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Der frühere Radprofi Jan Ullrich am Samstag vor dem Gerichtsgebäude.

© Kay Kirchwitz/STARPRESS/dpa

Nach der Festnahme auf Mallorca: Jan Ullrich – schwer aus der Spur

Jan Ullrich war der Held der Nation. Und stand sich doch schon zu Zeiten seines größten Erfolgs oft selbst im Weg. Seine Festnahme auf Mallorca markiert den vorläufigen Tiefpunkt seines rasanten Lebens.

Der Oberkörper nackt, am rechten Handgelenk eine Handschelle, mit der er an einen anderen mutmaßlichen Straftäter gekettet ist. Um den Kopf ein weißes Betttuch, das sein Gesicht vor den wartenden Fotografen doch nur schlecht versteckt. Den Blick gesenkt. So steigt Deutschlands einstiger Radsport-Held Jan Ullrich am Wochenende aus einem Gefangenentransporter der spanischen Nationalpolizei.

„Ein Champion im Knast“, lautet am Sonntagmorgen die Schlagzeile über diesem Bild in der mallorquinischen Zeitung „Ultima Hora“. Sogar die spanische Tagesschau bringt die Meldung. Die Beamten haben den 44-Jährigen am Freitagabend gegen 18 Uhr auf dem Grundstück des Schauspielers und Filmemachers Til Schweiger in einem Vorort von Palma de Mallorca festgenommen. Er soll dort trotz expliziten Zutrittverbots über den Zaun geklettert sein, randaliert und Gäste angegriffen haben. Wie am Sonntag bekannt wurde, hat Schweiger ihn wegen Hausfriedensbruchs, Bedrohung und Aggression angezeigt.

Da ist Ullrich schon wieder ein freier Mann – sofern man das so nennen kann.

Der frühere Spitzensportler und der 54-jährige Til Schweiger sind seit zwei Jahren Nachbarn im feinen Villenviertel Establiments, bewohnen großzügige Grundstücke mit Pool und Panoramablick. Noch vor einem Jahr postete Schweiger auf Facebook ein Selfie mit Ullrich und dem Satz: „Jan Ullrich – geiler Typ.“ Nun zitiert die „Bild am Sonntag“ Schweiger mit den Worten: „Er kam übers Tor, was wir nicht gesehen haben, weil wir im Poolhäuschen ein Musikvideo angesehen haben. Er ging sofort mit einem Besenstil auf einen Freund von mir los. Ich habe die Polizei gerufen.“ Er aber werde „der erste sein, der ihm die Hand reicht, wenn er wieder sauber ist.“

Ein Ausnahmetalent

Da ist es wieder, dieses Wort, bei dem erst recht im Spitzensport so viel mitschwingt. Das er gern vermieden hat, lieber betonte: „Ich bin kein Betrüger.“ Wann war der Mann, dem es 1997 als bisher einzigem Deutschen gelang, die Tour de France zu gewinnen, dem Millionen Radbegeisterte nacheiferten, zuletzt richtig sauber? Und was ist wann so schief gelaufen, dass dieses einst strahlende Idol seinen Glanz mehr und mehr verlor?

„Ulle“, ein Ausnahmetalent, einen Nationalhelden, so nannte man ihn früher. Zuletzt waren es vor allem Begriffe wie Doping, Alkohol, Autounfall, die im Zusammenhang mit seinem Namen zu lesen waren. Dem Karrieresturz nach dem Doping-Ausschluss von der Tour de France folgte der persönliche. „Er hat sich verändert“, verbreitet Til Schweiger, und dass er und andere an ihn appelliert hätten: „Es ist doch deine Verantwortung als Vater, dass du so alt wirst wie möglich. Deine Kinder lieben und brauchen dich. Seine Freunde und ich haben so oft auf ihn eingeredet. Du musst einen Entzug machen. Du verlierst dein ganzes Leben.“

Vor wenigen Monaten wurde bekannt, dass seine Frau Sara aus dem gemeinsamen Zuhause auf Mallorca ausgezogen ist. Die drei Söhne hat sie mitgenommen.

Ullrichs Leben ist in Unordnung geraten, es hat ihn im übertragenen Sinn aus dem Sattel geworfen. Ganz anders als zu seiner Zeit als Radprofi. Dort blieb er fast immer sitzen. Auch wenn sich ihm wie am 21. Juli 2003 eine unverhoffte Gelegenheit bot.

Da stürzt sein härtester Konkurrent um den Sieg bei der Tour de France, der US-Amerikaner Lance Armstrong, in der Schlussphase einer schweren Bergetappe in den Pyrenäen. Ullrich hat zu diesem Zeitpunkt nur 15 Sekunden Rückstand auf Armstrong in der Gesamtwertung. Wenn er jetzt beschleunigt, kann er seinen Widersacher womöglich entscheidend distanzieren und ins Gelbe Trikot des Führenden fahren. Doch Ullrich blickt sich um, nimmt das Tempo raus, wartet. Armstrong rappelt sich wieder auf, fährt zum Deutschen auf und ihm wenig später davon. Ullrich wird am Ende wieder mal Zweiter. Die Deutsche Olympische Gesellschaft zeichnet ihn später mit der Fair-Play-Plakette aus. In der Begründung heißt es: „Als oberstes Prinzip des Sports steht die Wahrung der Chancengleichheit über dem Streben nach dem Sieg.“

Die Ironie: Nicht zuletzt damit erklärt Ullrich in einem Focus-Interview Jahre später, warum er seine Leistungsfähigkeit mit unerlaubten Mitteln gesteigert hat. „Betrug fängt für mich dann an, wenn ich mir einen Vorteil verschaffe. Dem war nicht so. Ich wollte für Chancengleichheit sorgen.“

Kavaliersdelikt

Als fairer Sportsmann, so versteht sich Jan Ullrich bis heute. Als er seinerzeit auf die Attacke gegen Armstrong verzichtete, fuhr er im hellblauen Trikot der Mannschaft Bianchi – es sollte ein Neuanfang sein, die einzige Tour de France, die er nicht für ein Team der Deutschen Telekom bestritt. Im Jahr zuvor war Ullrich bei einer Dopingkontrolle positiv auf Amphetamine getestet worden und wurde für ein halbes Jahr gesperrt. In einer Disko habe er von einem Unbekannten eine Pille bekommen und geschluckt, erklärte Ullrich. Die Affäre ging als Kavaliersdelikt durch. Der Popularität des Sportstars schadete es kaum – die Menschen wollten diesem Mann einfach glauben, der zu diesem Zeitpunkt bereits fast seit einem Jahrzehnt Deutschlands großes Sportidol war.

Max Schmeling, Michael Schumacher, Boris Becker, Jan Ullrich: Eine Liga der Superhelden. Die Tour de France, die er mit damals gerade einmal 23 Jahren gewinnt, ist das berühmteste Radrennen der Welt. Die halbe Nation sitzt vor dem Fernseher, um dem sommersprossigen, leicht pausbäckigen Rostocker mit den rotblonden Haaren zuzusehen. Entdeckt plötzlich Radfahren als Volkssport, diskutiert über Taktung. Nach seinem Sensationserfolg sind die Erwartungen und die Gier nach weiteren Erfolgen enorm. Doch oft steht er sich dabei selbst im Weg.

Seine Anfänge nimmt Ullrich in der DDR, wo Radsport seit dem erfolgreichen Rennfahrer Gustav-Adolf Schur, genannt „Täve“, immer viel populärer war als im Westen des geteilten Landes. Ullrichs Talent wird früh erkannt, die Wende verschafft ihm neue Möglichkeiten. 1993 gewinnt er als 19-Jähriger den Weltmeistertitel der Amateure, wechselt zur Saison 1995 zu den Profis ins Team Telekom. Gleich bei seiner ersten Tour de France im Jahr 1996 wird Ullrich Gesamtzweiter – so wie später noch weitere vier Male. Im Jahr 2000 fährt er in Sydney zum Olympiasieg im Straßenrennen.

Doch aus den Winterferien kommt er zuverlässig mit zu viel Gewicht zurück, weil er undiszipliniert ist, das Leben zu sehr genießt. „Quäl Dich, Du Sau!“, der Zuruf seines Teamkollegen Udo Bölts, mit dem er ihn zum Toursieg 1997 schreit, ist legendär. Fans und Management müssen ihn daran in den folgenden Jahren immer wieder erinnern.

Das Profidasein fällt ihm nicht leicht. Im Oktober 1997, ziemlich genau drei Monate nach seinem Tour-Sieg, besucht Ullrich die ostwestfälische Provinz. Er löst dort ein Versprechen ein: Eine dortige Küchenfirma hatte ihn in den frühen Tagen seiner Karriere gesponsert. Trotz unzähliger Medienauftritte und anderer Sponsorenverpflichtungen kommt Ullrich nach Löhne als Gast bei einem Jugend-Querfeldeinrennen des dortigen Radsportclubs.

Vom Verein von der Bambi-Verleihung am Vorabend in Köln morgens abgeholt, erscheint er zu einem Pressefrühstück – und ist sichtlich erfreut, dass er wegen eines Fehlers in der Einladung der Küchenfirma zunächst nur auf einen Journalisten trifft. Macht, während er in Ruhe ein Brötchen isst, keinen Hehl daraus, dass ihm der Rummel um seine Person eigentlich gar nicht schmeckt. Als Stimmengewirr die Ankunft weiterer Journalisten ankündigt, sagt er: „Sie wollten doch bestimmt immer schon mal eine Küchenausstellung besichtigen?“ Flieht mit dem Gesprächspartner in die Gänge. Dass er der Journalistenmeute nicht gänzlich entkommen kann, weiß er da natürlich längst und steht schließlich allen noch Rede und Antwort, aber eben deutlich kürzer. Etappensieg Ulrich – der allein an diesem Tag bei Folgeterminen noch drei Edding-Filzstifte durch Autogrammschreiben leeren wird.

Das jähe Ende

Dass der Radsport ein Dopingproblem hat, davon will Deutschland zu dieser Zeit nichts wissen. Die ARD überträgt nicht nur die Tour de France im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, sie ist gleichzeitig Co-Sponsor der Telekom-Mannschaft. Mit Ullrich existiert ein gesonderter Vertrag, damit der brav für Interviews zur Verfügung steht. Nachfragen zu Doping? Gibt es kaum.

Das jähe Ende der Höhenfahrt kommt 2006, als er einen Tag vor Beginn der Tour de France von den Organisatoren vom Rennen ausgeschlossen wird. Neue Indizien im Dopingskandal um den spanischen Arzt Eufemanio Fuentes erhärten den Verdacht gegen ihn. Im Februar des Folgejahres beendet Ullrich nach einigen juristischen Scharmützeln seine Laufbahn als Profi offiziell.

Als Eingeständnis seiner Schuld will er das nie verstanden haben. Eigenblutdoping gesteht er später nur, als eh schon keiner mehr daran gezweifelt hat, der Ruf deutlich angekratzt ist.

Auf Mallorca nun darf Ullrich am Samstagabend, nach einer Nacht in Untersuchungshaft und einem richterlichen Verhör, das Gerichtsgebäude gegen 21 Uhr wieder verlassen. Allerdings unter der Auflage, dass er sich seinem Nachbarn Schweiger allenfalls bis auf 50 Meter nähern darf. Statt des Betttuchs trägt er eine Baseballkappe, Erklärungen gibt er den wartenden Journalisten bloß diese: „Ich will jetzt nach Hause. Ich war im Gefängnis. Lasst mich mal in Ruhe.“

Laut Inselzeitung soll er ausgesagt haben, zum Zeitpunkt des Übrgriffs auf dem Nachbargrundstück unter Alkoholeinfluss gestanden zu haben.

Jan Ullrich ist nicht der erste Star, der sich schwer tut mit dem normalen Leben. Sein Sport hat ihm alles gegeben, er hat ihm auch viel genommen. Eine Chancengleichheit für die Karriere nach der Karriere? Hat für Jan Ullrich nie existiert. Sein Umzug von seinem früheren Wohnsitz in der Schweiz nach Mallorca 2016, wo er in den Wintermonaten gern trainierte, das hatte wohl wieder mal so ein Neuanfang sein sollen. In der Schweiz hatte er 2014 unter Alkoholeinfluss einen schweren Verkehrsunfall verursacht, bei dem zwei Menschen verletzt wurden. 2017 war er deswegen zu 21 Monaten Haft auf Bewährung verurteilt worden.

"Erst seit Ostern trinke ich wieder"

Zwei Jahre nach dem Wechsel auf die Urlaubsinsel, seine Frau ist mit den drei Kindern just nach Deutschland zurückgekehrt, gibt er der Illustrierten „Bunte“ ein Interview. „Mein Herz ist gebrochen, mein Knie ist kaputt. Ich bin ein Wrack.“ Im gleichen Gespräch fällt der Satz: „Ich habe sechs Monate keinen Tropfen Alkohol angerührt. Erst seit Ostern trinke ich wieder.“

Lance Armstrong, der im Nachhinein ein umfassendes Dopinggeständnis abgelegt hat, wurden alle sieben Erfolge bei dem Frankreich-Rennen aberkannt. Nicht so bei Jan Ullrich. Auch, wenn der Internationale Sportgerichtshof seine Erfolge von 2005 bis 2007 annullierte: In den Ergebnislisten steht sein Tour-Sieg von 1997 bis heute. Und bis heute beteuert Ullrich, sich nichts vorwerfen zu müssen. Er hat den Radsport in Deutschland großgemacht. Er hat ihn aber auch wieder auf Normalmaß zurückgestutzt. Nachfolgende Generationen von Profis stehen auch wegen ihm unter Generalverdacht.

Er selber steht am vorläufigen Tiefpunkt. Viele in seinem Umfeld hätten seit Langem von seinem ernsten Alkoholproblem gewusst, heißt es. Er hat das als solches bisher nicht benannt, genauso wenig wie sein Doping. Als seine Familie ihn verließ, sagte er in die Mikrofone: Er kenne den Grund für die Trennung nicht.

Auf manch rasantes Leben folgt ein harter Aufprall. Schauspieler Schweiger erklärte am Sonntag, das Einzige, „was Jan helfen kann, ist, dass er zusammenbricht, sodass er dabei nicht stirbt, aber eingewiesen wird und einen Entzug macht.“ Er wünsche ihm, dass er zu dem Menschen zurückkehre, der er eigentlich sei: „Ein herzensguter, liebenswerter, großzügiger Mensch, der seine Kinder abgöttisch liebt und seine Frau eigentlich auch.“

Einmal mehr könnte es sich für den Radprofi Jan Ullrich als gefährlich, ja selbstzerstörerisch erweisen, weiter der Wahrheit davonzufahren.

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