zum Hauptinhalt
Im Umkreis der vier privaten Verteilzentren (Hintergrund) werden täglich Palästinenser von der israelischen Armee getötet.

© AFP/EYAD BABA

Viele Tote bei Hilfsmittelausgabe in Gaza: Israelische Soldaten berichten von Schießbefehl

Israelische Offiziere und Soldaten berichten in einer Medien-Recherche, die Armee nutze Schüsse auf Zivilisten, um die Menge bei der Hilfsmittelausgabe zu steuern. Die Armee widerspricht.

Stand:

Das Video in den Sozialen Medien zeigt einen Eselskarren, auf dem die Leiche eines Palästinensers liegt, abgedeckt mit der Pappe eines Kartons, in dem humanitäre Hilfe nach Gaza transportiert worden war.

Der Mann hatte offenbar versucht, an einer der vier Ausgabestellen für Lebensmittel der neuen Gaza Humanitarian Foundation (GHF) Nahrung zu bekommen, was er nicht überlebte.

Das ist kein Einzelfall. Den Vereinten Nationen zufolge wurden in den vergangenen vier Wochen mindestens 410 palästinensische Zivilisten erschossen, als sie versuchten, an einer der vier Ausgabestellen der privaten Hilfsorganisation an Lebensmittel zu gelangen. Mehr als 4000 Menschen sollen verletzt worden sein, teilt das UN-Menschenrechtsbüro in Genf vergangene Woche mit, das nach eigenen Angaben praktisch alle Todesfälle selbst verifiziert hat.

Auch die Bundesregierung äußerte sich hierzu am Montag. Man sei „sehr besorgt über diese Meldungen, die quasi täglich eingehen, über Zwischenfälle, über Gewalt in Zusammenhang mit der Ausgabe von Lebensmitteln“, sagte Regierungssprecher Stefan Kornelius.

In Bezug auf die Verteilung durch die GHF fügte er hinzu: „Es kommt dort immer zu Toten und Verletzten, das wird von der Bundesregierung sehr kritisch beobachtet.“ Zudem sei die Wiederaufnahme der zeitweilig ganz ausgesetzten humanitären Hilfe in dem Gebiet sehr begrenzt. Der Sprecher betonte: „Notleidende Menschen dürfen beim Empfang von Lebensmitteln nicht ihr Leben riskieren müssen.“

Menschenmengen durch Beschuss lenken

Warum für so viele Zivilisten der Zugang zu humanitärer Hilfe zur Todesfalle wird, hat die israelische Tageszeitung „Haaretz“ nun in einer Recherche aufgedeckt. Einzelne Kommandeure hätten den Befehl gegeben, absichtlich auf Zivilisten zu schießen und Artillerie abzufeuern – auch, wenn die Menschen keine Gefahr für israelische Soldaten darstellten.

Vielmehr diene der Beschuss der Zivilisten dazu, die Menschenmengen zu lenken oder bei zu großem Andrang zu vertreiben. Das berichtet „Haaretz“ unter Berufung auf Aussagen israelischer Soldaten und Offiziere, die in Gaza stationiert waren.

Jeden Tag sterben palästinensische Zivilisten nahe der neuen Zentren zur Verteilung von Lebensmittelhilfen.

© AFP/OMAR AL-QATTAA

Nach Angaben eines Offiziers wüssten die Palästinenser oft nicht, welches Verteilzentrum wann geöffnet werde. „Es gab Fälle, wo die Nachricht verbreitet wurde, ein Zentrum werde am Nachmittag geöffnet – also stellten sich die Bewohner ab morgens dort an, um einen vorderen Platz in der Schlange zu bekommen. Aber weil sie zu früh gekommen waren, wurde die Verteilung an dem Tag abgesagt.“

In anderen Fällen wird nach den Aussagen auf Palästinenser geschossen, wenn sie sich zu früh oder nach der Schließung der Zentren nähern.

Unsere Form der Kommunikation sind Gewehrsalven.

Israelischer Soldat gegenüber „Haaretz“ über den Umgang mit der palästinischen Zivilbevölkerung im Umkreis der Zentren für Lebensmittelhilfen

„Unsere Form der Kommunikation sind Gewehrsalven“, sagte ein Soldat zu „Haaretz“. „Wo ich stationiert war, wurden täglich ein bis fünf Palästinenser getötet. Wir behandeln sie wie einen militärischen Gegner – es gibt keine anderen Maßnahmen zur Kontrolle von Menschenmengen oder den Einsatz von Tränengas, nur das Abfeuern scharfer Munition aus Maschinengewehren, Granatwerfer und Mörsergeschosse.“

Wenn das Hilfszentrum geöffnet ist, werde der Beschuss eingestellt, und die Palästinenser wüssten dann, dass sie sich nähern dürfen.

Auf ihrem Weg zu den neuen Verteilzentren müssen Zivilisten oftmals auch durch militärische Sperrgebiete laufen.

© IMAGO/Anadolu Agency/IMAGO/Doaa Albaz

Ein anderer Offizier beklagt gegenüber der Zeitung, dass „Kampftruppen nicht die Werkzeuge haben, zivile Menschengruppen in Kriegsgebieten“ zu betreuen. „Hungrige Menschen mit Granatwerfern auf Abstand zu halten ist weder professionell noch menschlich“.

Soldat: Keine Gefahr für die Armee

Ein anderer Soldat wird zitiert mit der Aussage, dass bei keinem der Zwischenfälle, die er erlebt hat, Gefahr für die israelischen Truppen bestand. „Da ist kein Feind, da sind keine Waffen“, sagt er. Ein anderer Offizier erklärte, die Armeeführung sei zufrieden mit der Arbeit der Gaza Humanitarian Foundation, weil damit verhindert werde, dass international die Legitimität zur Fortführung des Krieges erodiert.

Ein Reservist, der im Norden des Gazastreifens stationiert war, spricht von „einem Platz mit seinen eigenen Regeln“. Der Verlust von Menschenleben „bedeutet nichts“, es sei nicht einmal mehr von „unglücklichen Zwischenfällen“ die Rede.

Granaten abzufeuern ist zuletzt Standard-Praxis geworden.

Israelischer Reservist über den Umgang mit Ansammlungen von Zivilisten in Gaza

Ein anderer Reservist, der in einem Panzer im Norden Gazas Dienst tat, berichtet, dass er einmal angewiesen wurde, das Feuer auf eine Menschengruppe zu eröffnen, die sich am Strand gebildet hatte.

„Granaten abzufeuern ist zuletzt Standard-Praxis geworden“, berichtet er. Dabei gebe es jedes Mal Tote und Verletzte. „Bei Nachfragen, ob eine Granate notwendig war, gibt es nie eine gute Antwort.“

Militärstaatsanwalt ermittelt

Israel hat den Gazastreifen seit Kriegsbeginn nach dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 für Journalisten praktisch gesperrt, sodass die Berichterstattung dort stark eingeschränkt ist. Die Armee hat die in dem Artikel erhobenen Beschuldigungen, dass der Beschuss der Zivilisten angeordnet wurde, zurückgewiesen.

Dieser Mann hat es geschafft, einen Karton mit Lebensmitteln eines GHF-Zentrums zu bekommen.

© AFP/EYAD BABA

Israels Militärstaatsanwaltschaft ermittelt allerdings nach Angaben von „Haaretz“ wegen möglicher Kriegsverbrechen in Zusammenhang mit Schüssen auf Palästinenser in der Nähe der Hilfszentren. Nach Ansicht von Beobachtern könnte die Einleitung eigener Untersuchungen auch dazu dienen, mögliche Anklagen im Ausland abzuwehren.

Was ist die Gaza Humanitarian Foundation?

Israel hatte die Arbeit des UN-Flüchtlingswerks Unrwa in Gaza einseitig beendet, weil einige Mitarbeiter in den Angriff vom 7. Oktober verwickelt gewesen sein sollen. Die Arbeit internationaler Hilfsorganisationen wurde infolge durch die private Gaza Humanitarian Foundation ersetzt.

Die GHF ist ein Konstrukt, das von den USA und Israel unterstützt und mitfinanziert wird. Private US-Sicherheitsfirmen sollen innerhalb der Verteilzentren für Sicherheit sorgen, die israelische Armee außen herum.

Doch nicht nur die Verteilerzentren stellen ein Risiko für palästinensische Zivilisten dar. Viele müssen zudem auch militärisches Sperrgebiet durchqueren, um zu den wenigen Ausgabestellen zu gelangen. Auch das bedeutet jedes Mal Lebensgefahr.

UN-Organisationen und internationale Hilfsorganisationen sehen alle Standards verletzt. Die Organisation „Ärzte ohne Grenzen“ spricht von „als humanitäre Hilfe getarnten Massakern“.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
false
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })