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Meloni bald unabhängig vom Parlament?: „Normale parlamentarische Gesetzgebung ist selten geworden“
Italiens regierende Rechte will starke Premiers, um künftig stabile Regierungen zu schaffen. Zum Schaden der Volksvertretung, sagt Verfassungsjuristin Roberta Calvano.
Stand:
Frau Calvano, Italiens Regierung plant eine Verfassungsänderung, um die Rolle der Premierministerin oder des Premierministers zu stärken. Ihr erklärtes Ziel ist, die traditionell schnell wechselnden Regierungen in Italien stabiler zu machen. Wird das funktionieren?
Das Problem des Entwurfs – wenn er denn nicht im Senat, der zweiten Parlamentskammer, noch verändert wird – ist meiner Meinung nach: Er wird zur Vorherrschaft des Regierungschefs führen, ohne dass das die Regierung stabiler macht.
Es wird nämlich immer noch möglich sein, die Bündnisse, auf denen die italienischen Regierungen traditionell beruhen, aufzulösen und die Mehrheit und/oder den Ministerpräsidenten zu wechseln, ohne dass es Neuwahlen gibt.
Die Opposition und viele Verfassungsrechtler sehen eine Umkehrung im Grunde der Grundlagen parlamentarischer Verfassung überhaupt. Statt eines Parlaments, das eine Regierung wählt, werde in gewisser Weise die Regierung sich ein genehmes Parlament wählen. Was sagen Sie?
In der Praxis haben wir längst die starke Stellung des Regierungschefs. In den vergangenen zehn Jahren ist durch den politischen Alltag die Rolle der Regierung gegenüber dem Parlament gewachsen. Das hat auch mit einer Delegitimierung des Parlaments zu tun, durch Wahlgesetze, die den Bürger:innen nicht mehr die Wahl lassen, die Personen zu wählen, denen sie vertrauen.
Man kreuzt eine Partei an, und durch sichere Listenplätze wissen zum Beispiel 80 Prozent der Kandidaten schon vor dem Wahltag, dass sie ins Parlament kommen werden. Die Bürgerinnen und Bürger entfremden sich vom Parlament, weil sie nicht das Gefühl haben, wirklich eine Wahl zu haben. Entsprechend gehen sie immer seltener zur Wahl.
In der Lombardei wählten letztes Jahr lediglich etwas mehr als 40 Prozent der Wahlberechtigten, bei den Regionalwahlen dieses Jahr etwa die Hälfte.
Die drastische Verkleinerung der beiden Parlamentskammern um mehr als ein Drittel der Abgeordneten, die 2020 die Regierung der Fünf Sterne durchsetzte, hat das Parlament noch weniger repräsentativ gemacht. Und es verteidigt sich gegen all dies leider auch nicht. Normale parlamentarische Gesetzgebung ist selten geworden. Das Parlament ist fast ausschließlich damit beschäftigt, Dekrete der Regierung in Gesetze umzuwandeln. Dabei sind Dekrete eigentlich nur ausnahmsweise und für besonders dringliche Fragen vorgesehen.
Und wieso wird die Regierung so viel stärker als das Parlament?
Aus vielen Gründen: Sie ist die Handelnde Richtung EU und anderen übernationalen Zusammenschlüssen. Aber sie verhandelt auch mit den Regionen. Wir haben anders als Deutschland keine Länderkammer wie den Bundesrat, in der Politik zwischen nationaler Regierung und Regionen offen ausgehandelt werden könnte. Diese Rolle übernimmt in Italien eine Konferenz der Regierungschefin und der Regionalpräsident:innen.
Hinzu kommt, wie in andern Ländern auch, eine starke Personalisierung der Politik, ein Regieren von oben nach unten. Das macht es der Regierung möglich, weniger kollegial zu entscheiden. Dabei war Kollegialität genau eine der Lehren, die man aus dem Faschismus gezogen hatte. Zugleich bleibt es bei der Praxis – nicht erst der Regierung Meloni – per Dekret zu regieren.
Auch die Parteienlandschaft gilt als Problem.
Wir haben sehr schwache Parteien. Die alten sind vor drei Jahrzehnten untergegangen, als das umfassende System politischer Korruption aufgedeckt wurde. Die öffentliche Parteienfinanzierung wurde später abgeschafft.
Aus gutem Grund, oder?
Das sehe ich nicht so. Die Abschaffung der Parteienfinanzierung führte dazu, dass die Parteien keine Verankerung mehr im Land, in der Bevölkerung haben. Viele Ortsvereine, etwa der Sozialdemokratie, des PD, gibt es nicht mehr. Europa hat eine Tradition der Mitglieds- und Massenparteien. Jetzt hat sich die eher amerikanische Vorstellung von fluiden Parteien durchgesetzt, die mehr oder weniger Wahlkomitees sind.
Wenn Sie sagen: Die starke Stellung des Premiers gibt es bereits, was ändert dann die Verfassungsänderung zugunsten des „premierato“?
Bisher ergab sich die zunehmend stärkere Rolle des Regierungschefs aus der politischen Praxis, aus all dem, was ich eingangs geschildert habe. Letzten Endes aus einem Missbrauch der Vorkehrungen der Verfassung. Würde diese Art Rolle auch noch in die Verfassung aufgenommen, würde dieser Prozess legitimiert. Zugleich wird das System von checks and balances geschwächt, das die Verfassung vorsieht.
Das Argument des regierenden rechten Lagers ist: Schaut euch andere Präsidialsysteme an, die funktionieren auch und sind demokratisch.
In halbpräsidentialen oder Präsidialsystemen wie in Frankreich und den USA gibt es Kräfte, die die starke Rolle des Präsidenten ausbalancieren. Aber auch bei diesen beiden Systemen ist zu sehen, dass sie in einer ernsten Krise stecken. In einem fragmentierten System wie dem unsern würde die Wahl zum Plebiszit für eine einzige Person, die dann das Kommando übernimmt.
Aktuell enthält unser Wahlgesetz Mechanismen, mit denen sich der Wählerwille verfälschen lässt.
Roberta Calvano, Professorin für Verfassungsrecht
Von einer Verbesserung der parlamentarischen Arbeit, einer Stärkung der beiden Kammern, ist im Entwurf für die Verfassungsänderung keine Rede. Und dass der Premier auch künftig das Vertrauen des Parlaments braucht, erhält nur den Anschein einer parlamentarischen Kontrolle aufrecht. Er oder sie ist schließlich direkt vom Volk gewählt.

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Welche anderen Mittel gäbe es aus Ihrer Sicht, die Regierbarkeit Italiens – erklärtes Ziel der Reform der Regierung Meloni – zu stärken?
Aus meiner Sicht wäre vor allem andern ein Parteiengesetz nötig, etwa nach deutschem Modell, das Vorwahlen und öffentliche Finanzierung vorschreibt. Das würde die politische Teilhabe verbessern. Derzeit wählen die Parteiführungen die Kandidat:innen für Wahlen aus. Und anstelle der öffentlichen Parteienfinanzierung haben Sie als Steuerzahlerin die Möglichkeit, einen Teil ihrer Einkommensteuer, 0,0002 Prozent, einer Partei zugutekommen zu lassen.
Das Ergebnis ist, dass eine Partei, die Studierende und Arbeitslose unterstützen, niemals ausreichend Mittel haben wird. Das Wahlsystem sollte es wieder möglich machen, dass sich der Wählerwille ausdrücken kann. Aktuell enthält unser Wahlgesetz Mechanismen, mit denen er sich verfälschen lässt.
Inwiefern?
Stellen Sie sich vor – ein Beispiel, das ich meinen Studierenden oft nenne – die Partei der Jäger und die der Tierschutzpartei treten in einer Koalition zur Wahl an. Sie sind Wählerin der Tierschützer, aber wenn ihre bevorzugte Partei die Sperrklausel nicht schafft, geht ihre Stimme an die Jäger. Warum? Für Listenverbindungen gilt eine Sperrklausel von elf Prozent, für eine einzelne Partei gelten drei. Wenn die Jäger neun schaffen, die Tierschützer aber nur zwei Prozent, dann sind die Tierschützer nicht im Parlament, ihre gemeinsame Liste hat aber mit elf Prozent den Sprung dorthin geschafft.
Das ist aber nur einer von vielen Automatismen, die den Wählerwillen verfälschen können. Wenn die Verfassungsreform kommt, wird zwar ein neues Wahlgesetz nötig. Ob sich die Lage dann verbessert, ist unsicher. Es gibt noch keinen Gesetzentwurf dafür. Klar ist nur schon: Es wird dabei eine Mehrheitsprämie eingeführt.
… wobei die Wahlsieger:innen über ihr Wahlergebnis hinaus so viele Parlamentssitze bekommen, dass sie über eine absolute Mehrheit verfügen. Das hat Italiens Verfassungsgerichtshof bereits in der Vergangenheit abgelehnt.
Er hat die Prämie jedenfalls an viele Bedingungen geknüpft, vor allem dann, wenn die Mehrheit unter 40 Prozent bleibt. Ich finde am premio di maggioranza besonders bedenklich, dass er nicht nach dem tatsächlichen Wahlergebnis einer Partei vergeben wird, sondern vom direkt gewählten Premier abhängt. Das Mehr an Parlamentssitzen geht an die Partei, die ihn unterstützt, egal wie viele Stimmen sie tatsächlich bekam.
Wieder ein Beispiel: Sollte ein populärer Fußballspieler in der geplanten Direktwahl Premier werden und würde eine Wahlliste zusammenstellen, die womöglich aus ein paar Freunden und Bekannten bestünde und nur ein paar Prozent bekäme: Sie hätte dennoch dank des Mehrheitsbonus automatisch die meisten Sitze im Parlament!

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Ein Blick in die Zukunft: Verfassungsspezialisten, darunter mehrere Ex-Präsidenten des Verfassungsgerichts, haben schon in den parlamentarischen Anhörungen gesagt, der Entwurf der Regierung sei verfassungswidrig. Wird er überhaupt die Prüfung des höchsten Gerichts bestehen?
Es wird zunächst eine zweite Lesung im Parlament geben, und angesichts der Bedenken im Regierungslager selbst könnte sich dort noch etwas ändern. Im Herbst werden vier neue Verfassungsrichter:innen nominiert, und die Parlamentsmehrheit hat bereits erklärt, dass drei von ihnen unter politisch nahestehenden Fachleuten ausgewählt werden. Sollte es dazu kommen, wird die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der Reform nicht die überzeugendste Antwort auf die Probleme sein, die durch sie entstehen.
Bleibt die Möglichkeit eines Referendums.
… wenn dafür die Unterschriften von 500.000 Bürgerinnen zusammenkommen oder fünf Regionalregierungen es wollen oder aber ein Fünftel der Mitglieder der beiden Parlamentskammern, also des Senats und des Abgeordnetenhauses.
Wird es dazu kommen?
Ich denke ja.
Das Prinzip der Gleichheit wird extrem geschwächt werden.
Roberta Calvano, Professorin für Verfassungsrecht
Welches Ergebnis erwarten Sie? Vergangene Versuche, die Verfassung zu ändern, sind am Einspruch der Italiener:innen gescheitert. Das Land scheint seine alte Verfassung doch zu lieben und zu verteidigen.
Das ist nicht mehr mein Feld als Verfassungsjuristin. Die Politikwissenschaft allerdings sieht eher etwas anderes am Werk: In der Endphase einer Regierung ist die Zustimmung zu ihr meist gering. Wenn das Prozedere um das Verfassungsprojekt also länger dauert und ein Referendum in diese Phase fällt, scheitert eine Verfassungsänderung am Ärger über die Regierung, die sie will. Das war bei Berlusconi so, das war auch unter der sozialdemokratischen Regierung Renzi so.
Wir sollten zum Schluss auch über eine weitere tiefgreifende Reform sprechen, die die Regierung Meloni plant: die „autonomia differenziata“, mit der die Regionen das Recht bekommen sollen, auf wichtigen politischen Feldern selbst zu entscheiden, über das Gesundheitssystem, Schule und Forschung, das Verkehrssystem und vieles mehr.
Das ist allerdings nichts, wofür man die Verfassung ändern muss, das lässt sich mit einem einfachen Gesetz machen. Durch den Senat ist das Gesetz bereits, demnächst wird es vermutlich von der Abgeordnetenkammer verabschiedet.
Es wird, nach allem, was man weiß, aber die materielle Verfassung des Landes tiefgreifend ändern. Inwieweit?
Das Gesetz scheint auf den ersten Blick von den regionalen Vorrechten in anderen Ländern inspiriert, zum Beispiel in Spanien. Sieht man es sich aber genauer an, ist es ein Hebel dafür, dass einzelne Regionen ihren Reichtum, ihr Steueraufkommen für sich behalten können, auf Kosten der ärmeren.
Auch hier lautet der Einwand der Befürworter:innen: Italien ist sowieso schon scharf geteilt in Arm und Reich.
Stimmt, und zwar nicht nur zwischen Nord und Süd, sondern auch zwischen Stadt und Land, zwischen den Metropolen und dem Hinterland. Das wird sich durch die Reform verschärfen. Die republikanische Verfassung von 1948 fußt auf Freiheit und Gleichheit der Bürger:innen. Das Prinzip der Gleichheit wird extrem geschwächt werden, auch das Verhältnis der Bürgerinnen und Bürger zum Staat. Die Rechte, die sie in einem Teil des Landes geltend machen können, werden sie in einem andern nicht haben.
Beides, der Regionalismus und die Verfassungsreform zugunsten des Ministerpräsidenten, wird die DNA unserer Verfassung ändern. Ich fürchte, das ist auch das Ziel der Operation. Man wird sogar ihr Etikett ändern: Die antifaschistische Verfassung von 1948 gibt es dann nicht mehr.
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