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Meinungsfreiheit in Deutschland: Wo die Kritik aus den USA berechtigt ist
Aus Verantwortung vor der Geschichte gibt es Beschränkungen der freien Rede. Die Geschichte lässt sich jedoch auch genau andersrum interpretieren.

Stand:
Die Bundesrepublik stand Kopf, als US-Vizepräsident J. D. Vance in seiner Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz eine schwindende Meinungsfreiheit in Deutschland und Europa beklagte.
Auf X legte er später noch nach und warf der deutschen Justiz eine Kriminalisierung von Meinungsäußerungen vor. „Jemanden zu beleidigen, ist kein Verbrechen, und Sprache zu kriminalisieren, wird zu einer echten Belastung der europäisch-amerikanischen Beziehungen.“
Nun wird die Meinungsfreiheit in den USA – garantiert durch den ersten Verfassungszusatz – tatsächlich sehr viel weiter gefasst als in Deutschland. Wer Politiker hierzulande „Versager“ oder „Schwachkopf“ nennt, kann bestraft werden. Begründet wird die restriktive Auslegung durch die deutsche Geschichte.
Es gebe eine historische Verantwortung, so heißt es, gegen Hass, Hetze und extremistische Propaganda vorzugehen. Deshalb stehen Volksverhetzung und Holocaust-Leugnung unter Strafe.
Allerdings wird die Meinungsfreiheit in Deutschland nur selten radikal verstanden, sondern vor allem für die eigene Klientel in Anspruch genommen. Hass und Hetze verbreiten immer nur die anderen. Wer heute das hohe Lied der Meinungsfreiheit singt, zieht morgen vor Gericht, weil er sich beleidigt fühlt.
Natürlich hat auch Vance eine politische Agenda
Und mehr noch: In deutscher Lesart gilt die Beschneidung der Meinungsfreiheit oft als zivilgesellschaftlicher Akt: Hass und Hetze zu bekämpfen, diene dem gesellschaftlichen Frieden, heißt es.
Natürlich hat auch Vance eine politische Agenda – Kritik an der Brandmauer, Aufwertung der AfD. Außerdem will er amerikanische Tech-Unternehmen rund um Elon Musk, Jeff Bezos und Mark Zuckerberg vor dem europäischen „Digital Service Act“ schützen. Der verpflichtet große Internet-Plattformen wie „X“ und Facebook, strafbare Inhalte schnell zu entfernen. Das empfinden die Tech-Milliardäre als lästig.
Wie wenig ernst es der Trump-Administration mit der Meinungsfreiheit im eigenen Land ist, illustriert auch deren Entscheidung, der Nachrichtenagentur Associated Press (AP) die Zugangsberechtigung zum Weißen Haus zu verwehren, weil sie sich weigert, den Golf von Mexiko „Golf von Amerika“ zu nennen. Elon Musk wiederum will, dass Journalisten ins Gefängnis gesteckt werden, weil sie Kamala Harris im Wahlkampf zu positiv dargestellt hätten.
Andererseits kämpfen in den USA Bürgerrechtsorganisationen wie die „American Civil Liberties Union“ (ACLU) seit Jahrzehnten so kompromisslos wie überparteilich für die Rede-, Versammlungs- und Pressefreiheit. Vergleichbare Organisationen gibt es in Deutschland nicht.
Der US-Fernsehsender CBS zeigt in seinem Format „60 Minutes“, wie Deutschland gegen Hassreden und Beleidigungen im Internet vorgeht. Bestandteil der Reportage sind Interviews mit Mitarbeitern der niedersächsischen „Zentralstelle zur Bekämpfung von Hasskriminalität im Internet“.
Insgesamt 16 solcher Ermittlungsteams gibt es in der Bundesrepublik. Deren Ziel ist „die effektive Verfolgung von Personen“, die Verbotenes posten oder weiterverbreiten. Das trage dazu bei, wie einer der Staatsanwälte gegenüber „60 Minutes“ sagt, die Demokratie zu bewahren.
Ein Merkmal der Nazis war das Verbot der freien Rede
Die deutsche Geschichte – und die Lehre, die aus ihr gezogen werden soll – lässt sich allerdings auch anders verstehen. Gewissermaßen entgegengesetzt zu der gängigen, repressiven Variante. Ein Kennzeichen des Nazi-Regimes war schließlich das Verbot freier Meinungsäußerungen.
Die Verfolgung Andersdenkender begann im Februar 1933 mit der „Reichstagsbrandverordnung“. Sie legitimierte „Beschränkungen der persönlichen Freiheit, des Rechts der freien Meinungsäußerung, einschließlich der Pressefreiheit, des Vereins- und Versammlungsrechts“. Damit war der Rechtsstaat beseitigt.
Nahezu jede kritische Äußerung konnte fortan geahndet werden
Am 20. Dezember 1934 wurde das sogenannte „Heimtückegesetz“ verabschiedet. Sein voller Name lautete „Gesetz gegen heimtückische Angriffe auf Staat und Partei und zum Schutz der Parteiuniformen“. Zur Aburteilung waren Sondergerichte gebildet worden.
Mit Gefängnis – von einem Tag bis zu fünf Jahren – wurde bestraft, „wer öffentlich gehässige, hetzerische oder von niedriger Gesinnung zeugende Äußerungen“ über den Staat, die NSDAP oder leitende Persönlichkeiten machte. Nahezu jede kritische Äußerung konnte fortan geahndet werden. Ab 1943 wurden kritische Äußerungen oft vom Volksgerichtshof als „Wehrkraftzersetzung“ ausgelegt und mit der Todesstrafe geahndet.
Mit den Verboten einher gingen Denunziationen durch „pflichtbewusste Volksgenossen“. Nachbarn, Freunde, Bekannte und Verwandte waren aufgerufen, Verstöße gegen das Verbot „schädlicher“ Äußerungen zur Anzeige zu bringen.
In der DDR wurden unter dem Vorwurf der „staatsfeindlichen Hetze“ viele Oppositionelle verhaftet, „diskriminierende“ Schriften waren verboten. Die Formulierung des entsprechenden Paragrafen war so unspezifisch gehalten, dass beinahe jede kritische Äußerung geahndet werden konnte.
Die deutsche Geschichte führt in ein Dilemma. Einerseits soll die Verbreitung von Rassismus, Antisemitismus, Islamophobie und allgemein diskriminierenden Äußerungen begrenzt werden. Andererseits laufen Verbote – wie überhaupt jede Einschränkung von Grundrechten - der Idee eines freiheitlichen Rechtsstaats zuwider.
Die Meinungsfreiheit sei für den freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat „schlechthin konstituierend“, hat das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2011 geurteilt. Sie schützt, ungeachtet politischer Korrektheit, alle Meinungen – „ohne dass es dabei darauf ankäme, ob sie sich als wahr oder unwahr erweisen, ob sie begründet oder grundlos, emotional oder rational sind, oder ob sie als wertvoll oder wertlos, gefährlich oder harmlos eingeschätzt werden“.
Wertebewusste Bürger sind im Kampf gegen die Verbreitung totalitärer und diskriminierender Ideologien eher gefragt als ein hyperstarker Staat, der unermüdlich an der Verbotsspirale dreht. Sollte Vance vor einer solchen Entwicklung gewarnt haben wollen, hätte er eine notwendige Debatte angestoßen.
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