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Karl Lauterbach (SPD) spricht bei einer Veranstaltung.

© dpa/Henning Kaiser

„Müssten eine Milliarde investieren“: Lauterbach wirft Regierung bei Erschöpfungssyndrom ME/CFS Versagen vor

Hunderttausende leiden an ME/CFS. Die Krankheit ist wenig erforscht. Dass die Koalition nur bis zu 15 Millionen Euro einplant, erbost den Ex-Gesundheitsminister. Er sieht Versprechen gebrochen.

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Die Krankheit ist nicht selten und verläuft oft schwer: Das Erschöpfungssyndrom ME/CFS führt bei Patientinnen und Patienten oft zu einem hohen Grad an körperlicher Behinderung. Dennoch wurde das Chronische Fatigue-Syndrom über Jahrzehnte medizinisch weitgehend ignoriert und kaum erforscht. Die Diagnostik ist aufwendig, wirksame Therapien fehlen, symptomatische Medikamente werden selten verschrieben und kaum erstattet.

ME/CFS steht für Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom und war schon vor Corona bekannt. Die Zahl der Betroffenen hat sich seit Beginn der Pandemie Schätzungen zufolge aber fast verdoppelt, auf 650.000 Erkrankte.

Wir haben den Erkrankten versprochen, dass wir ihnen helfen, haben Forschungsmittel angekündigt. Es passiert aber viel zu wenig.

Karl Lauterbach, Ex-Gesundheitsminister (SPD)

Der ehemalige Gesundheitsminister Karl Lauterbach wirft der Bundesregierung nun Versagen bei der Erforschung von ME/CFS vor. „Die Summen, die bisher im Haushalt stehen, sind völlig inakzeptabel“, sagte der SPD-Politiker dem „Spiegel“. „Da muss dringend nachgebessert werden.“

Lauterbach hält ME/CFS für kein unlösbares Rätsel

Die Koalition von Union und SPD streite derzeit darüber, ob für die Forschung zehn oder 15 Millionen Euro aufgewendet werden sollten, sagte Lauterbach. Dies sei jedoch „nicht im Ansatz die Dimension, die für die Therapieforschung nötig wäre“, fügte er hinzu. „Wir müssten mindestens eine Milliarde Euro investieren“, sagte Lauterbach, der seit Mai den Forschungsausschuss des Bundestags leitet.

Lauterbach hatte auf der Plattform X einer ME/CFS-Patientin geschrieben, die ihren assistierten Suizid angekündigt hatte. Dazu sagte er in dem Interview: „Ich bin mit einigen Betroffenen im Gespräch, die sagen, sie wollen nicht mehr leben. Dass ich das nicht abwenden kann, belastet mich. Ich habe mich in der Pandemie von Anfang an für Long Covid und ME/CFS interessiert und muss sagen: Das ist ein Staatsversagen.“

Lauterbach weiter: „Wir haben den Erkrankten versprochen, dass wir ihnen helfen, haben Forschungsmittel angekündigt. Es passiert aber viel zu wenig.“

Er denke nicht, dass die Krankheit ein unlösbares Rätsel darstelle. „Sie ist viel leichter zu verstehen als manche Krebserkrankungen. Aber der Bereich ist unterfinanziert. Zu erforschen, wie eine Krankheit funktioniert, kostet ein Zehntel der Summe, die für die Entwicklung von Therapien aufgewendet werden muss“, sagte der Mediziner.

Für viele von ME/CFS Betroffene wird meist schon geringste körperliche oder geistige Belastung zur Qual und ein ständiges Gefühl der Erschöpfung, Schlafstörungen, Schmerzen sowie Konzentrations- und Kreislaufprobleme plagen die Patientinnen und Patienten.

Sie sind oft kaum in der Lage, das Bett zu verlassen und extrem empfindlich für Reize wie Lautstärke oder Licht. Viele liegen deshalb die meiste Zeit im abgedunkelten Zimmer, werden erwerbsunfähig und pflegebedürftig.

Merz gibt zu, ME/CFS unterschätzt zu haben

Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) hatte erst am vergangenen Sonntag zugegeben, die Langfrist-Folgen der Covid-Pandemie unterschätzt zu haben. Er verwies in der ARD auf die Bundestagsentscheidung, eine Enquete-Kommission einzusetzen, die sich mit der Aufarbeitung von Corona und Long Covid beschäftigen soll.

„Ich kenne mittlerweile auch persönlich einige Fälle. Ich habe das persönlich auch unterschätzt, was offensichtlich da doch an langfristigen Folgen, auch psychischen Folgen, entstanden ist“, betonte der CDU-Vorsitzende in einer Fragerunde nach dem Sommerinterview auf die Frage, was die Regierung für ME/CFS-Erkrankte tun wolle.

Die Erkrankung hat zudem gesamtgesellschaftliche Folgen, wie eine Mitte Mai veröffentlichte Studie zeigte. Die gesellschaftlichen Kosten von Long Covid und ME/CFS belaufen sich demnach in Deutschland auf mehr als 63 Milliarden Euro pro Jahr. Das entspricht etwa 1,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.

Jörg Heydecke von der ME/CFS Research Foundation und Co-Autor der Studie sagte damals: „Dem errechneten Schaden von 63 Milliarden Euro stehen derzeit nur circa 15 bis 20 Millionen Euro jährlich an öffentlicher Förderung für Diagnostik- und Therapieforschung gegenüber. Das ist weder medizinisch noch ökonomisch zu rechtfertigen.“

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