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Die Mehrheit der Menschen im abgeriegelten Gazastreifen hungert.

© Reuters/Mahmoud Issa

„Ein Tropfen auf dem heißen Stein“: Erstmals wieder Hilfslieferungen im Gazastreifen angekommen

Zwei Millionen Menschen hungern in Gaza, seit Anfang März blockiert Israel Hilfe. Jetzt erlaubt Regierungschef Netanjahu wieder Lebensmittellieferungen – aus strategischer Notwendigkeit.

Stand:

Die Menschen im Gazastreifen hungern und viele sind in Gefahr, zu verhungern. Seit mehr als zwei Monaten blockiert Israel jegliche Hilfslieferungen in den abgeriegelten Küstenstreifen, Anfang Mai verteilten die Vereinten Nationen gemeinsam mit internationalen Hilfsorganisationen die letzten Lebensmittel in der Enklave.

Seitdem sind mehr als zwei Millionen Frauen, Männer und Kinder auf sich allein gestellt – jeder Einzelne von ihnen ist laut dem jüngsten Bericht der Integrierten Klassifikation zur Ernährungssicherheit (IPC) „akut von einer Hungersnot bedroht“. Knapp eine halbe Million Menschen lebt bereits unter „Hungersnot-ähnlichen Zuständen“, ihnen fehlt jeglicher Zugang zu Lebensmitteln.

Während Israel seine Luftangriffe unvermindert fortsetzt, allein in der vergangenen Woche sind Angaben der von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde mehr als 300 Menschen bei Bombenangriffen getötet worden, will Premierminister Benjamin Netanjahu die Blockade humanitärer Hilfe zumindest teilweise aussetzen.

Am Montagabend erreichten schließlich erste Lastwagen mit Hilfsgütern das Küstengebiet, teilte die für Palästinenserangelegenheiten zuständige israelische Behörde Cogat mit. Nach Angaben der Vereinten Nationen habe es sich um neun Fahrzeuge gehandelt.

Die Genehmigung einer Wiederaufnahme von „begrenzten“ Hilfen durch Israel sei eine „willkommene Entwicklung, die weiter gelten muss“, aber „das ist ein Tropfen auf den heißen Stein“, erklärte UN-Nothilfekoordinator Tom Fletcher.

Kinder kommen mangelernährt zur Welt

Auf Empfehlung des israelischen Militärs (IDF) und „aufgrund der operativen Notwendigkeit, die Ausweitung der Militäroperation zur Zerschlagung der Hamas zu ermöglichen“ wolle Jerusalem nun die Einfuhr einer „Grundversorgung an Nahrungsmitteln“ ermöglichen. Das teilte das Büro des Regierungschefs der Deutschen-Presse Agentur zufolge mit. Weiter hieß es, dass Israel so sicherstellen wolle, dass im Gazastreifen „keine Hungerkrise“ entsteht.

Nur ist die zahlreichen internationalen Organisationen zufolge bereits seit Langem eingetreten.

„Das ist eine menschengemachte humanitäre Katastrophe, und wir dürfen ihr keinen Tag länger zusehen“, sagte Florian Westphal, Geschäftsführer von Save the Children Deutschland, bereits in der vergangenen Woche. „An den Grenzen verrottet das Essen auf Lastwagen, während die Menschen wenige Kilometer weiter an Unterernährung sterben.“

Immer mehr Neugeborene kommen ihm zufolge mangelernährt zur Welt, Kinder suchen zwischen zerbombten Häusern nach den letzten Resten Nahrung. „All das ist unvorstellbar, für die Menschen in Gaza aber Alltag.“

Etwa 71.000 Kinder und mehr als 17.000 Mütter sind von akuter Mangelernährung bedroht, warnen UNICEF und das UN-Welternährungsprogramm.

© Reuters/Hatem Khaled

Anica Heinlein von der Hilfsorganisation Care Deutschland wird im Gespräch mit dem Tagesspiegel noch deutlicher: „Die gesamte Bevölkerung isst zu wenig, um gesund zu bleiben“, sagt die Leiterin Advocacy. „Babys, die nur noch zwei Kilo wiegen, sind so geschwächt, dass sie keinerlei Abwehrkräfte mehr haben. Eltern, die selbst nur noch eine Scheibe Brot am Tag essen, um wenigstens den Kindern ein paar Kalorien mehr zu lassen.“

Doch Netanjahu scheint es dabei womöglich weniger um die zwei Millionen hungernden Palästinenser und Palästinenserinnen zu gehen als vielmehr um die Erfolgsaussichten der jüngst gestarteten Bodenoffensive „Gideons Streitwagen“.

Israel müsse „eine Hungersnot vermeiden, sowohl aus praktischen als auch aus diplomatischen Gründen“, begründete der Regierungschef in einem Video in den sozialen Medien der Tageszeitung „Haaretz“ zufolge seine Entscheidung. Ohne internationale Unterstützung sei Jerusalem nicht in der Lage, die Mission des Sieges gegen die Hamas zu erfüllen.

Mutmaßlich will Israel damit eine Übergangslösung schaffen, ehe ein neues System der Hilfe voraussichtlich Ende Mai funktionsfähig ist. Internationale und UN-Organisationen sollen die humanitäre Hilfe bis dahin wieder übernehmen.

Der Gazastreifen ist großflächig zerstört.

© Quelle/Luftbild: Unosat | Grafik: Tsp/Infografik

Für viele von ihnen, mit denen der Tagesspiegel gesprochen hat, war am Montagnachmittag noch völlig offen, wie die jüngste Ankündigung weiter umgesetzt werden soll.

Care berichtet, dass es mit den Verantwortlichen zuvor keine Absprachen gegeben habe: „Auch wir erfahren bislang vor allem über Medienberichte, was geplant ist“, sagt Anica Heinlein.

Ebenfalls unbekannt ist, welche Güter in den Gazastreifen kommen dürfen. Seit die Blockade Anfang März in Kraft trat, durften weder Lebensmittel noch andere Hilfsgüter, beispielsweise zur medizinischen Versorgung, in die Enklave transportiert werden.

Immer wieder auf der Flucht: Für knapp 70 Prozent des 365 Quadratkilometer kleinen Küstenstreifens sind Evakuierungsbefehle erlassen worden.

© Reuters/Hatem Khaled

Die Teams von Ärzte ohne Grenzen in Gaza haben seit zwölf Wochen keine Lieferungen mehr erhalten und sind mit einem kritischen Mangel an essenziellen medizinischen Gütern wie sterilen Verbänden und Handschuhen konfrontiert.

„Die noch funktionierenden Gesundheitseinrichtungen, deren Anzahl und Kapazitäten für die Bevölkerung ohnehin schon völlig unzureichend sind, werden weiterhin angegriffen und verzeichnen ebenfalls einen rapide schwindenden Vorrat an Medikamenten und anderen lebenswichtigen Gütern“, berichtet die Hilfsorganisation dem Tagesspiegel.

In den vergangenen zwei Wochen sei in Gaza-Stadt zudem ein Anstieg der Zahl der Patientinnen und Patienten mit Mangelernährung um 32 Prozent verzeichnet worden.

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Bei europäischen Staats- und Regierungschefs stößt das Vorgehen der israelischen Regierung zunehmend auf massive Kritik.

Großbritanniens Regierungschef Keir Starmer sagte am Rande des britischen EU-Gipfels in London am Montag, dass die Lage in Gaza nicht zu tolerieren sei. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen mahnte, Hilfen für die Zivilbevölkerung dürften niemals politisiert werden.

Kritik vom rechtsextremen Koalitionspartner

Die überraschende Entscheidung Benjamin Netanjahus, die Grenzen für Lebensmittellieferungen nun teilweise zu öffnen, dürfte auch damit zu tun haben. Zuletzt hatte sogar Washington, Israels wichtigster Waffenlieferant, Druck auf Jerusalem ausgeübt.

Benjamin Netanjahus Entscheidung, Hilfslieferungen teilweise wieder zuzulassen, stößt bei seinem Kabinettskollegen Bezalel Smotrich eher auf Ablehnung.

© REUTERS/RONEN ZVULUN

Bei seinem rechtsextremen Koalitionspartner stößt das auf Unmut. In einer Stellungnahme befürwortete Bezalel Smotrich am Montag vielmehr deutlich härtere Maßnahmen. „Solange die letzte Geisel nicht zurückgebracht ist, sollten wir nicht einmal Wasser schicken. Aber wenn wir so handeln, wird die Welt einen sofortigen Stopp unseres Krieges erzwingen“, sagte der radikale Finanzminister der Deutschen Presse-Agentur zufolge am Montag.

Stattdessen werde es „Essen geben für die Bevölkerung, damit wir den Krieg weiterführen können“. Zudem sollen die Palästinenserinnen und Palästinenser in den kommenden Tagen „nicht mehr als ein Stück Fladenbrot und einen Teller Essen“ erhalten.

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