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Nach Angriff mit fast 500 Toten im Libanon: Israel bereitet „nächste Phasen“ im Kampf gegen Hisbollah vor
Israel erhöht den Druck auf die Hisbollah-Miliz immer weiter. China stellt sich hinter den Libanon. Die USA lehnen die weitere Eskalation des Konflikts laut einem Insider ab.
Stand:
In einer weiteren Eskalation im Konflikt mit der Hisbollah hat Israel Hunderte Ziele im Libanon aus der Luft angegriffen. Mindestens 492 Menschen seien dabei getötet worden, teilte die libanesische Regierung mit. Nach Angaben des libanesischen Gesundheitsministers Firass Abiad waren auch 35 Kinder unter den Todesopfern.
Mehr als 1645 Menschen seien bei den Angriffen auf „Städte und Dörfer im Südlibanon, der Bekaa-Ebene und in Baalbek“ im Osten verletzt worden, sagte Abiad. Tausende Familien in den betroffenen Gebieten seien demnach geflohen.
Die UN-Beobachtermission Unifil setzte ihre Patrouillen im Grenzgebiet zwischen Israel und dem Libanon vorübergehend aus. Das Risiko aufgrund des gegenseitigen Beschusses mache es zurzeit nötig, dass die Blauhelmsoldaten in ihren Stützpunkten bleiben, sagte ein UN-Sprecher am Montag vor Journalisten. Einige zivile Mitarbeiter der Friedensmission seien mit ihren Angehörigen in Richtung Beirut geschickt worden, wo die Gefahr geringer sei.
Es ist die höchste Zahl an Toten und Verletzten im Südlibanon seit Beginn der kriegsähnlichen Auseinandersetzungen zwischen Israel und der Hisbollah vor bald einem Jahr und seit dem letzten Krieg zwischen Israel und der Hisbollah-Miliz im Jahr 2006.
Israel greift verstärkt Stellungen in der Bekaa-Ebene an
Die israelische Armee griff nach eigenen Angaben rund 1600 Ziele an, um militärische Infrastruktur der Hisbollah zu zerstören, und führte die Attacken in der Nacht auf Dienstag fort. Einige der angegriffenen Waffenlager hätten sich in privaten Wohnräumen von Zivilisten befunden, die vor den Angriffen aufgerufen worden seien, sich in Sicherheit zu bringen. Die proiranische Miliz feuerte ihrerseits erneut Geschosse Richtung Israel ab. Die Verschärfung des Konflikts rief international große Besorgnis hervor.

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Nach den intensiven Bombardierungen im Süden durch Israels Luftwaffe wurden am Nachmittag auch Stellungen in der Bekaa-Ebene im Nordosten des Libanons angegriffen, wie es aus Sicherheitskreisen hieß. Die Hisbollah feuerte Dutzende Raketen auf Stellungen im Norden Israels. Dabei zielte die Miliz unter anderem auf Anlagen der Rüstungsindustrie nahe der Hafenstadt Haifa sowie auf Militärstützpunkte.
Rund 250 Geschosse seien aus dem Libanon abgefeuert und teils von der Raketenabwehr abgefangen worden, teils in offenem Gelände eingeschlagen, teilte Israels Militär mit. Einige davon reichten nach Medienberichten deutlich tiefer in israelisches Gebiet hinein als je zuvor seit Beginn der Hisbollah-Angriffe.
Hisbollah schießt erstmals bis ins Westjordanland
Auch im Westjordanland gab es erstmals Einschläge – in ähnlicher Entfernung vom Libanon wie der Großraum Tel Aviv. Die Hisbollah zielte nach eigenen Angaben auch auf Anlagen der Rüstungsindustrie nahe der Hafenstadt Haifa und auf Militärstützpunkte.
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Zuvor hatte es Berichte gegeben über Warnungen an die Zivilbevölkerung im Libanon durch sogenannte Roboteranrufe mit vorab aufgezeichneten Nachrichten oder per SMS. Man solle sich bis auf weiteres von Dörfern fernhalten, in deren Gebäuden Waffen der Hisbollah gelagert seien, habe es geheißen. Das libanesische Informationsministerium bezeichnete die Aktion als „psychologische Kriegsführung“ Israels. Die Libanesen seien aufgefordert, den Nachrichten und Anrufen „nicht mehr Aufmerksamkeit zu schenken als nötig“.
Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu wandte sich mit einer Botschaft direkt an das libanesische Volk: „Israels Krieg ist nicht mit euch, sondern mit der Hisbollah“, sagte er. „Die Hisbollah hat euch schon allzu lange als menschliche Schutzschilde missbraucht.“ Um Israel gegen Hisbollah-Angriffe zu verteidigen, müssten die Waffen der Miliz unschädlich gemacht werden, sagte Netanjahu.
Israels Armee hatte die Angriffe im Nachbarland bereits in den vergangenen Tagen ausgeweitet. Auch dabei gab es Dutzende Tote und Verletzte. Die Armee weicht Fragen, ob auch eine Bodenoffensive des Militärs möglich sei, bisher aus. Bei einem Einmarsch israelischer Truppen im Libanon wäre eine noch größere Beteiligung verbündeter Milizen der Hisbollah in der Region oder des Irans nicht ausgeschlossen.
Panik im Süden des Libanon
Nach Angaben von Israels Verteidigungsminister Joav Galant wurden Zehntausende Raketen der Hisbollah zerstört. Vor Beginn ihrer Angriffe am 8. Oktober wurde das Waffenarsenal der Hisbollah auf 150.000 Raketen, Drohnen und Marschflugkörper geschätzt. Generalstabschef Herzi Halevi erklärte, das Militär greife die von der Hisbollah in den vergangenen 20 Jahren für ihren Kampf gegen Israel aufgebaute Infrastruktur an. Seine Armee bereite schon „die nächsten Phasen“ des Kampfes vor, sagte er, ohne Details zu nennen.
Die kriegsähnliche Auseinandersetzung hat sich nach der Explosion Tausender Kommunikationsgeräte im Libanon sowie einem israelischen Angriff auf die Hisbollah-Führung nahe Beirut mit mehr als 50 Toten, darunter Zivilisten, in der vergangenen Woche noch einmal verstärkt. Nach Angaben des israelischen Militärs feuerte die Hisbollah am Montag 150 Geschosse auf zivile Orte in Israel.
Anwohner waren nach den jüngsten Luftangriffen im Süden des Libanon in Panik. Viele Menschen würden unter anderem aus Vororten der Stadt Tyros im Süden fliehen, sagten Anwohner der Deutschen Presse-Agentur. Einige eilten ins Zentrum der Küstenstadt und zum dortigen Gelände der UN-Beobachtermission Unifil. Die Straßen füllten sich mit Autos von Menschen, die offenbar in Richtung Beirut oder anderer Orte im Norden des Landes fahren wollten. Auf den Straßen kam es zu Staus.

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Es herrsche „Panik und Chaos“, berichteten Augenzeugen. In der Küstenstadt Sidon, die etwa auf halber Strecke zwischen Tyros und Beirut liegt, kam der Verkehr zeitweise komplett zum Erliegen. Autofahrer teilten Videos in sozialen Medien, die zeigen, wie massenhaft Libanesen in Richtung Norden fahren.
Libanons Regierung wirft Israel „Vernichtungskrieg“ vor
Die israelische Regierung beschloss nach den Luftangriffen in Erwartung von Gegenschlägen einen landesweiten Ausnahmezustand. Dieser hat auch zur Folge, dass die Größe von Versammlungen eingeschränkt werden kann. In der Nacht wurde in vielen Ortschaften im Norden Israels erneut Raketenalarm ausgelöst.
Verteidigungsminister Galant sagte bei einer Beratung, das Land vertiefe seine Angriffe im Libanon. Dies würde weitergehen, bis Israel das Ziel erreicht haben werde, die sichere Rückkehr der Einwohner in Teilen Nordisraels zu gewährleisten. „Wir haben Tage vor uns, an denen die Öffentlichkeit Gefasstheit, Disziplin und eine volle Einhaltung der Anweisungen der Heimatfront zeigen muss“, sagte Galant.
Die Regierung des Libanon warf Israel ihrerseits angesichts der Angriffe „einen Vernichtungskrieg in jedem Sinne des Wortes“ vor. „Wir als Regierung arbeiten daran, diesen neuen Krieg Israels zu stoppen und einen Abstieg ins Unbekannte zu verhindern“, sagte der geschäftsführende Ministerpräsident Nadschib Mikati.
Am Montagnachmittag warnte die israelische Armee auch Bewohner der Bekaa-Ebene im Nordosten des Landes. Wer sich in der Nähe eines Wohnhauses aufhalte, in denen Waffen der Hisbollah versteckt seien, solle sich binnen zwei Stunden mindestens einen Kilometer entfernen. Die Bekaa-Ebene liegt im Nordosten des Libanon und etwa zwei Autostunden von Beirut entfernt. Das Gebiet ist Gründungsort der Hisbollah.
Insider: USA lehnen Eskalation ab
Die USA lehnen einem Insider zufolge eine Eskalation des Konflikts zwischen Israel und der Hisbollah an der libanesisch-israelischen Grenze ab. „Ich kann mich zumindest in der jüngeren Vergangenheit nicht daran erinnern, dass eine Eskalation oder Intensivierung zu einer grundlegenden Deeskalation und einer tiefgreifenden Stabilisierung der Situation geführt hätte“, sagte ein hochrangiger Vertreter des US-Außenministeriums am Montag am Rande der UN-Vollversammlung in New York der Nachrichtenagentur Reuters unter der Bedingung der Anonymität.
Auf die Frage, ob dies im Widerspruch zur israelischen Position stehe, nickte der US-Beamte. Israel hatte erklärt, die jüngste Intensivierung der Luftangriffe auf Hisbollah-Ziele im Libanon solle die Iran-treue Gruppe zu einer diplomatischen Lösung zwingen. Die US-Regierung plant, „konkrete Ideen“ mit Verbündeten und Partnern zu diskutieren, um eine Ausweitung des Krieges zu verhindern. Ziel sei es, „den Kreislauf von Angriff und Gegenangriff zu durchbrechen“, so der Regierungsvertreter.
Washington suche nach einem Ausweg aus den Spannungen und wolle praktische Schritte unternehmen, um die Lage zu entschärfen. Auf die Frage nach einer möglichen israelischen Bodeninvasion im Libanon äußerte sich der US-Beamte zurückhaltend. „Wir glauben offensichtlich nicht, dass eine Bodeninvasion im Libanon dazu beitragen wird, die Spannungen in der Region zu verringern“, sagte er.
Unterdessen warnte auch der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell vor einer weiteren Verschärfung der Lage. „Diese Situation ist extrem gefährlich und besorgniserregend. Ich kann sagen, dass wir uns fast in einem vollwertigen Krieg befinden“, sagte Borrell mit Blick auf die hohe Zahl ziviler Opfer.
„Wenn das keine Kriegssituation ist, weiß ich nicht, wie ich es sonst nennen soll.“ Die Bemühungen zum Abbau der Spannungen würden fortgesetzt, aber die schlimmsten Befürchtungen Europas über eine Ausweitung der Krise im Nahen Osten würden sich bewahrheiten.
Die Zivilbevölkerung zahle einen hohen Preis und alle diplomatischen Bemühungen seien notwendig, um einen ausgewachsenen Krieg zu verhindern. „Hier in New York ist der Moment, dies zu tun. Jeder muss seine ganze Kraft einsetzen, um diesen Weg in den Krieg zu verhindern.“
China stellt sich hinter Libanon
China hat dem Libanon derweil seinen Rückhalt zugesichert und Israel scharf für seine Angriffe kritisiert. Die Volksrepublik unterstütze den Libanon entschlossen beim Schutz seiner Souveränität, Sicherheit und nationalen Würde, sagte Außenminister Wang Yi laut seines Ministeriums am Rande eines UN-Treffens in New York. Egal, wie die Lage sich entwickle, werde China auf der Seite der Gerechtigkeit und der arabischen Brüder einschließlich des Libanons stehen, sagte Wang.
Der Chinese verurteilte Israels „wahllose Angriffe auf Zivilisten“ und Kommunikationseinrichtungen im Libanon. China sei besorgt über die Lage. Wang erneuerte außerdem die Forderung nach einem Waffenstillstand, Truppenabzug und der Zweistaatenlösung. China gab sich im Nahost-Konflikt lange neutral. Peking kritisierte Israels militärisches Vorgehen im Gazastreifen, verurteilte bislang jedoch nicht das blutige Massaker der Hamas vom 7. Oktober.
Die französische Regierung hat derweil eine Sondersitzung des höchsten Gremiums der Vereinten Nationen beantragt. „Als Reaktion auf die heutigen Angriffe im Libanon, denen hunderte Menschen zum Opfer gefallen sind, habe ich eine Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrats in dieser Woche beantragt“, sagte Frankreichs neuer Außenminister Jean-Noël Barrot am Montag in New York.
Hisbollah stärker bewaffnet – aber zuletzt deutlich geschwächt
Israel und die Hisbollah haben bereits 1982 und 2006 Krieg gegeneinander geführt. Die vom Iran unterstützte Miliz ist heute deutlich stärker bewaffnet als während des Kriegs vor fast 20 Jahren. Sie handelt nach eigener Darstellung aus Solidarität mit der islamistischen Hamas, die im Gazastreifen gegen Israel kämpft. Hisbollah und die Hamas werden vom Iran unterstützt.
Israels Armee hat die Zahl seiner Angriffe im Gazastreifen zuletzt verringert und konzentriert sich zunehmend auf die Hisbollah. Israel will erreichen, dass sich die Miliz wieder hinter den 30 Kilometer von der Grenze entfernten Litani-Fluss zurückzieht – so wie es die UN-Resolution 1701 vorsieht, die das Kriegsende 2006 markierte.
Der Resolution zufolge darf die Hisbollah entlang der Grenze nicht präsent sein. Dies wird aber weder von der UN-Beobachtermission noch von der libanesischen Armee durchgesetzt. Israel hat die Rückkehr seiner Anwohner in ihre Wohnorte im Norden zu einem der Ziele im Gaza-Krieg erklärt.
Die Hisbollah ist nach mehreren Angriffen geschwächt und hat zuletzt die schwersten Schläge seit Jahrzehnten erlitten. Insgesamt habe die Hisbollah binnen knapp eines Jahres mehr als 8.800 Raketen und Drohnen auf israelisches Gebiet gefeuert, erklärte das israelische Militär. (dpa, AFP, KNA, Reuters)
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