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Frau im Rollstuhl.

© Foto: Adobe Stock/Anke Thomass

Zutrittsverbote für Therapeuten: Enorme Mängel bei Versorgung von Heimbewohnern während Corona-Lockdown

Während der ersten Corona-Welle kamen auch Ärzte und sogar Palliativhelfer nur eingeschränkt zu Bewohnern in Pflegeheimen. Eine Studie zeigt das Ausmaß der Versorgungslücke.

Während der ersten Corona-Infektionswelle gab es in den deutschen Pflegeheimen nicht nur rigide Besuchsverbote für Angehörige, sondern auch erhebliche Zugangsbeschränkungen für Ärzt:innen und anderes Gesundheitspersonal. Das ist einer retrospektiven Studie der Berliner Charité im Auftrag des GKV-Spitzenverbandes zu entnehmen, die bei einer Fachtagung des Spitzenverbands der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) präsentiert wurde.

Demnach wurde der Zutritt selbst für Hausärzt:innen und geriatrische Fachärzt:innen in jeder dritten stationären Einrichtung entsprechend reglementiert. Noch heftiger traf es Psychotherapeut:innen. Für sie galten in zwei von drei Heimen Zugangsbeschränkungen. In jedem fünften wurde ihnen der Zutritt sogar komplett untersagt.

Die stellvertretende Vorsitzende der Grünen-Fraktion im Bundestag zeigte sich entsetzt über die Ergebnisse. „Das darf nicht wieder passieren, daraus muss auch langfristig gelernt werden“, twitterte die Gesundheitsexpertin. „Der Schutz der Pflegebedürftigen darf sich nicht in das Gegenteil verkehren.“

Um einen Überblick über die Einschränkungen für die medizinische Versorgung der Pflegebedürftigen zu bekommen, wurden zwischen November 2020 und März 2021 Heimleitungen in ganz Deutschland befragt. Ihren Angaben zufolge gab es in 33,3 Prozent der Pflegeheime Zugangsbeschränkungen für Hausärzt:innen.

Fachärzt:innen für Geriatrie waren davon in 32,5 Prozent der Einrichtungen betroffen. Bei Psychiater:innen betrug die Quote 38 Prozent, bei anderen Facharztgruppen 40,8 Prozent. Und Zahnärzt:innen? Sie kamen lediglich in jeder zweiten Einrichtung uneingeschränkt zu ihren Patient:innen (50,7 Prozent ). In mehr als jedem zwölften Heim (8,5 Prozent) durften sie gar nicht behandeln.

Zutrittsverbot für Therapeuten

Besonders oft Fehlanzeige herrschte für viele Pflegeheim-Bewohner:innen in dieser ersten Coronawelle bei Massagen, Ergotherapie oder Fußpflege. Laut Studie wurde der Zugang von Physiotherapeut:innen in 86,4 Prozent der Heime streng reglementiert, bei Ergotherapeut:innen geschah dies in 87,2 Prozent aller Einrichtungen. Und in fast jedem dritten Heim wurde solchen Dienstleistern der Zutritt komplett untersagt.

Am härtesten reglementiert wurden Podolog:innen, deren Behandlung für Diabeteserkrankte besonders wichtig ist. Ihre Besuche unterlagen in 94 Prozent der stationären Einrichtungen Zugangsbeschränkungen, in 39,5 Prozent wurden sie überhaupt nicht mehr zu den Pflegebedürftigen gelassen.

Zurückhaltender waren die Heimleitungen bei den Palliativ-Care-Teams und Sterbebegleitungen. Der Erhebung zufolge kamen solche Fachkräfte in zwei von drei Heimen uneingeschränkt zu den Betroffenen. Allerdings: 34,3 Prozent der Einrichtungen verhängten aus Angst vor Ansteckung auch für sie Zugangsbeschränkungen und 2,6 Prozent sogar gänzliches Zutrittsverbot.

Versorgungsdefizite als Folge der Maßnahmen

Bei diesen Zahlen ist es nicht überraschend, dass viele Bewohner:innen medizinisch unterversorgt waren. Die Heimleitungen bestätigten solche Versorgungsdefizite. In fast jedem fünften Pflegeheim bezog sich der bekundete Mangel auf hausärztliche, in fast jedem dritten auf fachärztliche Behandlung.

Pfleger hilft einem Mann im Pflegeheim beim Trinken (Symbolbild).
Pfleger hilft einem Mann im Pflegeheim beim Trinken (Symbolbild).

© IMAGO/photothek

Dabei erhöhte sich der prozentuale Anteil der davon betroffenen Heime mit der Anzahl der dort bestätigten COVID-19-Fälle. So räumte jedes dritte Heim mit mehr als 20 Corona-Erkrankten (egal ob Bewohner:innen oder Mitarbeiter:innen) hausärztliche Versorgungsdefizite ein. Bei den Einrichtungen mit erkennbarer fachärztlicher Unterversorgung stieg die Quote sogar bei nur 11 bis 20 Infektionsfällen auf bis zu 42,1 Prozent.

Insgesamt bestätigten mehr als ein Drittel der befragten Heimleitungen in ihren Einrichtungen COVID-19-Ausbrüche, wenn dort auch getestet worden war. Solche Tests erfolgten der Studie zufolge allerdings nur in 70,5 Prozent der Pflegeheime. Bei 5,2 Prozent der Getesteten wurde den Angaben zufolge eine Corona-Infektion festgestellt worden. 

Ein knappes Viertel der Betroffenen (23 Prozent) überlebte diese Erkrankung nicht – fast jedes zweite Todesopfer (42,3 Prozent) war vorher ins Krankenhaus gebracht worden. Bei den Mitarbeiter:innen in den Pflegeheimen fielen der Studie zufolge nur 3,7 Prozent der Tests positiv aus.

Angst- und Stress-Symptome bei vielen Pflegekräften

Den Auswirkungen der ersten Pandemiewelle auf die Heimbeschäftigten widmen die Wissenschaftler in der Studie ein eigenes Kapitel. Erschreckend ist demnach ist die Quote der Pflegekräfte, die unter Stress, Depressionen und Angst leiden. Bedenklich hohe Stress-Symptome zeigten 38 Prozent der Befragten, heißt es in der Untersuchung. Davon wiesen 14,9 Prozent eine schwere und 6,8 Prozent sogar eine sehr schwere Stress-Symptomatik auf. Depressions-Symptome seien sogar bei 40,9 Prozent des Pflegepersonals festgestellt werden. Und unter Angst-Symptomen litten 36,3 Prozent.

Die meisten Befragten haben Corona-Ausbrüche auch direkt an ihrem Arbeitsplatz mitbekommen. Drei von vier Fachkräften erlebten dort nach eigenen Angaben mindestens einen COVID-Fall (74,5 Prozent). Von mehr als 20 COVID-Fällen in ihrem Heim berichtete ein gutes Viertel des Pflegepersonals. Gleichzeitig gab fast jede:r Befragte (94,1 Prozent) an, dass die Arbeitsanforderungen seit dem März 2020 unter der Corona-Pandemie gestiegen seien. Mehr als die Hälfte bezeichnete diese Veränderungen als erheblich.

„Die Ergebnisse für die beruflich Pflegenden in der stationären Langzeitpflege seien „dramatisch und erschreckend“, sagte die Vizepräsidentin des Deutschen Pflegerats, Irene Maier. „Wie viele weitere wissenschaftliche Studien, weitere Expertenkommissionen und runde Tische brauchen wir über die jetzige Covid-Heim-Studie hinaus noch, um erneut zu bewerten, wie schlecht es um die Arbeitsbedingungen in der beruflichen Pflege steht?“

Die Politik müsse „umgehend klarere und wirksamere Vorgaben für bessere Arbeitsbedingungen setzen“, drängte die Funktionärin. Bewertungsmaßstab dabei müsse sein, „ob die Maßnahme den beruflich Pflegenden hilft, gesund im Beruf zu bleiben, und ob sie damit zur Patienten- und Bewohnersicherheit beiträgt“. Gleichzeitig warnte der Pflegerat davor, die gestiegenen Arbeitsbelastungen allein auf die Coronakrise zu schieben. Bereits vor der Pandemie sei die Personallage in der Pflege prekär gewesen.

Ausschluss von Angehörigen besonders belastend

Als stärkste Belastung empfand das befragte Pflegepersonal übrigens die Sorgen der Angehörigen während der strikten Besuchsregeln in den Heimen. 95 Prozent der Pflegekräfte litt nach eigenen Angaben darunter. Fast ebenso viele (94,5 Prozent) nannten hier die Sorge vor COVID-19-Infektionen der Bewohner:innen.

Als stärkste Belastung empfand das befragte Pflegepersonal die Sorgen der Angehörigen während der strikten Besuchsregeln in den Heimen. 
Als stärkste Belastung empfand das befragte Pflegepersonal die Sorgen der Angehörigen während der strikten Besuchsregeln in den Heimen. 

© picture alliance/dpa / dpa/Oliver Berg

Auf den weiteren Plätzen folgen die Angst um deren Wohlergehen (94,1 Prozent), die Umsetzung von Handlungsempfehlungen zum Infektionsschutz (92,6 Prozent) sowie die Sorge vor Corona-Infektionen bei Kolleg:innen (91,7 Prozent). Und auch das Fehlen von COVID-19-Tests belastete nach eigenen Angaben gut 80 Prozent des befragten Pflegepersonals.

Die meisten der befragten Pflegekräfte befürchteten auch gesundheitliche Folgen im Falle einer eigenen Infektion – 77,3 Prozent für ihre Angehörigen und 53,1 Prozent für sich selber. Allgemeine Sorgen vor den Auswirkungen der Corona-Pandemie auf ihr Leben bekundeten 63 Prozent.

„Soziale Kontakte müssen erhalten bleiben“

Ein weiterer Teil großer Teil der Studie widmet sich, wie bereits berichtet, den Auswirkungen der Schutzmaßnahmen in den Heimen auf die Bewohner:innen – und möglichen Lehren daraus. Nötig sei dort nicht nur eine Stärkung der hausärztlichen Versorgung, fasste Gernot Kiefer, stellvertretender Vorstandschef des GKV-Spitzenverbands, die Erkenntnisse zusammen.

Um zum Beispiel einer Vereinsamung der Bewohner:innen vorzubeugen, müsse auch deren soziale Teilhabe unter Krisensituationen gewährleistet bleiben, verlangte er. Zu diskutieren sei in diesem Zusammenhang beispielsweise über mehr Angebote für „digitale Kontaktpflege“. 

Es gelte „die Maxime, den Schutz vor Ansteckung so zu gestalten, dass soziales Leben unter anderem durch soziale Aktivitäten und Kontakte erhalten bleibt“, drängen die Autor:innen der Studie in ihrer Zusammenfassung. Zwar hätten die Heimbetreiber die Schutzmaßnahmen in ihren Einrichtungen schnell umgesetzt. 

Das „Spannungsfeld zwischen Gesundheitsschutz und Einschränkungen des sozialen Lebens in den Pflegeheimen“ habe dort aber „nicht im Sinne des Bewahrens der sozialen Eingebundenheit gelöst werden“ können. Stattdessen habe es zu einer gesundheitlichen Gefährdung der Bewohner:innen geführt, dessen Ausmaß „heute noch nicht zu bemessen“ sei. 

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