, bevor der Gifthauch die Katastrophe heraufbeschwört.
Die Tarnkappe ist zur Zeit in Deutschland ein vielgebrauchtes Requisit. Es trägt sie der Maulheld des Stammtischs und der Etappe, es trägt sie der ehemals begeisterte Pg und selbstverständlich die meist von der Natur vernachlässigte und deshalb zu Hitler geflüchtete Parteigenossin. Sie alle können einem neuen, friedlich strebenden Deutschland nicht gefährlich werden; sie sind unter ihrer Tarnkappe so klein, so still, so häßlich bescheiden geworden, daß man über sie fallen kann, ohne sich wehe zu tun.
Eine stärkere Beachtung widme man den einst sehr strammen Pgs, die zwar keinen besonderen Posten in der Partei hatten, aber die Zuträger der nationalsozialistischen Bonzen waren. Ihre Hauptaufgabe bestand in der Bespitzelung anständiger Menschen, die sie bei der geringsten Gelegenheit durch niederträchtige Denunziationen ins KZ und in den Tod hetzten. Gewiß, ein großer Teil von ihnen ist bereits dingfest gemacht, aber es sind noch viel zu viele von dieser Sorte,, die unbehindert frei umherlaufen. Mit der Maske des Biedermanns getarnt, mischen sie sich unter die Menschen, die sie durch Falschmeldungen oder Greuelmärchen — alles in biedermännischer, öligster Form vorgetragen — kopfscheu zu machen versuchen. Da wird jede notwendige Arbeit als zwecklos hingestellt, da wird von zahllosen Selbstmorden gefaselt, da tuschelt man dem Nachbar die steigende Anzahl der Seuchenerkrankungen ins Ohr, daß die Pestfahne im Krankenhaus hochgezogen und die Hungersnot unabwendbar sei. Sind diese Giftinjektionen erfolgt, kommen prompt leise Seufzer über die „schönen“ vergangenen Zeiten, und kostenlos hagelt es von „liebevollen, uneigennützigen, gutgemeinten“ Ratschlägen, die, ebenso dumm wie gemein, nur dem Zweck dienen, im Trüben zu fischen, harmlose Menschen unglücklich zu machen, ihre Arbeitswilligkeit zu lähmen und sie dem Chaos zu überantworten, dem sie gerade entronnen sind. Aufgepaßt, wo solche „edlen Menschenfreunde“ auftauchen! Man reiße ihnen die Tarnkappe herunter; und wenn man erst einmal die ganze Erbärmlichkeit, die sich darunter verschanzt, erblickt und erfaßt hat, wird jeder denkende Mensch schon in seinem ureigensten Interesse zumindest die Atmosphäre meiden, die seine aufrichtige Sehnsucht nach innerem und äußerem Frieden gefährdet.
So seelenvoll verhüllt sich diese Pgs in der persönlichen Auseinandersetzung mit andersdenkenden, weil andersgearteten Menschen geben, so nackt und bloß brüllen sie in der Anonymität. Es sind keine begründeten Anklagen, keine Ratschläge, die sie in ihren „mutigen“ anonymen Zuschriften von sich geben, es sind wüste Schimpfkanonaden und Drohungen, geboren aus Gehirnen, denen der hitlerische Terror schmeckte, weil er die anderen traf. Sie hassen die friedliche Entwicklung wie den Tod, weil ihnen dann das Wasser auf ihren Mühlen fehlt. Sie drücken sich feige vor jeder Verantwortung; der Kamm schwillt ihnen nur in der Anonymität, wo sie ihren Instinkten Luft machen können, ohne etwas zu riskieren. Nein, die Menschheit hat genug von ihnen und wünscht sie dorthin verfrachtet zu sehen, wo der Peffer wächst.
Noch eine andere Sorte gehört dorthin. Es sind die Kreise, die dem „ollen ehrlichen Hindenburg“ eine „Republik“ anvertrauten, in der festen Zuversicht, er werde die Nationalsozialisten bändigen und nebenbei für einen frisch-fröhlichen Revanchekrieg auch noch mit neunzig Jahren zu haben sein. Sie waren natürlich keine Nationalsozialisten, beileibe nicht, sie wehrten sich mit Händen und Füßen gegen diese Einordnung. Als aber der Braunauer Gefreite das ersehnte Kanonenfutter versprach, schoben Herrenklub und Schwerindustrie die Standesunterschiede etwas beiseite. Die „Elite“ des Herrenklubs bemühte sich höchstpersönlich um die „Mesalliance“,, worauf der olle ehrliche Hindenburg zu allem ja sagte, der braunen Flut die Schleusen öffnete und Deutschland preisgab. Daran muß man sich erinnern, Wenn die Deutschnationalen heute wieder ihre Tiraden gegen die Nationalsozialisten loslassen, denen sie aber keineswegs den Krieg und die begangenen Greueltaten, sondern nur den verlorenen Krieg nachtragen. Sie tarnen sich mit ihrem lauten Zorn über die Nationalsozialisten, von denen sie ja nur die Tatsache unterscheidet, daß sie eben nicht in der Partei waren. Sie sind schuldiger als mancher kleine Pg, der schon deshalb friedliche Zeiten herbeiwünscht, weil ihm alle Felle weggeschwommen sind. Aber wieviele von den Deutschnationalen, die heute immer wieder betonen, daß sie stets „nur“ deutschnational gewesen sind, mögen schon wieder von einer Revanche träumen, wenn sie mit schmerzerfüllter Stimme von der „Entmachtung“ Deutschlands zu reden beginnen. Aber so gewiß die Mißgeburt „Entmachtung“ wieder aus der deutschen Sprache verschwinden wird, so gewiß wird man dafür sorgen, daß die unbelehrbaren Revanche-Phantasten nicht als Volksvergifter umhergeistern. Und wenn sie es nicht glauben wollen, daß der Traum von der Revanche endgültig ausgeträumt ist, weil Deutschland leben muß und will, so mögen sie ihre Blicke nach Nürnberg schweifen lassen, wo ihre hervorragenden Führer, auf der Kriegsverbrecherbank sitzend, als Ritter von der traurigsten Gestalt, dem deutschen Volke keinen Zweifel darüber lassen, wohin sinnlose Revanchegedanken zu führen vermögen.
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