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Nur Symptome berücksichtigt: Lag die Diagnostik psychischer Probleme bisher daneben?
Psychische Störungen werden ähnlich wie körperliche Erkrankungen nach der Art und Schwere von Beschwerden unterschieden. Doch dieses System sei falsch, warnen Experten. Es sei unpräzise und ungerecht.
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Geht man zum Hausarzt, Urologen, Orthopäden …, dann erwarten die meisten zwei Dinge: eine Diagnose, was man hat, und eine Behandlung, die dagegen hilft. Die Diagnose beruht dann auf organischen Ursachen, wie Schmerzen in der Brust, oder Biomarkern, zum Beispiel bestimmten Blutwerten.
Nach dem gleichen Prinzip verfahren auch Psychologen oder Psychiater. Sie geben der Störung einen Namen, der auf der Art und Schwere der Symptome beruht, und schlagen eine dazu passende Therapie vor. Doch diese aus der Somatik – also von körperlichen Erkrankungen – in die Psychologie übernommene Abgrenzung von gesund zu krank ist in die Kritik geraten.
Die Aufteilung in einzelne Krankheitsbilder sei für die Psychologie zu simpel gedacht
„Die aktuellen Diagnosesysteme suggerieren, dass psychische Störungen klar voneinander abgrenzbare Krankheiten sind – analog zu körperlichen Erkrankungen“, sagt Johannes Zimmermann, Professor für Differentielle und Persönlichkeitspsychologie am Institut für Psychologie der Universität Kassel. Dieses Modell sei jedoch in vielen Fällen irreführend. „Während sich bei einer körperlichen Erkrankung die Diagnose in der Regel auf die gemeinsame Ursache der Symptome bezieht – zum Beispiel bei einem Tumor –, fassen psychische Diagnosen lediglich problematische Erlebens- und Verhaltensweisen deskriptiv zusammen“, sagt Zimmermann.
Die symptombasierten Diagnosen psychischer Erkrankungen lassen sich nicht mit der geforderten Eindeutigkeit mit biologischen Befunden in Verbindung bringen.
Tanja Brückl, Psychologin
Auch Tanja Brückl, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Department Genes & Environment am Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München kritisiert den Ansatz, ausschließlich Symptome – wie Gefühle von Traurigkeit oder Angstanfälle – als leitendes Merkmal für die Klassifikation psychischer Störungen zu verwenden. „Die daraus resultierenden symptombasierten Krankheitskategorien – zum Beispiel eine ,Depression‘ oder ,Panikstörung‘ – spiegeln sich nicht eins zu eins in biologischen Merkmalen wider“, sagt Brückl. „Das heißt, die symptombasierten Diagnosen psychischer Erkrankungen lassen sich nicht mit der für einen diagnostischen Test geforderten Eindeutigkeit mit biologischen Befunden in Verbindung bringen.“
In der Psychiatrie lässt sich die Grenze zwischen „gesund“ und „krank“ nicht so klar definieren
Angststörung, Depression, ADHS, Essstörungen – das alles klingt nach Krankheiten der Psyche, ähnlich den klar gegeneinander abgrenzbaren Krankheiten des Körpers, wie Krebs, Herzinfarkt, Arthrose oder Infektionen. Doch diese beiden Welten der medizinischen Versorgung lassen sich nicht so einfach zusammenführen. Als man vor 40 Jahren in der Psychiatrie ein Diagnosesystem einführte, das auf Symptomen psychischer Störungen basierte, habe man gehofft, „damit auch die ihnen zugrunde liegenden biologischen Mechanismen aufzudecken“, sagt Tanja Brückl. „Die biologische Forschung hat gezeigt, dass diese symptombasierten diagnostischen Kriterien zwar mittlerweile gut messbar sind, aber leider – anders als erhofft – keine biologische Gültigkeit besitzen.“
Deshalb lassen sich in der Psychiatrie die Grenzen zwischen „gesund“ und „krank“ nicht so klar definieren, wie in der somatischen Medizin. Denn solche zur Diagnose psychischer Erkrankungen wichtigen Symptome wie Erschöpfung, gedrückte Stimmung oder Antriebslosigkeit sind Erfahrungen, die wohl fast jeder irgendwann mal im Alltag durchmacht. Ist das dann schon eine Krankheit oder eine vorübergehende Stimmung?
Die verwendeten diagnostischen Schwellenwerte sind oft willkürlich gesetzt, sodass Menschen mit hohem Leidensdruck, die knapp unter der Schwelle liegen, durch das Raster fallen.
Johannes Zimmermann, Psychologe
Um sich zu behelfen, haben Psychologen und Psychiater Handreichungen entwickelt, mit denen sich anhand der Stärke und der Dauer solcher Beschwerden eine Diagnose stellen lässt. Steht der Befund, ist es damit dann möglich, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen und diese Leistungen gegenüber den Krankenkassen abzurechnen. Doch das System hat einen gewaltigen Haken: „Die verwendeten diagnostischen Schwellenwerte sind oft willkürlich gesetzt, sodass Menschen mit hohem Leidensdruck, die knapp unter der Schwelle liegen, durch das Raster fallen“, sagt Psychologie-Professor Johannes Zimmermann.
Trotzdem wird an den traditionellen Systemen festgehalten, sagt Grundlagenforscherin Brückl. Weil „wir bis heute im Dunkeln tappen, was eindeutige, biologisch messbare Ursachen für psychische Störungen betrifft und wir auch sonst keine verlässlichen Biomarker haben, die eine Einteilung psychischer Störungen jenseits von Symptomen zuließen.“
Die Mehrheit der psychisch kranken Menschen erhält mindestens zwei Diagnosen
Und weil sich die Abgrenzung der einzelnen psychischen Erkrankungen als so schwierig erweist, diagnostizierten die Ärzte oft weitere Störungen bei ihren Patienten. Die Mehrheit der Patientinnen und Patienten mit psychischen Erkrankungen erhält mindestens zwei Diagnosen, wie Studien zeigen. Was die Frage aufwirft, ob dann tatsächlich unterschiedliche Störungsbilder vorliegen oder ob die diagnostischen Kategorien die klinische Realität unzureichend abbilden.
Die Behandlungsansätze sind jedoch überwiegend auf einzelne Diagnosen zugeschnitten. Viele Symptome – etwa depressive Verstimmungen – treten nicht nur bei einer schweren Depression, sondern beispielsweise auch bei einer Bipolaren Störung oder Schizophrenie auf. Doch trotz der Überlappungen werden diese Erkrankungen unterschiedlich behandelt.
Deshalb diskutieren Expertinnen und Experten, ob das traditionelle System der Diagnosestellung umgekrempelt werden sollte. Zumal durch die reine Betrachtung der Symptome wichtige Einflussfaktoren bei der Diagnostik außen vor bleiben. Studien zeigen, dass verschiedene biologische, psychologische und Umweltfaktoren – etwa genetische Einflüsse, strukturelle Veränderungen des Gehirns oder belastende Lebenserfahrungen – eine zentrale Rolle bei der Entstehung und dem Verlauf psychischer Erkrankungen spielen.
Andere Systeme würden die Diagnostik psychischer Probleme präziser machen, sagen Experten
Mittlerweile gibt es einige alternative Ansätze, die die Realität psychischer Störungen besser abbilden sollen. Dazu zählen die „Research Domain Criteria“ (RDoC) und die „Hierarchical Taxonomy of Psychopathology“ (HiTOP). Diese Modelle betrachten psychische Erkrankungen über die bisherigen Diagnosegrenzen hinweg. Während RDoC psychische Störungen ausgehend von zugrundeliegenden neurobiologischen und psychologischen Prozessen erklärt, konzentriert sich HiTOP darauf, die vorhandenen Symptome bei einem Menschen in immer detaillierter beschriebenen Gruppen zusammenzufassen und sich dadurch der Frage zu nähern, ob ein psychisches Problem besteht.
„HiTOP zeigt detailliert, welche Beschwerden typischerweise gemeinsam auftreten – zum Beispiel, dass eine depressive Stimmung häufig mit Antriebsarmut verbunden ist – und ordnet diese Zusammenhänge in eine hierarchische Struktur psychischer Syndrome ein“, erklärt Andreas Meyer-Lindenberg. Er ist Direktor des Zentralinstituts für seelische Gesundheit in Mannheim.
Eine Umstellung auf dimensionale Modelle wie HiTOP würde die Diagnostik präziser und informativer machen, sagt auch der Kasseler Psychologe Johannes Zimmermann. „Statt einer pauschalen Etikettierung (,hat Depression‘) entstünde ein nuanciertes Profil der Schweregrade und Problembereiche eines Patienten.“ Studien zeigten, dass solche mehrdimensionalen Maße den langfristigen Verlauf, die funktionale Beeinträchtigung und das Suizidrisiko deutlich besser vorhersagen als ja-nein-Diagnosen.
„Für Betroffene wirkt dieser Ansatz entstigmatisierend, da er verdeutlicht, dass psychische Probleme meist extreme Ausprägungen normaler menschlicher Eigenschaften sind und nicht Ausdruck einer ,Andersartigkeit‘“, sagt Zimmermann. Das Gesundheitssystem könnte von einer effizienteren Ressourcensteuerung profitieren, indem Versorgungsangebote – wie Prävention versus stationäre Therapie – passgenau an den tatsächlichen Schweregrad gekoppelt werden.
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