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John Kirby bei einem Presseauftritt im Weißen Haus.

© AFP/Saul Loeb

John Kirby zum Treffen von Biden und Scholz: „Über die Panzer-Frage muss nicht mehr geredet werden“

Der Sprecher des Nationalen Sicherheitsrats der USA spricht im Interview über den Washington-Besuch des Kanzlers, die weitere Unterstützung der Ukraine und die Rolle Chinas.

Herr Kirby, US-Präsident Joe Biden empfängt Bundeskanzler Olaf Scholz zum zweiten Mal in rund einem Jahr im Weißen Haus. Der letzte Besuch des Kanzlers fand kurz vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine statt. Was erwarten die USA von Deutschland in der derzeitigen Lage – und darüber hinaus?
Bei der Reise geht es nicht um unsere Erwartungen an Deutschland. Der Besuch von Bundeskanzler Scholz dient dazu, weiter über die Lage in der Ukraine zu sprechen und darüber, wie wichtig die Einheit der Verbündeten ist. Deutschland ist ein großartiger Verbündeter.

Mit Blick auf das, was wir alle gemeinsam tun müssen, um die Ukraine auf dem Schlachtfeld zu unterstützen, werden die nächsten Monate entscheidend. Wir gehen davon aus, dass die Russen neue Angriffe durchführen werden – und das werden auch die Ukrainer wollen. Wir müssen dafür sorgen, dass sie erfolgreich sein können. Das wird der Schwerpunkt der Gespräche.

Tut Deutschland genug aus amerikanischer Sicht?
Wir sind sehr dankbar dafür, in welchem Maße Deutschland sein Engagement verstärkt hat. Die Deutschen leisten einen wichtigen Beitrag. Und sie passen ihre Unterstützung der Dynamik des Krieges an. Das ist die gleiche Philosophie, die wir das ganze letzte Jahr über verfolgt haben. Deutschland ist ein starkes Land mit einem sehr fähigen Militär, ein herausragender Nato-Verbündeter. Der deutsche Beitrag kann für die Ukrainer auf dem Schlachtfeld von großem Nutzen sein.


Manchmal spürt man in den USA eine gewisse Ungeduld mit den langwierigen Entscheidungsprozessen in Berlin. Wie wird das im Weißen Haus gesehen?
Deutschland ist eine Demokratie, und Demokratien funktionieren auf ihre eigene Weise. Auch wir sind eine Demokratie und handeln manchmal nicht so schnell, wie sich andere das wünschen würden.

Konkret hatten wir gerade die Panzer-Debatte. Die ist nochmal aufgeflammt, nachdem Bidens Nationaler Sicherheitsberater Jake Sullivan am vergangenen Wochenende in einem Interview davon sprach, dass die Deutschen ihre „Leopards“ nur liefern wollten, wenn die Amerikaner ihrerseits Abrams-Panzer zusagten. Herrscht da noch Verstimmung?
Die Panzer-Entscheidung muss nicht noch einmal thematisiert werden, wenn die beiden sich treffen. Wir haben diese Entscheidung zusammen mit den Deutschen getroffen. Dem Präsidenten war es ein Anliegen, dass wir gemeinsam der Ukraine die Panzerkapazitäten verschaffen, die sie braucht – und die „Leopard“-Panzer werden wirklich wichtig sein, denn es sind sehr gute Panzer –, und dass wir an einem Strang ziehen.

Die Einigkeit der Verbündeten ist dem Präsidenten wirklich sehr wichtig. Die Zusammenarbeit mit Bundeskanzler Scholz bei dieser Entscheidung fiel ihm daher nicht schwer.

Die „Leopards“ werden nun geliefert, aber die „Abrams“ kommen offensichtlich nicht mehr in diesem Jahr.
Die Lieferung der „Abrams“ folgt einem anderen Zeitplan als die der „Leopards“, weil wir neue Panzer für die Ukraine beschaffen. Das wird viele Monate in Anspruch nehmen.

Die Ukraine hätte zudem gerne Kampfjets und andere schwere Waffen. Ist hier mit einer ähnlichen Dynamik wie bei der Panzer-Frage zu rechnen?
Präsident Biden hat klargestellt, dass es zum jetzigen Zeitpunkt nicht um F-16-Kampfjets geht. Wir arbeiten im Gleichschritt mit den Ukrainern und sprechen jeden Tag mit ihnen über ihre Fähigkeiten und darüber, was sie in den kommenden Wochen und Monaten brauchen.

Unserer Meinung nach muss die Diskussion über die F-16 ein anderes Mal geführt werden. Im Moment müssen wir uns auf Panzer, Artillerie, Munition und Luftabwehr konzentrieren. Genau das ist es, was wir der Ukraine in erster Linie liefern. Noch in dieser Woche wird es eine weitere Ankündigung zu US-Militärhilfen für die Ukraine geben, die dem entsprechen.

Biden war im vergangenen Jahr bereits zweimal in Polen. Nach Berlin hat es ihn noch nicht gezogen, seit er Präsident ist. Wann kann die deutsche Hauptstadt mit einem Besuch des US-Präsidenten rechnen?
(Lacht) Es gibt keine Reiseplanungen, über die ich hier sprechen könnte.

Russland hat den Krieg vor einem Jahr begonnen, und es gibt keine Anzeichen dafür, dass er sich verlangsamt. Wie plant das Weiße Haus: Wie lange wird dieser Krieg noch dauern?
Wir wissen es nicht, und haben auch keine Chance, das wirklich herauszufinden. Traurigerweise könnte der Krieg morgen enden, würde Herr Putin das Richtige tun und seine Truppen einfach abziehen. Denn sie gehören dort nicht hin. Aber er macht nicht den Eindruck, das tun zu wollen, ganz im Gegenteil: Er sucht nach Wegen, um weiterhin die zivile Infrastruktur anzugreifen. Wir wissen, dass neue Angriffe bereits für den Zeitpunkt geplant werden, wenn das Wetter besser wird.

Am Ende ist Präsident Selenskyj der Einzige, der entscheiden kann, ob und wann er bereit ist, sich mit dem russischen Präsidenten zusammenzusetzen und zu verhandeln. 

John Kirby

Was ist derzeit wichtig?
Wir dürfen im Winter keine Zeit verlieren. Wir müssen sicherstellen, dass die Ukraine sich nicht nur gegen neue Angriffe verteidigen kann, sondern auch in der Lage ist, selbst anzugreifen. Deshalb bilden wir ukrainische Soldaten in kombinierten Waffenmanövern außerhalb der Ukraine aus, und deshalb arbeiten wir mit unseren deutschen Verbündeten zusammen, um ihnen die Panzer zu verschaffen, die sie für diese Art von Kämpfen brauchen werden – jetzt und in der Zukunft.

Eines ist derweil sicher: Niemand, schon gar nicht in den Vereinigten Staaten, möchte in einem Jahr hier sitzen und auf das zweite Kriegsjahr zurückblicken. Wir alle wollen, dass dieser Krieg endet, die Ukrainer wollen, dass er endet. Aber es ist wichtig, dass er auf eine Art und Weise endet, die die ukrainische Unabhängigkeit und Souveränität respektiert und mit der Präsident Selenskyj sich wohlfühlt.

Wenn er einen gerechten Frieden fordert, einen Friedensplan, wenn Sie so wollen, dann arbeiten wir mit ihm und seinem Team daran, das umzusetzen. Aber am Ende ist Präsident Selenskyj der Einzige, der entscheiden kann, ob und wann er bereit ist, sich mit dem russischen Präsidenten zusammenzusetzen und zu verhandeln. Derzeit gibt es von Putins Seite keinerlei Anzeichen, dass er das will. Und ganz offen gesagt, auch nicht von Selenskyjs Seite.

Beim G20-Treffen in Indien ist US-Außenminister Blinken gerade mit seinem russischen Amtskollegen Lawrow zusammengekommen – zum ersten Mal seit dem Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine. War das eine signifikante Begegnung?
Das war ein kurzes Gespräch, im Grunde weniger als zehn Minuten. Beide waren beim G20-Treffen im selben Raum. Es war also eine gute Gelegenheit für Minister Blinken, Herrn Lawrow drei wichtige Punkte mitzuteilen. Erstens: Wir werden die Ukraine weiterhin unterstützen. Zweitens: Wir halten es für einen Fehler, dass Russland aus dem New-Start-Vertrag aussteigt und ihn einfach aussetzt. Dieser Vertrag hat dazu beigetragen, dass unsere beiden Länder sicherer geworden sind. Wir können den ganzen Tag über die Differenzen mit Russland und über die Ukraine sprechen. Sie sind real, sie sind gravierend. Aber das sollte die Rüstungskontrolle nicht überflüssig machen. Sie sollte eine übergeordnete Rolle spielen.

Drittens betonte er erneut, wie sehr wir uns wünschen, dass Paul Whelan wieder nach Hause zu seiner Familie kommt, wo er hingehört. (Whelan wurde Ende 2018 in Russland festgenommen und der Spionage beschuldigt. Am 15. Juni 2020 wurde er zu 16 Jahren Haft verurteilt; Anm. der Redaktion)

Wie gefährlich ist es, dass einflussreiche Republikaner die Regierung dafür kritisieren, zu viel für die Ukraine und zu wenig für das eigene Land zu tun?
Im Laufe des vergangenen Jahres haben wir große, parteiübergreifende Unterstützung in beiden Kammern des Kongresses erfahren. Es stimmt, dass sich eine kleine Anzahl von Republikanern im Repräsentantenhaus öffentlich gegen eine Unterstützung der Ukraine ausgesprochen hat. Aber sie repräsentieren nicht die Mehrheit ihrer Partei, auch nicht die Mehrheit ihrer Fraktion.

Wenn man der neu gewählten Führung des Repräsentantenhauses, einschließlich des Sprechers, zuhört, sagen sie alle dasselbe: Sie verstehen, dass es wichtig ist, die Ukraine zu unterstützen, und dass sie dies auch in Zukunft tun werden. Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Repräsentantenhaus, Michael McCaul, hat sich in dieser Hinsicht besonders deutlich geäußert. Wir glauben also, dass die Unterstützung auf dem Capitol Hill anhalten wird. Der Präsident ist davon überzeugt, und er wird den Kongress auch weiterhin kontinuierlich informieren.

Zwei mögliche republikanische Präsidentschaftsbewerber haben sich mit Blick auf weitere Ukraine-Hilfen ebenfalls skeptisch geäußert. Was passiert, wenn dies Teil des Wahlkampfs wird?
Ich äußere mich nicht über Parteipolitik. Was ich sagen kann, ist: Präsident Biden ist zu hundert Prozent entschlossen, die Ukraine weiterhin zu unterstützen – und wie er bereits sagte, werden wir das so lange tun, wie es nötig ist.

Je länger der Krieg dauert, desto schwieriger könnte es aber werden, die eigene Bevölkerung bei der Stange zu halten.
Das amerikanische Volk versteht, was hier auf dem Spiel steht. Es geht um die Idee der Unabhängigkeit – etwas, was den Amerikanern sehr viel bedeutet. Die Ukraine kämpft im Moment für ihre Unabhängigkeit, im wahrsten Sinne des Wortes. Die Amerikaner wissen das. Und sie wissen, dass dieser Krieg bereits konkrete Auswirkungen auf ihr Leben hat – sehen Sie sich nur den Ölpreis an. Ganz zu schweigen von den Auswirkungen, die dieser Krieg auf die weltweite Ernährungssicherheit, die Energieversorgung und die globale Sicherheit hat. Das alles verstärkt auch den Inflationsdruck.

Nicht zuletzt haben die Amerikaner verstanden, was passiert, wenn wir uns einfach zurücklehnen und Putin gewinnen lassen, wenn wir einfach die Hände hochwerfen und sagen: Das war’s, wir geben nichts mehr für die Ukraine. Wenn Putin Erfolg hat und die Ukraine wieder in Russland eingliedert, was er weiterhin will. Wo soll das enden? Was ist das nächste Ziel von Herrn Putin? Es gibt eine Menge Länder an der Ostflanke der Nato. Das amerikanische Volk weiß, dass die Kosten für die Vereinigten Staaten sowohl finanziell als auch an Menschenleben exponentiell höher sein könnten, wenn Herr Putin jetzt erfolgreich ist.

Kremlchef Wladimir Putin ist entschlossen, den Krieg weiterzuführen.
Kremlchef Wladimir Putin ist entschlossen, den Krieg weiterzuführen.

© AFP/Sputnik/Mikhail Metzel

Eine wichtige Rolle in Russlands Ukraine-Krieg spielt auch China. CIA-Direktor William Burns hat gerade gesagt, er sei überzeugt, dass Peking die Lieferung von Waffen an Moskau in Erwägung ziehe. Was passiert, wenn China dies tatsächlich tut?
Wir haben den Chinesen privat mitgeteilt, dass wir nicht glauben, dass ein solcher Schritt in ihrem Interesse ist. Sich auf die Seite von Herrn Putin zu stellen, wenn er das ukrainische Volk abschlachtet, könne unmöglich in Chinas Interesse sein.

Wenn sie sich dazu entschließen – und sie haben diese Entscheidungen noch nicht getroffen –, dann wird das natürlich Konsequenzen haben. Aber wir müssen hier sehr vorsichtig und nicht voreilig sein. China hat das Thema zwar nicht vom Tisch genommen, aber es hat auch bisher nichts getan. Daher will ich auch nicht über eventuelle Konsequenzen spekulieren.

Das ukrainische Volk inspiriert die Welt mit seiner Entschlossenheit und seinem Mut, für sein Land zu kämpfen.

John Kirby

Was will China Ihrer Ansicht nach?
China und Russland haben eine bilaterale Beziehung. Wie man den öffentlichen Kommentaren entnehmen kann, besteht diese Beziehung fort und soll auch weiterhin gepflegt werden. Warum die Chinesen glauben, das sei in ihrem Interesse, kann ich nicht sagen. Wir zumindest sind vom Gegenteil überzeugt.

Viele in Europa fürchten, dass dieser Krieg zu einem Atomkrieg wird. Als wie groß schätzt das Weiße Haus diese Gefahr ein?
Wir stimmen mit dem russischen Außenminister Lawrow überein, der sagt, dass ein Atomkrieg niemals gewonnen werden kann und niemals geführt werden sollte. Niemand will, dass dieser Krieg in diese Richtung eskaliert. Das wäre eine Katastrophe, nicht nur für das ukrainische Volk, sondern für die Menschen auf dem ganzen Kontinent, für unsere nationalen Sicherheitsinteressen und auch für die nationalen Sicherheitsinteressen Russlands.

Wir beobachten die Lage weiter so gut wir können. Bisher haben wir aber keine Anzeichen dafür gesehen, dass Putin sich in diese Richtung bewegt. Wie so viele andere Politiker hat er sich in dieser Frage zwar in unverantwortlicher Weise geäußert, aber er hat nicht entsprechend gehandelt. Hinzufügen kann ich nur, ist, dass auch wir unser eigenes strategisches Konzept routinemäßig überprüfen, und wir scheinen unsere Haltung nicht geändert zu haben.

Was denken Sie, was ist Putins Endziel?
Ich glaube nicht, dass er seine strategischen Ziele geändert hat. Er will immer noch die Ukraine als unabhängige Nation auslöschen. Er will immer noch die Selenskyj-Regierung stürzen. Alles, was er sagt, stimmt mit dem überein, was er tut, um den Kampf in der Ukraine fortzusetzen. Unserer Meinung nach hat er in diesem Jahr keine anderen strategischen Ziele erreicht.

Der Präsident der Vereinigten Staaten war erst vor einer Woche in Kiew. Die Selenskyj-Regierung ist immer noch an der Macht, die Demokratie in der Ukraine gedeiht immer noch. Und das ukrainische Volk inspiriert die Welt mit seiner Entschlossenheit und seinem Mut, für sein Land zu kämpfen. Putin hat bereits mehr als die Hälfte des ukrainischen Territoriums verloren, das er noch vor einem Jahr innehatte. Die Ukrainer tun weiterhin alles dafür, noch mehr ihres Landes zurückzuerobern. Wir glauben also nicht, dass Herr Putin seine großen Ziele geändert hat. Aber wir glauben, dass es ihm definitiv nicht gelungen ist, seine Ziele zu erreichen.

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