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Humanitäre Katastrophe in Gaza: „Wir raten Familien von den Verteilzentren ab“
Seit Übernahme der Versorgung durch eine private Stiftung eskaliert die Lage: Es gibt Tote und Verletzte an Verteilzentren, die Menschen hungern. Ein Helfer berichtet über Chaos und unmenschliche Zustände.
Stand:
Herr Lea, seit vier Monaten blockiert Israel internationale humanitäre Hilfe, Ende Mai übernahm die sogenannte Gaza Humanitarian Foundation mit vier Verteilungszentren im Süden des Gazastreifens einen Teil der Versorgung. Wie hat sich dies auf die Gesamtsituation für die Menschen ausgewirkt?
Wegen der Art und Weise, wie diese Zentren konzipiert worden sind, haben wir unseren Mitarbeitern und Familien davon abgeraten, zu diesen Standorten zu gehen. Weil wir davon ausgegangen sind, dass es dort zu Chaos und Gewalt kommen wird. Das hat sich jeden Tag aufs Neue bewahrheitet.
Seit Ende Mai sind fast 600 Menschen getötet und Tausende verletzt worden, als sie versucht haben, Nahrung für ihre Familien zu bekommen. Ich glaube, durch die Blockade und den sehr restriktiven Zugang an diesen Verteilungszentren wird der Grad der Verzweiflung weiter zunehmen. Sollte sich diese Verzweiflung auf so engem Raum konzentrieren, wird das gefährlich werden. Die Menschen sind bereit, alles zu tun, um Zugang zu Hilfsgütern zu erhalten und ihre Familien zu ernähren.
International für Schlagzeilen sorgten in den vergangenen Wochen Berichte, wonach israelische Soldaten gezielt auf Hilfesuchende an den Verteilzentren geschossen haben sollen. Sie waren bis Ende Juni vor Ort in Gaza, was können Sie dazu sagen?
Dazu kann ich nicht direkt etwas sagen. Ich weiß nicht, welche Befehle sie bekommen haben.
Ich glaube, dass eine wirksame humanitäre Hilfe, wie sie das IRC und jede andere humanitäre Organisation leistet, in einer Weise geleistet werden muss, die sowohl das Leben als auch die Würde der betroffenen Gemeinschaften bewahrt. Und ich denke, wir haben gesehen, dass dies an diesen Orten nicht der Fall ist.

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Gaza bleibt für die internationale Presse unzugänglich. Sie gehören damit zu den wenigen, die über die Lage vor Ort berichten können. Was haben Sie dort erlebt?
Nach der Ankunft fuhren wir 45 Minuten lang durch ein ehemals dicht bewohntes Gebiet. Da waren aber keine Menschen, nur überall zerstörte Wohnhäuser. Es war surreal. Das Ausmaß der völligen Zerstörung hat mich sehr bestürzt. Als ich Ende Mai ankam, gab es außerdem immer wieder heftige Luftangriffe.
Wie fühlt sich das an?
Diese Angriffe sind so nah, dass man erst den Einschlag hören und dann den Knall spüren kann. Wir nehmen vorsorglich die Fenster heraus oder öffnen sie, weil die Druckwelle sonst die Fenster zerstört. Im Schnitt gab es alle zehn Minuten Bombardements. Nach einiger Zeit wird man fast immun dagegen. Aber dann kommt ein Einschlag, der noch viel größer und lauter ist.

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Was macht das mit den Menschen, die nirgendwo anders hinkönnen?
Sie versuchen, irgendwo und irgendwie für ihre Familien zu sorgen. Sie haben keine andere Wahl, bauen überall Zelte auf: auf dem Mittelstreifen der Straße, am Straßenrand, am Strand. Auf jedem freien Platz. Niemand auf der Welt würde am Strand leben wollen, weil es dort keine Dienstleistungen, keine Hygiene, keine Wasserversorgung gibt.
Bei den Gesprächen mit Mitarbeitern, Partnern oder anderen Organisationen wurde mir dann immer klarer, dass in Gaza einfach alles ein Kampf ist. Es fehlt an allem. Wir übertreiben nicht, wenn wir das immer wieder sagen. Das liegt nicht nur an dem Konflikt, sondern vor allem an den Beschränkungen der humanitären Hilfe.
Fast eine halbe Million Menschen sind laut Angaben der Vereinten Nationen vom Hungertod bedroht, die Lebensmittelpreise im Vergleich zur Waffenruhe Anfang des Jahres um bis zu 1400 Prozent gestiegen.
Das stimmt. Auf den Märkten wird deshalb mitunter ein Viertel einer ganzen Zwiebel verkauft, oder ein halbes Kilo für 15 US-Dollar. Die meisten Menschen können sich das nicht leisten. Hinzu kommt, dass das Gesamtausmaß der Krise immer größer wird.
Viele Krankenhäuser sind geschlossen oder liegen in Gebieten, die unter Evakuierungsanordnungen stehen. Auch die Kliniken haben durch die Blockade humanitärer Hilfe immer weniger Vorräte und Mittel, Kriegsverletzte zu behandeln. Eines der größten Probleme ist aber der fehlende Treibstoff.
Es ist surreal: Ich habe Kinder spielen und zeitgleich Raketeneinschläge oder schweres Maschinengewehrfeuer gehört.
Scott Lea, Nothilfekoordinator bei der Nichtregierungsorganisation International Rescue Committee
Warum?
Treibstoff ist entscheidend für den Transport zur und von der Arbeit. Es ist wichtig, dass er für medizinische Evakuierungen und die Versorgung von Kindern zur Verfügung steht. Ohne Treibstoff können die Entsalzungsanlagen kein Trinkwasser produzieren, die Wasserpumpen kein Wasser für den Hausgebrauch liefern, die Lastwagen sich nicht bewegen, um Wasser an die Orte zu verteilen, an denen die Menschen ihre Lager aufgeschlagen haben.
Die Abwassersysteme funktionieren ohne Treibstoff ebenfalls nicht, Krankenhäuser können weder ihre Generatoren betreiben noch die Sauerstoffversorgung sicherstellen – ebenso wenig wie die Kühlkette für die Lagerung von Medikamenten, Impfstoffen und Blutkonserven. Fehlender Treibstoff wirkt sich auf jeden Aspekt des Lebens in Gaza aus.
Welche konkrete Hilfe leistet das IRC in Gaza?
Wegen der israelischen Blockade ist die Bereitstellung von Gütern weiterhin sehr schwer. Wir installieren aber auch Latrinen und verteilen Wasser, unterstützen vor allem gefährdete Kinder und Frauen, die Gewalt oder Traumata erlebt haben, schwanger sind oder stillen. Zudem bieten wir Kindern eine Vielzahl von Maßnahmen zur psychischen Gesundheit und psychosozialen Unterstützung, organisieren psychosoziale Aktivitäten.

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Was kann man sich darunter vorstellen?
Gaza ist kein Ort mehr, an dem ein Kind träumen, lernen oder sich sicher fühlen kann. Die Familien haben meist keine Ressourcen für kinderfreundliche Aktivitäten. Wir versuchen also, Kindern einen sicheren Ort zu geben, an dem sie beaufsichtigt werden, an dem sie lernen oder einfach nur spielen können. Zugleich helfen unsere Mitarbeiter Kindern mit akuten Bedürfnissen durch eine spezielle Betreuung.

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Ist das für Kinder nach 20 Monaten Krieg überhaupt noch möglich: einfach spielen?
Ich glaube, Kinder sind die widerstandsfähigsten Menschen. Aber es ist natürlich surreal: Ich habe ganz in der Nähe von unserem Büro Kinder spielen und zeitgleich Raketeneinschläge oder schweres Maschinengewehrfeuer gehört. Es ist vor allem die Nahrungsmittel- und Gesundheitsversorgung, die es Kindern immer schwerer macht, diesen Konflikt zu überstehen.
Es gibt medizinische Hilfsgüter und Lebensmittel, die direkt vor der Tür stehen. Nur werden sie eben blockiert.
Scott Lea, Nothilfekoordinator bei der Nichtregierungsorganisation International Rescue Committee
Sollte Israel die Blockade aufheben: Wären Sie bereit, die Hilfe schnell wieder hochzufahren?
Die Organisationen, die in Gaza Hilfe leisten, stehen alle bereit und sind in der Lage, wesentlich mehr zu leisten. Auch IRC. Ja, wir brauchen einen Waffenstillstand, aber wir könnten das Leben, das Wohlergehen und die Würde der Menschen in den besetzten palästinensischen Gebieten verbessern, wenn die Beschränkungen für humanitäre Hilfe aufgehoben würden. Das sind keine Dinge, die außerhalb der Kontrolle von irgendjemandem liegen.
Es ist ja nicht so, dass eine Dürre alle Nahrungsquellen ausgelöscht hätte. Es gibt medizinische Hilfsgüter und Lebensmittel, die direkt vor der Tür stehen und bereit sind, geliefert zu werden, nur werden sie eben blockiert.
Israel begründet die Blockade unter anderem mit systematischen Plünderungen von Hilfsgütern durch die Hamas.
Ich persönlich habe nicht viel von der Umleitung der Hilfe gesehen oder gehört. Wir und andere humanitäre Organisationen haben jahrzehntelange Erfahrung in der Bereitstellung von Hilfe, auch in unsicheren Situationen. Um dies effektiv tun zu können, sind wir gegenüber der betroffenen Bevölkerung rechenschaftspflichtig und haben dafür funktionierende Mechanismen, um die Abzweigung von Hilfe zu minimieren.
Ich glaube eher, dass das neue System die Tür dafür öffnet, weil es viel zu wenig Hilfe für viel zu viele Menschen gibt. Jede Hilfe, die ankommt, wird attraktiver und daher auch eher gestohlen. Will man Plünderungen verhindern, sollte man sie unattraktiv machen – und deshalb mehr Hilfe hineinlassen.
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