
© AFP/OMAR AL-QATTAA
„Absichtsvoll“ Leid über die Palästinenser gebracht: Amnesty wirft Israel Völkermord in Gaza vor
Begeht Israel im Gazastreifen einen Genozid? Amnesty International bejaht das und beruft sich auf eine umfangreiche Untersuchung. Wie Experten den Vorwurf einschätzen.
Stand:
Der Bericht gleicht einer Anklageschrift. Auf fast 300 Seiten listet Amnesty International in einem neuen Report auf, was nach Überzeugung der Menschenrechtsorganisation für einen Völkermord im Gazastreifen spricht.
Das Fazit: Es gebe hinreichende Belege dafür, dass ein Genozid an den dort lebenden Palästinensern begangen werde – von Israel. Handlungen ebenso wie Unterlassungen im Zuge der Militäroffensive würden dafür sprechen, dass bis heute „absichtsvoll“ Leid und Zerstörung über die Bewohner des Küstenstreifens als Gruppe gebracht werde.
Die Regierung in Jerusalem weist diese Vorwürfe immer wieder vehement zurück. Wer solche Anschuldigungen vorbringe, sei voreingenommen und verfolge eine politische Agenda, heißt es.
Empfohlener redaktioneller Inhalt
An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.
Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.
Eine Anklageschrift auf fast 300 Seiten
Amnesty stützt sich bei den jetzt erhobenen Vorwürfen nach eigenen Angaben auf Recherchen von Feldforschern vor Ort, mit denen man lange und „vertrauensvoll“ zusammenarbeite. Für den Bericht habe man zudem mehr als 200 Palästinenser in Gaza befragt, darunter Vertreter von Kommunen und medizinisches Personal.

© dpa/Abed Rahim Khatib
Ausgewertet wurde demnach auch visuelles und digitales Material wie Satellitenaufnahmen, dazu Berichte von UN-Organisationen sowie mehr als 100 Aussagen hochrangiger israelischer Vertreter, die sowohl der Regierung als auch dem Militär angehören. In diesen Stellungnahmen seien Palästinenser „entmenschlicht“ oder es sei zu Verbrechen gegen sie aufgerufen worden.
Sollen die Palästinenser als Gruppe zerstört werden?
Die Untersuchung bezieht sich auf den Zeitraum zwischen dem 7. Oktober 2023 – dem Tag des Massakers der Hamas mit 1200 Toten und 250 Verschleppten – und Anfang Juli 2024. Es gebe keine Anzeichen dafür, dass sich Israels Verhalten seitdem geändert habe.
Amnesty sieht viele gewichtige Anhaltspunkte dafür, dass Israel gegen die Völkermordkonvention verstoße. Das „Gesamtbild“ des Einsatzes in Gaza zeige eine „genozidale Absicht“.
Auch der Internationale Gerichtshof beschäftigt sich mit dieser Frage. In Den Haag geklagt hat Südafrika bereits im Dezember 2023.
Die Menschenrechtsorganisation kommt nun in ihrem Bericht zu dem Schluss, Israel gehe es darum, die Palästinenser als Gruppe zu vernichten. „Hierzu zählen Tötungen von Mitgliedern der Gruppe, die Verursachung schwerer körperlicher oder seelischer Schäden sowie die vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen“, die geeignet seien, die Vernichtung der Palästinenser im Gazastreifen ganz oder teilweise herbeizuführen.

© AFP/Jack Guez
Die Menschenrechtsorganisation hat unter anderem 15 israelische Luftschläge untersucht. Diese stünden exemplarisch für ein „großflächiges Muster wiederholter Angriffe auf Zivilpersonen und zivile Objekte“.
Die Bombardements seien zu Zeiten durchgeführt worden, in denen klar sein musste, dass die Menschen schlafend zu Hause waren. Auch das erkläre die hohe Zahl der Todesopfer. Laut dem von der Hamas kontrollierten Gesundheitsministerium sind mehr als 40.000 Palästinenser getötet worden.
Israel weist die Anschuldigungen seit langem zurück
Amnesty verweist darüber hinaus auf die „vorsätzliche“ Zerstörung lebenserhaltender Infrastruktur. Israel be- und verhindere die Bereitstellung existenzieller Dienstleistungen und humanitäre Hilfe. Mit der Blockade des Gazastreifens und der Zerstörung von Häusern, Kliniken und Sanitäranlagen verschärfe die Führung in Jerusalem die humanitäre Krise im Küstengebiet.
Israel lässt diese immer wieder vorgebrachten Anschuldigungen nicht gelten. Das Land verweist darauf, dass sowohl die Zerstörung als auch die Verweigerung humanitärer Hilfe auf das rechtswidrige Verhalten der Terrororganisation Hamas zurückzuführen sei.
Deren Kämpfer würden die Zivilbevölkerung und Einrichtungen wie Krankenhäuser oder Schulen nutzen, um von dort aus israelische Soldaten anzugreifen. Die Menschenrechtsorganisation argumentiert dagegen, das rechtswidrige Verhalten der Hamas entbinde Israel nicht von der Pflicht, Zivilisten zu schützen.
Ich bin sehr skeptisch, ob das Tatbestandsmerkmal der Vernichtungsabsicht, das zwingend für Völkermord gegeben sein muss, tatsächlich erfüllt ist.
Christoph Safferling, Professor für internationales Strafrecht und Völkerrecht
Aber liegt Israels Vorgehen im Gazastreifen letztendlich eine „genozidale Absicht“ zugrunde, wie Amnesty International es durch seinen neuen Bericht als erwiesen ansieht?
Christoph Safferling ist generell sehr skeptisch, ob das Tatbestandsmerkmal der Vernichtungsabsicht, das zwingend für einen Völkermord gegeben sein müsse, tatsächlich erfüllt sei.
Das setzt nach Angaben des Professors für internationales Strafrecht und Völkerrecht an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg voraus, dass es Israel auf die Vernichtung der Palästinenser ankommen lassen müsse. „Das sehe ich für den Staat Israel, trotz schlimmer Aussagen auch einiger Regierungsvertreter, nicht.“
Wie sehr besteht der Wille, die Palästinenser zu vernichten. Oder geht es um den Überlebenswillen Israels?
Elisabeth Hoffberger-Pippan, Mitarbeiterin am Leibniz-Instituts für Friedens- und Konfliktforschung
Die Völkerrechtsexpertin Elisabeth Hoffberger-Pippan verweist ebenfalls darauf, dass für einen Genozid der Vorsatz gegeben sein müsse, ein Volk oder Teile einer Bevölkerung zu vernichten.
„Ob diese Absicht bei Israel vorliegt, ist schwierig nachzuweisen, auch wenn einzelne Äußerungen von Regierungsvertretern in diese Richtung deuten“, sagt die Mitarbeiterin am Leibniz-Instituts für Friedens- und Konfliktforschung in Frankfurt am Main (PRIF).
Das könnten zwar Indikatoren sein. „Aber im Fall von Gaza muss man auch den Kontext berücksichtigen: Die entsprechenden Aussagen etwa vom früheren Verteidigungsminster Yoav Gallant („Wir kämpfen gegen menschliche Tiere“) wurden unmittelbar nach dem Massaker der Hamas gemacht.“
Hinzu komme, dass Israels Streitkräfte gegen einen Gegner kämpfen, der die Existenz des jüdischen Staats gewaltsam infrage stellt. „Wie sehr besteht der Wille, die Palästinenser zu vernichten. Oder geht es um den Überlebenswillen Israels?“ Am Ende könne nur ein Gremium wie der Internationale Gerichtshof klären, ob Israels Verhalten mit einer „genozidalen Absicht“ einhergehe.
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid:
- false