
© dpa/---
300 Euro für einen Anschlag : Russland wirbt Saboteure in der Ukraine an
Zuletzt kam es vermehrt zu Brandanschlägen auf militärisches Eigentum und zu Angriffen auf Polizeibeamte. Die Täter sind Ukrainer, aber die Auftraggeber sitzen offensichtlich in Russland.
Stand:
Kiew: Eine junge Frau ruft die Polizei. Sie werde bedroht, sagt sie. Doch vor Ort werden die Polizisten mit einer Handgranate empfangen. Nur weil sie gehört haben, wie der Sicherungsstift der Granate gezogen wurde, können sich die Beamten mit einem Sprung aus der Wohnung retten.
Zhytomyr: In einer Polizeistation kommt ein Paket an. Als ein Offizier es aufhebt, explodiert es, der Mann wird schwer verletzt.
In den vergangenen Wochen ist es in der Ukraine vermehrt zu Angriffen mit Sprengstoff gegen Polizeibeamte gekommen, so wie die beiden oben beschriebenen Fälle. Mehrere Angreifer wurden bereits verhaftet.
Den Ermittlern zufolge handelt es sich dabei um Bürger der Ukraine, die für eine versprochene Belohnung von mehreren Hundert Euro Aufträge ausführten. Sie sollen auf Anweisung der russischen Sicherheitsdienste gehandelt haben und sollten als Beleg stets den Moment der Explosion filmen.
Während Attacken mit Sprengstoff eine neue Entwicklung darstellen, geht die Zahl der Brandanschläge in der Ukraine bereits in die Hunderte. Seit Anfang des Jahres hat die Polizei 179 Personen festgenommen, die im Auftrag russischer Spezialdienste Brandanschläge verübt haben sollen. Die Saboteure zielen hauptsächlich auf Militärfahrzeuge ab. Allerdings tauchen im Internet immer häufiger Videos auf, in denen militärische Rekrutierungszentren und Ausrüstung der Eisenbahn in Brand gesetzt werden.
Eine 28-jährige Frau aus der Region Kyrowohrad ist bereits wegen Sabotage verurteilt worden. Ihr Strafe: Sechs Jahre Gefängnis. Dabei hatte die Frau ursprünglich gar nicht vor, Partisanin zu werden. Den Ermittlungen zufolge war sie in Telegram-Kanälen auf der Suche nach einem Nebenjob. Dort wurde sie von Vertretern der russischen Sicherheitsdienste angesprochen, die ihr 300 Euro anboten, wenn sie ein Fahrzeug der Nationalgarde in Brand setzen würde.
Unter den weiteren inhaftierten mutmaßlichen Brandstiftern sind die meisten arbeitslos und vorbestraft, einige von ihnen sind suchtkrank. Aber auch Teenager sind unter ihnen. Laut Jurij Kusmenko, einem Sprecher der Staatspolizei, suchen die russischen Sicherheitsdienste für ihre Anschlagspläne in sozialen Netzwerken gezielt nach Minderjährigen. „Zunächst stellen sie Testaufgaben – zum Beispiel, Graffiti mit anti-ukrainischem Inhalt zu malen und einen Videobeweis zu schicken“, erzählt Kusmenko. „Wenn das gelingt, wird die Aufgabe komplizierter: Der Jugendliche wird zu einer Brandstiftung aufgefordert.“
Der Sozialpsychologe Oleh Pokaltschuk vergleicht das Rekrutierungsnetz mit einem Pyramidensystem. In der ersten Phase gehe es darum, möglichst viele Menschen zu finden, die prinzipiell zu anti-ukrainischen Aktivitäten bereit sind. Und sei es nur aus finanziellen, nicht aus ideologischen Gründen. Die Anfragen werden massenhaft verbreitet, wo immer es möglich ist: Kanäle russischer Militärblogger, Gruppen von Computerspiel-Enthusiasten, Plattformen für die Arbeitssuche, Telegram-Kanäle von Mobilisierungs-Gegnern. Dann werden Personen wieder aussortiert. Diejenigen, die übrigbleiben, sollen den Kern eines subversiven Netzwerks in der Ukraine bilden.
Das Hauptziel dieser Spezialoperation ist nicht, den Militärs greifbaren Schaden zuzufügen, sondern einen Informationseffekt zu erzielen.
Oleh Pokaltschuk, Psychologe
Es gibt auch einen speziellen Chatbot, über den die Ukrainer selbst den Anwerbern ihre Dienstleistungen anbieten können. Nach einigen Fragen zur Situation in der Stadt fordert der Chatbot auf, eine Testaufgabe auszuführen – zum Beispiel die Straße entlangzugehen, in der gestern angeblich ein Militärfahrzeug angezündet wurde und ein Foto zu machen.
Der Chatbot soll in direkter Verbindung mit dem sogenannten Zentrum für Guerillabewegung „Dozor“ stehen, das im Mai 2024 gegründet wurde. Er wird aktiv durch den militärischen Telegram-Kanal „Zwei Majore“ mit mehr als einer Million Abonnenten beworben. „Jede Hilfe ist wertvoll“, heißt es in dem Aufruf. „Kämpft, seid stark, schließt euch den Reihen der Watch an! Wir werden euch lehren, wie man dem Feind widersteht“. Bei dem Feind handelt es sich in diesem Fall um die ukrainische Regierung und Armee.
Hinter den Rekrutierungen und Anschlägen steht das russische Ziel, in den Medien ein Bild eines angeblichen pro-russischen Untergrunds zu zeigen. „Das Hauptziel dieser Spezialoperation ist nicht, den Militärs greifbaren Schaden zuzufügen, sondern einen Informationseffekt zu erzielen“, erklärt der Psychologe Oleh Pokaltschuk.
Die Videoaufnahmen von brennenden Autos und Rekrutierungszentren sollen den Eindruck erwecken, dass die Unzufriedenheit mit den Behörden und der Mobilisierungskampagne in der Ukraine wächst.
Der propagandistische Medieneffekt ist jedoch nur ein Teil einer größeren Kampagne. Offenbar sind die russischen Sicherheitsdienste ernsthaft damit beschäftigt, eine Datenbank von Ukrainern anzulegen, die in Zukunft mit besonders wichtigen Aufgaben betraut werden könnten – und zwar mit der Sammlung von Informationen über Standorte und Routen von Militäreinheiten und mit der Umsetzung von feindlichen Angriffen auf ukrainische Ziele.
Seit Beginn der Vollinvasion haben ukrainische Gerichte bereits 180 Urteile gegen Kollaborateure der russischen Truppen verhängt. Dem russischen Geheimdienst gelingt es jedoch, immer neue Täter zu finden, die auch von hohen Strafen nicht abgeschreckt werden. Die Hilfeleistung für einen militärischen Feind wird mit bis zu lebenslanger Haft bestraft.
- Jugend
- Lehrer
- Polizei
- Russland
- Ukraine
- Українські журналісти в Tagesspiegel/Ukrainische Journalistinnen im Tagesspiegel
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: