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Veranstaltungsraum der Your Party.

© Moritz Valentino Matzner

Eine neue linke Partei für Großbritannien: Glaubt die Your Party wirklich, sie hätte eine Chance?

An diesem Wochenende gründen Großbritanniens Linke eine neue Partei: die Your Party. Dabei spricht fast alles gegen sie. Was treibt sie trotzdem an? Zu Besuch bei einem Ortsverein. 

Stand:

Der Ort, von dem aus Michaela Sheridan das britische Parteiensystem auf links drehen will, ist eine Mehrzweckhalle im Südosten Englands. Holzpaneele mit Graffiti lehnen an den Wänden, auf der Männertoilette steht ein Eimer zwischen den Pissoirs unter einer tropfenden Leitung.

Sheridan ist 29, hat lange, dunkle Haare und während sie Plastikstühle in der Halle des Gemeindezentrums in Medway aufstellt, erzählt sie von einem Plan, der so gar nicht zum Zeitgeist zu passen scheint: Sheridan will eine neue linke Partei gründen. Sie ist Mitglied von Your Party. Einer Bewegung, im Sommer ins Leben gerufen von Jeremy Corbyn und Zarah Sultana, zwei früheren Abgeordneten der sozialdemokratischen Labour Partei und Stars der britischen Linken.

Hunderttausende setzten sich damals innerhalb weniger Tage auf die E-Mail-Liste der Bewegung, in Dutzenden Städten gründeten sich lokale Gruppen, eine davon in Medway, einer ehemaligen Industriestadt, dort, wo die Themse in die Nordsee mündet.

30
Prozent der Menschen in Großbritannien würden die Rechtsaußenpartei Reform UK wählen.

Das erste Treffen habe es vor fast sechs Wochen gegeben, erzählt Sheridan. 35 Personen seien damals gekommen. Heute erwartet sie doppelt so viele, zwei überdimensionierte Wasserkocher stehen deshalb auf einem abgewetzten Holztisch und füllen die Halle mit einem konstanten Surren.

Dabei stehen Sheridan und Your Party auf einem, so scheint es, verlorenen Posten. Denn seit Jahren bewegt sich die britische Politik vor allem in eine Richtung: immer weiter nach rechts. Erst vor ein paar Wochen brachte die extreme Rechte in London mehr als 120.000 Menschen auf die Straße. Auch Elon Musk war zugeschaltet, per Video. Und Reform UK, die rechte Partei von Nigel Farage, steht landesweit in Umfragen bei über 30 Prozent.

Sheridan legt den Kopf leicht schief. Ja, die Rechte sei auf dem Vormarsch. „Aber es gibt hier auch einen Wunsch nach einer politischen Neuerung von links.“ Hat sie recht?


Das Treffen

Zumindest in Medway ist an diesem Samstag im November von einer Bewegung noch nicht viel zu spüren. Um kurz nach zwölf haben sich erst ein paar wenige Personen in das Gemeindezentrum verirrt, gegen halb eins füllt sich die Halle etwas, rund 20 Personen, viele mit grauen Haaren, haben auf den Stühlen Platz gefunden.

Sheridan hält eine kurze Rede. Sie spricht von den Orten für die Gemeinschaft, die verloren gehen. Von einer Privatisierung, die an den Bedürfnissen der Menschen vorbeigeht. Eine Fahrt mit dem Bus koste drei Pfund, wer solle sich das leisten können, fragt Sheridan, Leute klatschen.

Michaela Sheridan hat das Treffen der lokalen Gruppe organisiert.

© Moritz Valentino Matzner

An diesem Wochenende findet in Liverpool der Gründungsparteitag von Your Party statt. Bis jetzt sind nur ein paar Dokumente online verfügbar. Darin scheut man sich nicht vor großen Worten: „Your Party ist eine demokratische und sozialistische Partei, die für Frieden, Gleichheit, soziale Gerechtigkeit und internationale Solidarität einsteht“, heißt es in dem Gründungsdokument. Viele Mitglieder kommen aus der Pro-Palästina-Bewegung, über den Sommer brachte diese Hunderttausende auf die Straße und politisierte vor allem junge Menschen.

Your Party ist eine demokratische und sozialistische Partei, die für Frieden, Gleichheit, soziale Gerechtigkeit und internationale Solidarität einsteht.

Aus einem Gründungsdokument von Your Party

In der Mehrzweckhalle in Medway tragen einige der Anwesenden eine Kufiya, das Tuch der palästinensischen Nationalbewegung. Auch Mark, um die vierzig, schwarze Brille und Regenjacke. Aber als er kurz nach Sheridans Rede das Wort ergreift, geht es nicht um Palästina, sondern um seinen Heimatort.

In den Redebeiträgen geht es meist um wirtschaftliche Sorgen.

© Moritz Valentino Matzner

„Ich lebe in einem Shithole“, sagt Mark. Er sei in Medway aufgewachsen, heute pendelt er wie viele nach London. Dort arbeitet er als Plattform Operator für die U-Bahn, koordiniert die Passagierströme. Wir müssen unsere Gemeinschaft wieder aufbauen, sagt Mark, die Wunden heilen, welche die Deindustrialisierung und die Privatisierung in die Stadt gerissen haben.

Ich lebe in einem Shithole.

Mark, ein Mitglied von Your Party

Fast alle Menschen, die bei der Veranstaltung zu Wort kommen, arbeiten in der Serviceindustrie, der Pflege, sozialen Berufen. Sie sprechen von Überlastung und zu wenig Geld. In der Nachbarschaft, in der das Your-Party-Treffen stattfindet, lebt fast jedes dritte Kind in Armut.

Früher war das anders. Medway war eine industrielle Hochburg, 400 Jahre lang baute die Royal Navy hier Schiffe. 1984 dann war Schluss, unter der Sparpolitik Margaret Thatchers wurde die Schiffsproduktion eingeschlossen. Jede:r Vierte verlor die Arbeit, wie eine Studie der Universität Kent später feststellte.

Doch spätestens seit der Coronapandemie ist Armut nicht nur ein Problem in Medway, sondern im gesamten Königreich. Seit Jahren steigen die Lebenshaltungskosten massiv an. Im Oktober 2021 erreichte die Inflation einen Höchstwert von über elf Prozent.

Der Gemeinschaftsgarten des Zentrums in Medway.

© Moritz Valentino Matzner


Die politische Krise

Diese wirtschaftliche Krise wurde über die Jahre auch eine politische Krise, sagt Phil Burton-Cartledge, der an der Universität Derby zum britischen Parteiensystem forscht. „Innerhalb von drei Jahren gab es drei konservative Regierungen“, sagt er. „Es war das reine Chaos.“

Boris Johnson, der Mann, der das Land als Premier in den Brexit geführt hatte, wurde erst von Liz Truss und dann von Rishi Sunak abgelöst. Die Personalwechsel konnten den Sturzflug der britischen Wirtschaft nicht retten, sagt Burton-Cartledge. Und so stürzten auch die konservativen Tories immer weiter ab. Heute würden 17 Prozent der Bevölkerung sie wählen. 2020 waren es noch mehr als dreimal so viele.

Die Fehler und Schwächen der Konservativen brachten dann Labour wieder an die Macht. Denn eigentlich ist das politische System Großbritanniens nur auf zwei Parteien ausgelegt. „Seit dem Zweiten Weltkrieg gab es nur einmal eine Koalition“, sagt Burton-Cartledge, 2010 war das.

Eine Frau spricht bei dem Your-Party-Treffen in Medway.

© Moritz Valentino Matzner

Doch jetzt sind auch die Umfragewerte der Sozialdemokraten im freien Fall. „Seitdem stehen wir vor einer nie dagewesenen Situation“, sagt der Experte. Denn inzwischen führt in den Umfragen eine dritte Partei: Reform UK, die Rechtsaußen-Partei von Nigel Farage. „Die politische Ordnung Großbritanniens wird gerade komplett auf den Kopf gestellt“, sagt Burton-Cartledge.

Die politische Ordnung Großbritanniens wird gerade komplett auf den Kopf gestellt.

Phil Burton-Cartledge, Soziologe

Auch in Medway ist der Aufstieg von rechts zu spüren. Der Wahlkreis von Nigel Farage liegt nur rund 50 Kilometer nördlich. Und in Kent, der Region, in die Medway eingebettet ist, gab es Anfang des Jahres Lokalwahlen. 81 Sitze gibt es im regionalen Parlament. Reform holte mit 57 Sitzen die absolute Mehrheit.

Kann er Premier werden? Nigel Farage, Vorsitzender von Reform UK.

© REUTERS/Corey Rudy

„Neben der Wirtschaft ist das Hauptthema seit Jahren vor allem Migration“, sagt Burton-Cartledge. „Labour versucht sich gerade zu retten, indem sie immer weiter nach rechts rutscht.“ Anfang November beschloss die Labour-Regierung von Keir Starmer das restriktivste Einwanderungsgesetz in Generationen.

17
Prozent erreicht die Labour-Regierung in den Umfragen.

Der Rechtsruck von Labour sei ein wichtiger Grund, warum es Your Party brauche, sagt Sheridan, nachdem bei dem Vernetzungstreffen die letzten Redebeiträge beendet sind. „Wir verstehen Migration nicht als Bedrohung“, sagt sie. „Jede Person, die das auch so sieht, hat bei uns einen Platz.“ Sie ist mit dem Treffen zufrieden, auch wenn nicht ganz so viele Personen gekommen sind wie erwartet.

„Das Problem von Your Party“, sagt Sheridan, „ist nicht das fehlende Interesse. Sondern die Partei selbst.“ Hatte es zu Beginn des Gründungsprozesses noch Einigkeit zwischen den beiden Gründer:innen Corbyn und Sultana gegeben, kam es seitdem fast durchgehend zum Zoff.

Jeremy Corbyn war einst bei Labour, will nun mit Your Party das Parteiensystem aufbrechen.

© AFP/Benjamin Cremel

Sultana warf Corbyn vor, einen „sexistischen Boys-Club“ zu dulden. Sie sei systematisch übergangen worden. Die Auseinandersetzung eskalierte. Derzeit streiten sich die beiden Gründer über rund 800.000 Pfund Spenden, die Sultana vor dem Corbyn-Flügel versteckt halten soll. Und zu Sultanas Wahlparty bei der groß angekündigten Gründungskonferenz ist Corbyn nicht eingeladen.

Wir verstehen Migration nicht als Bedrohung.

Michaela Sherida, Mitglied von Your Party

Einige haben die Partei deswegen schon abgeschrieben. Unter einem Instagram-Post von Sultana ist zu lesen: „Verlasst den Your-Party-Traum – geht zu den Grünen“. Der Kommentar hat fast 600 Likes.

Zarah Sultana ist die führende Frau bei Your Party.

© In Pictures via Getty Images/Mark Kerrison

Die grüne Partei, lange in der Bedeutungslosigkeit, ist seit ein paar Monaten im Aufwind. Grund dafür ist der neue Vorsitzende, Zack Polanski. „Er ist jung, sozialistisch und solidarisch mit Palästina. All das, was Your Party auf den ersten Blick auch ist. Bloß ohne das Gezanke“, sagt Burton-Cartledge, der Parteienforscher.

Seit Anfang November liegen die Grünen in Umfragen fast gleichauf mit Labour und Tories. Was die Partei von Your Party unterscheide? „Die Grünen sind stark im akademischen Milieu verhaftet“, sagt Burton-Cartledge, „Labour und Your Party hingegen kommen aus den Gewerkschaften und der Arbeiterbewegung.“

Eine Zusammenarbeit mit den Grünen sei wichtig, sagt Sheridan. Die Halle hat sich fast geleert, nur ein paar Aktivisten räumen noch die Stühle auf. Kinder laufen draußen kreischend auf und ab, um 16 Uhr beginnt im Gemeindezentrum ein Kindergeburtstag.

Und dann hallt auf einmal ein Ruf durch die Halle. Mark, der Mann von der Londoner U-Bahn, läuft auf Sheridan zu. In einer Hand hält er sein Handy, in der anderen Flyer. „Eine rechte Gruppe ist schon wieder vor dem Zentrum für minderjährige Flüchtlinge aufmarschiert“, sagt Mark, ob man mit der Gruppe zur Gegendemo gehen wolle.

Sheridan schaut auf ihr Handy, tippt die Adresse des Zentrums ein. „Eine halbe Stunde mit dem Auto“, sagt sie und packt die restlichen Unterlagen zusammen. Wenige Momente später fährt sie ihren Kleinwagen von dem Parkplatz des Gemeindezentrums, ihre Freundin sitzt auf dem Beifahrersitz und navigiert.

Auf dem Weg zu einer Rechten-Demo in Kent.

© Moritz Valentino Matzner

„Solche Aufmärsche gibt es immer wieder“, sagt Sheridan, „vor allem seit dem vergangenen Jahr.“ Damals lieferten sich Rechtsextreme vor Unterbringungen von Geflüchteten an vielen Orten in Großbritannien tagelang Straßenschlachten mit der Polizei, Hunderte wurden verhaftet.


Die Demonstration

Auf der Fahrt durch die grünen Felder Kents ist der politische Rechtsruck nicht zu übersehen. Die Straßen sind gesäumt von weiß-roten Flaggen des englischen Landesteils. Das rote Georgskreuz auf weißem Grund ist inzwischen auch ein Symbol der rechten Nationalisten geworden. Mit Kabelbindern ist die Flagge an zahlreichen Laternen befestigt.

Eine englische Flagge vor einem Wohnhaus in Kent.

© Moritz Valentino Matzner

Im Sommer seien Mitglieder der neuen Rechten in den Pubs der Gegend aufgetaucht und hätten die Flaggen verteilt, erzählt Sheridan, während sie ihren Kleinwagen in einer Wohngegend parkt. Der Nebel hängt tief über roten Backsteinbauten, Mehrfamilienhäusern, auch hier sind ab und an die englischen Flaggen zu sehen.

Das Zentrum sei gleich um die Ecke, sagt Sheridan, biegt auf einen Gehweg ein und bleibt kurz stehen. Einige Dutzend Meter entfernt läuft eine Gruppe von rund 15 Menschen. Weg von der Unterkunft in Richtung Sheridan. Viele der Menschen tragen Schwarz, einige Männer haben Schals vor dem Mund und die Mütze tief ins Gesicht gezogen. Zwei tragen ein T-Shirt, in weißer Schrift auf schwarzem Grund steht: Stop Immigration, Start Deportation.

Die Demo wurde wohl schon aufgelöst, sagt Sheridan. Sie läuft weiter, es sind nur noch wenige Meter bis zur Gruppe der Demonstranten, die sich unterhält. Als Sheridan die Gruppe passiert, ist ihr Blick auf den Boden geheftet, einige Augenblicke später hat sie die Unterkunft für Geflüchtete erreicht.

Sheridan mit Gegendemonstranten vor dem Zentrum für geflüchtete Menschen.

© Moritz Valentino Matzner

Etwa fünfundzwanzig Gegendemonstranten stehen dort: Mitglieder von Your Party aus Medway, eine von Anwohnenden organisierte antirassistische Gruppe, ein paar Einzelpersonen. Sheridan grüßt, schüttelt Hände.

Wie es mit Your Party weitergeht? Das werde der Parteitag zeigen, sagt Sheridan. Was allerdings jetzt schon klar sei: „Um uns den Rechten entgegenzustellen, braucht es eine breite Koalition“, sagt sie. „Wir müssen mit der Gewerkschaft arbeiten, mit den Liberalen, mit den Grünen, all jenen, die sich fundamental gegen Rassismus und Faschismus stellen.“

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