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Eine Wahlurne wird in Hongkong geöffnet im November 2019.

© Reuters/Thomas Peter

Das internationale Wahljahr 2023: Angst vor Unruhen in Nigeria, Wahlpflicht in Argentinien – und Erdogan will nochmal

In 52 Staaten wird in diesem Jahr gewählt. Für die einen ist der Gang zur Wahlurne Pflicht, für andere lebensgefährlich. Ein Überblick über wichtige Wahlen des Jahres.

Eine Neofaschistin regiert Italien, in Kolumbien ist ein früherer Guerillero Präsident, Brasilien wählte den Rechtsaußen Jair Bolsonaro ab, und in den USA blieb die „rote Welle“ in den Midterm-Wahlen überraschend aus.

Es waren die womöglich spektakulärsten Wahlen des vergangenen Jahres. Millionen Menschen weltweit entschieden 2022, wie sie regiert werden wollen. Millionen weitere werden es in diesem Jahr in 52 Ländern tun.

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Der freie Gang zur Wahlurne sei „das absolute Minimum, um die Mitbestimmung des Volkes zu sichern”, sagt Theres Matthieß, Juniorprofessorin für Demokratieforschung an der Universität Trier. Wähler:innen sanktionierten so Regierungen, wenn sie deren Leistung in der vergangenen Legislaturperiode als ungenügend bewerten – ein wichtiger Mechanismus, damit Parteien Wahlversprechen einhielten.

In den vergangenen 60 Jahren sei die Qualität von Wahlen weltweit gewachsen. Matthieß verweist auf den „Electoral Democracy Index” (EDI) des Varieties of Democracy Projekts, das ist ein unabhängiges Forschungsinstitut in Schweden, das die Qualität von Demokratien anhand verschiedener Merkmale misst.

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Um die Wahlqualität zu bewerten, wird unter anderem gemessen, wer in einem Land alles wahlberechtigt ist, ob Wahlen beeinflusst werden und ob freie Meinungsäußerung möglich ist. Laut aktuellen Zahlen von 2022 ist die Wahlqualität in Dänemark, Schweden und Costa Rica am höchsten.

Es gab aber auch Rückschritte: „Die gemessene Wahlqualität in den vergangenen 20 Jahren hat sich besonders in Osteuropa und Zentralasien verschlechtert. In Westeuropa und Nordamerika ist der Rückgang vorerst nur leicht”, erklärt Matthieß. In den USA beispielsweise verschieben vor Wahlen die Parteien in den Bundesstaaten, in denen sie an der Macht sind, die Wahlkreisgrenzen zu ihren Gunsten.

In autokratischen Staaten, in denen politische Opposition nicht existiert oder unterdrückt wird und wo es kaum freie Medien gibt, werde zwar gewählt. Aber dabei gehe es nicht um die demokratische Mitbestimmung, sondern um die Legitimation der Herrschenden.


Türkei: Der Sultan lässt für sich abstimmen

Auch in diesem Jahr wird in einigen Staaten mit verschlechterter oder fehlender demokratischer Kultur gewählt. In der Türkei, die im Juni gleichzeitig über Parlament und Präsident abstimmt, hat der amtierende Staatschef Recep Tayyip Erdogan den Rechtsstaat ausgehöhlt und über die Jahre ein auf sich zugeschnittenes Präsidialsystem aufgebaut.

Erdogan hat in der Türkei nicht nur die Demokratie, sondern auch die Wirtschaft gelähmt.
Erdogan hat in der Türkei nicht nur die Demokratie, sondern auch die Wirtschaft gelähmt.

© AFP/Adem Altan

Nun soll sein Rivale, der beliebte Bürgermeister von Istanbul, Ekrem Imamoglu, mithilfe der linientreuen Justiz ins Gefängnis gebracht werden. Nicht nur die Demokratie hat Erdogan beschädigt, auch die Wirtschaft des Landes ist gelähmt: Bei 64 Prozent liegt die Inflationsrate, unabhängigen Expert:innen zufolge lag sie zwischenzeitlich bei 171 Prozent.

Erdogan könnte wiedergewählt werden. Sollte er dennoch die Mehrheit verfehlen, werden für den Fall, dass er seine Niederlage nicht akzeptiert, politische Unruhen in dem Land mit seinen 85 Millionen Einwohnern erwartet.


Nigeria: Wo zur Wahl gehen gefährlich sein kann

Gewaltätige Unruhen könnte es auch nach der Präsidentschaftswahl in Nigeria, dem mit über 211 Millionen Einwohnern bevölkerungsreichsten Land Afrikas, geben – durch extremistische Gruppen.

Gewalt gegen die Bevölkerung ist ein massives Problem im Land. In den vergangenen Jahren wurden Hunderte Menschen von extremistischen Gruppen aus politischen Motiven entführt. Entführungen gegen Lösegeld sind beinahe Alltag im Norden des Landes geworden. Auch Nigerias Demokratie leidet unter der verbreiteten Gewalt: Immer wieder werden im Vorfeld vor Wahlen Büros der nigerianischen Wahlkommission von Separatistengruppen angegriffen.

Aus Angst vor Unruhen könnten viele Nigerianer am Wahltag darauf verzichten, ihre Stimme abzugeben.
Aus Angst vor Unruhen könnten viele Nigerianer am Wahltag darauf verzichten, ihre Stimme abzugeben.

© AFP/Yasuyoshi Chiba

Bei den Parlamentswahlen Ende Februar spielt Sicherheit daher auf mehreren Ebenen eine große Rolle. „Unruhen erschweren schon die ganz grundlegenden Voraussetzungen einer freien und fairen Wahl: überhaupt sicher an die Wahlurne zu kommen”, sagt Matthieß. Es könnte also passieren, dass viele Nigerianer:innen aus Angst darauf verzichten, am Wahltag ihre Stimme abzugeben.

Sollte es keinen eindeutigen Sieger geben, würde es zu einer Stichwahl kommen – die Sicherheitslage könnte noch heikler werden.

Dabei wäre ein friedlicher Machtwechsel für Mittel- und Westafrika ein wichtiges Hoffnungszeichen, denn in den vergangenen Jahren kam es immer wieder zu Militärputschen in der Region – in Mali, Guinea, im Tschad, in Burkina-Faso und im Sudan.

Der Vorsitzende der Afrikanischen Union Moussa Faki Mahamat rügte diese Entwicklung. Beim Jubiläumstreffen zu 20 Jahren AU Mitte vergangenen Jahres sagte er: „Fünf Putsche in weniger als zwei Jahren: Es scheint, als ob Afrika einen Rückschritt in die 70er Jahre macht. Das ist absolut inakzeptabel.”


Pakistan: Wählen im explosiven politischen Klima

Aufgeheiztes politischen Klima, die Verarmung der Bevölkerung und Umweltkatastrophen: Vor diesem Hintergrund sollen Pakistaner:innen ein neues Parlament im Oktober wählen.

Dabei hat der Ex-Kricketspieler Imran Khan, der mit Unterstützung des Militärs 2018 Premierminister wurde, gute Aussichten. Im April 2022 wurde er frühzeitig abgesetzt, als er ein Misstrauensvotum, das die Opposition gegen ihn initiierte, verlor, kurz nachdem ein Koalitionspartner seine Regierungskoalition verließ und mehrere Abgeordnete seiner Partei ihm den Rücken kehrten.

Imran Khan, Vorsitzender der politischen Partei Pakistan Tehreek-e-Insaf, in der Nähe von Islamabad, 2017.
Imran Khan, Vorsitzender der politischen Partei Pakistan Tehreek-e-Insaf, in der Nähe von Islamabad, 2017.

© Reuters/Caren Firouz

Seitdem treibt er seine Anhänger zu Protesten, um seinen Nachfolger, Premierminister Shehbaz Sharif, zu stürzen. Aber auch Khan wird angefeindet: Im November 2022 erreichte das politische Chaos seinen Höhepunkt, als Khan bei einem gescheiterten Attentat verwundet wurde. In diesem explosiven Politklima konkurrieren Khan, Sharif und Asif Ali Zardari, Witwer der 2008 ermordeten ehemaligen Premierministerin Benazir Bhutto.

Währenddessen leiden die knapp 225 Millionen Einwohner des Landes nicht nur unter der politischen Instabilität der Atommacht: Während Politiker opportunistisch um Macht kämpfen, steht die Inflation bei über 20 Prozent, und eine große Zahl von Überschwemmungen hat nicht nur Ernten zerstört und Hunger verursacht, sondern eine humanitäre Katastrophe ausgelöst. Wer immer die Wahl gewinnt: Entscheidend für den politischen Erfolg ist die Unterstützung des pakistanischen Militärs.


Spanien: Eine Koalition weit rechts außen?

Ob Europa weiter nach rechts rückt, wird auch in Spanien entschieden. Die konservative Volkspartei PP ist nach ihrem Sieg bei der Regionalwahl in Andalusien, wo die meisten der 47 Millionen Spanier:innen leben, im Höhenflug und könnte bei den nationalen Parlamentswahlen im Dezember 2023 den größten Stimmenanteil bekommen.

Um zu regieren, dürfte sie aber Unterstützung brauchen, vermutlich von der weit rechts stehenden Vox-Partei. Nach Italien und Schweden wäre Spanien dann das dritte westeuropäische Land, in dem Rechtsextreme an der Regierung beteiligt sind oder sie unterstützen.


Argentinien: Ende einer Ära?

Die Argentinier:innen wählen 2023 einen neuen Präsidenten, den Nationalkongress und regionale Gouverneure. Die Mitte-Links-Peronisten, die 45 Millionen Argentinier:innen in den vergangenen Jahrzehnten regierten, sind gespalten und angeschlagen.

Die peronistische Partei mit Präsident Alberto Fernandez (l) und Vizepräsidentin Cristina Fernandez (r) ist gespalten und angeschlagen.
Die peronistische Partei mit Präsident Alberto Fernandez (l) und Vizepräsidentin Cristina Fernandez (r) ist gespalten und angeschlagen.

© Imago/Agencia EFE / Fabian Mattiazzi

Die peronistische ehemalige Präsidentin und derzeitige Vizepräsidentin Cristina Fernández de Kirchner wurde kürzlich in einem Korruptionsprozess zu sechs Jahren Haft verurteilt.

Die Lage der alten Regierungspartei und die hohe Inflation könnten dem Populisten Javier Milei ins Präsidentenamt verhelfen, dessen Auftreten schon mit Brasiliens Jair Bolsonaro und Amerikas Donald Trump verglichen wurde.

Eine Besonderheit der Wahl in Argentinien: Das Volk darf nicht, es muss abstimmen. Wahlpflicht soll die Wahlbeteiligung erhöhen, aber sie ist umstritten: „Das Recht auf Nicht-Wahl und Nicht-Beteiligung ist auch Teil von Demokratie“, sagt Matthieß. Einige Länder haben sie deswegen abgeschafft, zum Beispiel Österreich 2004.

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