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„Sünde und Schuld“: Kommentar im Tagesspiegel 1946 zum Nürnberger Prozess
Zum Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher in Nürnberg veröffentlichte der Tagesspiegel am 2. Juli 1946 diesen Artikel von Lotte Deinert.
Stand:
Muß nicht jede deutsche Frau, die Angehörige bei der „Wehrmacht“ hatte, beim Lesen der Nürnberger Berichte den Atem anhalten, wenn sie sich vorstellt, daß vielleicht der Mann, dem sie in vertrauender Hingabe das Beste und Edelste zuerkannte, mit an jenen Massenmorden beteiligt war? Wird sie es jemals erfahren, ob der geliebte Sohn, den sie mit solcher Mühe und Sorge großgezogen hatte, nicht auch zu diesen Bestien gehörte? Kann eine deutsche Frau, wenn sie sich das überlegt, überhaupt noch ruhig schlafen? Sie konnte nichts tun, um es zu verhindern, aber — war sie nicht stolz darauf, ihren Sohn unter den Ordensträgern zu wissen, unter den für Tapferkeit Ausgezeichneten und in Radio und Zeitungen Bekanntgegebenen? Dieses furchtbare „Heldentum“, das Millionen Menschenleben gekostet hat, ist zusammengebrochen wie ein Kartenhaus, und übriggeblieben ist nur das Grauen. Hätten wir Frauen es wirklich nicht verhindern können, daß ein solcher Männerstaat, in dem wir so gut wie ganz ausgeschaltet wurden, sich derart in der Welt breit machen konnte, wie es zum Unheil aller geschehen ist? Hätten wir Mütter nicht geschlossen gegen die Vergewaltigung unserer Kinder in der HJ eintreten müssen? Wo blieb die mahnende Stimme der Frau, wenn der Mann sich in Parteigezänk und Bonzenwirtschaft einfangen ließ? Müssen wir nicht verantwortlich zeichnen für unendlich viele kleine Dinge im politischen und sozialen Leben, aus denen sich dann das große Unglück zusammenballte? Wir sind stumpf geworden und müde an unserer eigenen Unfähigkeit, uns durchzusetzen — In jahrhundertealter Gewohnheit trägen Denkens und schablonenhaften Nachahmens haben wir resigniert, wo wir uns mit unserem ganzen Weibtum hätten einsetzen müssen. Ist das nicht Schuld genug, die schwer auf unseren Schultern lastet? Sündig waren die Kriegsverbrecher, vom obersten Feldherrn bis zum kleinsten Soldaten, denn sie vergingen sich ja unausgesetzt gegen die Gesetze der Menschlichkeit — schuldig aber sind wir alle, die wir so etwas zuließen.
Man muß sich nun fragen, wie es überhaupt möglich war, daß ein Volk in seiner Gesamtheit so tief fallen konnte. Leider ist der Begriff der Sünde sehr abgegriffen und für die meisten zu einem bloßen Schlagwort geworden, zu dem sie kaum Beziehungen haben können. Denn — so ist die allgemeine Auffassung — nur der sündigt ja, der gegen die zehn Gebote verstößt, und der Durchschnittsmensch versteht es ja auch meist mit großer Geschicklichkeit, recht wenig zu sündigen. Ueber heimliche Sünden spricht man nicht, und, die Gesetze bewahren ja sowieso den größten Teil der Menschheit vor allzu häufigen Entgleisungen. Wie ist es nun möglich, daß sich plötzlich derartige Abgründe der menschlichen Natur vor der erstarrten Welt auftun können? Ein Tier mordet nur, wenn es Hunger hat, hier aber wurde gemordet aus Prinzip, womit sich der Mensch noch unter das Tier gestellt hat. Es heißt, daß der Mensch ein Gottesgeschöpf sei, geschaffen Ihm zum Bilde — muß nicht diese Vorstellung vom Wesen des Menschen auch zusammenbrechen wie ein Kartenhaus bei all diesen Greueltaten, deren Deutsche fähig waren? Und damit rollt sich die ganz große Schuldfrage vor uns auf, die mit wenigen Ausnahmen uns alle betrifft: wir haben uns abgesondert von unserem Ursprung, und das ist die Ursünde und die Urschuld. Das Göttliche in uns haben wir verleugnet, es ohne Nahrung in uns verkümmern lassen. Wir haben nur den äußeren Menschen gemästet und seiner gedacht, während der innere elend zugrunde ging. Mit den Genüssen der Kultur glaubten wir ihm Genüge getan zu haben, indem wir uns intellektuell hochzüchteten, ließen wir unsere Seele verhungern. Nach außen taten wir gute Werke und rühmten uns ihrer vor uns selbst, wir pflegten den Körper und übersahen dabei, daß wir auch eine Seele haben, die täglich gereinigt und geläutert werden will, wenn sie in Zeiten der Not bestehen soll. Und über allem vergaßen wir den Quell unseres Lebens, dessen Ursprung nicht in dieser Welt zu suchen ist, und den wir mit unserem weltlichen Gebaren zugeschüttet haben. Die leise Stimme unseres Gewissens war nicht mehr unser Mahner und Warner, sie wurde übertönt von dem lauten Geräusch eitler Selbstbefriedigung.
Wer aber noch den Mut aufbrachte, in die Stille zu gehen und sich auf sich selbst zu besinnen, dem wurde erschreckend klar, wohin wir treiben mußten, wenn der einzelne sich so an das äußere Leben verlieren würde wie bisher. Bis dieses äußere Leben zerbrach und alles unter sich begrub, was nicht den Bestand der Ewigkeit hatte. In der Absonderung vom Göttlichen liegt der Fluch der Menschheit, und nur wer erkennt, daß die Dinge des inneren Menschen wichtiger sind als sein äußeres Wohlergehen, wird seine Seele aus diesem furchtbaren Zusammenbruch retten. Unvergängliche Werte sind dem geblieben, dem Gott von jeher Führung und Leitung war, der sich ganz untergeordnet hat unter seinen Willen und dem alles in dieser Welt hier nur ein Durchgang bedeutet und eine Schule für inneres Wachsen und Gedeihen. Wer aber in der Absonderung verharrt, muß die Folgen einer Gesetzmäßigkeit auf sich nehmen, die unfehlbar ist wie das Gesetz von Ursache und Wirkung, gleich, ob er es nun anerkennt oder nicht. Wer einen Götzen auf den Thron erhebt, statt Gott in seinem Herzen zu dienen, muß es erdulden, daß mit dem Götzenbild auch er selbst zerschlagen wird, wenn die Stunde gekommen ist. Ueber Sünde und Schuld wird dann ein ewiger Richter entscheiden.
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