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Der „Elephant Rock“ in der saudischen Wüstenstadt Al Ula. An seinem Fuße fand eine der Diskussionen des Munich Leaders Meeting diese Woche statt.

© Gestaltung: Tagesspiegel/Foto: Kai Müller

Thank God It’s International Friday 45: Saudi-Arabien zwischen Vision und Zensur

Die Themen der Woche: Trumps Friedensplan für Gaza | Die Pläne des saudischen Kronprinzen Mohammad bin Salman | Streit unter US-Comedians | Münchner Sicherheitskonferenz in der Wüste

Anja Wehler-Schöck
Eine Kolumne von Anja Wehler-Schöck

Stand:

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Waren Sie schon mal in Saudi-Arabien? Ich war es 12 Jahre lang nicht und habe das Land bei meiner aktuellen Reise kaum wiedererkannt.

2016 hat der heutige Kronprinz und De-facto-Herrscher Mohammad bin Salman – kurz MbS – seine „Vision 2030“ vorgestellt. Sein Ziel: Saudi-Arabien wegzuführen vom Fokus auf Öl und Religion und das Land zu modernisieren. Zumindest in manchen Bereichen. Denn wo die Grenzen der Veränderungsbereitschaft verlaufen, ist nicht zu übersehen. Mehr dazu später.

Der saudische Kronprinz und De-facto-Herrscher Mohammad bin Salman, kurz MbS.

© dpa/SPA/Uncredited

Wie sehr sich das Land in den vergangenen Jahren geöffnet hat, ist überall zu spüren. Angefangen beim Tourismus. Er soll laut der Vision des Kronprinzen dazu beitragen, das nicht-ölabhängige Staatseinkommen zu erhöhen. Bis 2019 konnte man nach Saudi-Arabien nur mit offizieller Einladung oder als muslimischer Pilger einreisen. Das elektronische Visum, das es inzwischen gibt, erhalte ich binnen Sekunden.

In Riad gelandet, erwartet mich die nächste Neuheit: die im Februar 2025 eröffnete Metro, die mit ihren 85 Stationen nun große Teile der Stadt problemlos erreichbar macht. Mit einem Schienennetz von 176 Kilometern ist sie das längste führerlose Transitnetz der Welt. Kritiker des Vorhabens hatten befürchtet, die Metro würde nicht genutzt werden. Doch weit gefehlt: Im August überschritt die Passagierzahl bereits die 100-Millionen-Marke und übertraf damit selbst optimistische Schätzungen.

Im Februar 2025 eröffnete die Metro in Riad. Sie ist das längste führerlose Transitnetz der Welt.

© imago

Alleine unter „Single-Männern“

Vor lauter Begeisterung steige ich am Flughafen in die neue Metro ein, ohne darauf zu achten, dass ich ein „Single Men“-Abteil betrete. „Single“ bezieht sich hier nicht etwa auf den Beziehungsstatus. In Saudi-Arabien gibt es im öffentlichen Bereich traditionell eine Trennung zwischen Männer- und Familienbereichen. Für Frauen sind letztere vorgesehen. Männer dürfen hier nur in Begleitung ihrer Gattin oder weiblicher Angehöriger hin.

Bei meinen früheren Aufenthalten hat ein ähnlicher Lapsus stets binnen Sekunden dazu geführt, dass ich unsanft aufgefordert wurde, mich unverzüglich zu entfernen. Dieses Mal fahre ich eine Stunde Metro, ohne dass sich irgendeiner der mitfahrenden Männer dafür interessiert, dass ich in „ihrem“ Abteil sitze.

Und das übrigens ohne die Abaya, die ich bei meinen vergangenen Besuchen noch tragen musste. Das 2019 erlassene „Gesetz zur öffentlichen Sittlichkeit“ schreibt nur noch vor, dass sich beide Geschlechter „zurückhaltend“ kleiden müssen. Heißt konkret: „lockere Kleidung“, die sowohl Ellbogen als auch Knöchel bedeckt. Die neue Freiheit wird im öffentlichen Raum allerdings nur von einer Minderheit genutzt. Die meisten Frauen, die ich auf den Straßen, in der Metro, in den Malls sehe, tragen Niqab – ein schwarzes Gewand mit Sehschlitz.

Die meisten Frauen in Saudi-Arabien verhüllen sich in der Öffentlichkeit nach wie vor. Gesetzlich verpflichtet sind sie dazu jedoch nicht mehr.

© imago

Frau am Steuer

An manchen Orten, vor allem außerhalb der großen Städte, bleibt die Fortbewegung eine gewisse Herausforderung. Abhilfe leistet hier die saudische Freundlichkeit. Gerne nimmt man die am Wegesrand Gestrandete ein Stück mit. Und so fahre ich zum ersten Mal im Leben mit einer saudischen Frau am Steuer. Früher wäre das undenkbar gewesen: Schließlich war Frauen in Saudi-Arabien noch bis 2017 das Autofahren verboten.

„Wir Frauen sind befreit – dank MbS“, sagt mir die Fahrerin freudestrahlend. Das neue Personenstandsgesetz von 2022 hat die buchstäbliche Bevormundung von Frauen zumindest teilweise gelockert. Frauen über 21 dürfen nun zum Beispiel ohne Zustimmung ihres männlichen Vormunds – üblicherweise Vater oder Ehemann –arbeiten oder den Arzt aufsuchen. Der Weg zu einer umfassenden „Befreiung“ ist indes noch ein weiter.

Erst seit 2018 dürfen Frauen in Saudi-Arabien Auto fahren.

© AFP/FAYEZ NURELDINE

Abschied von der geschlossenen Gesellschaft

Saudi-Arabien will sich ein neues Image geben, das ist allerorts zu beobachten. Als MbS 2017 Kronprinz wurde, wurde er im Westen als Reformer hofiert. Doch ein Jahr später wurde der saudische Journalist Jamal Khashoggi ermordet – laut einem Bericht der US-Geheimdienste mit expliziter Billigung durch den Kronprinzen. MbS wurde zum Pariah und fortan gemieden. Auch heute noch sind viele weit entfernt davon, MbS einen „unglaublichen Mann“ und „Freund“ zu nennen, wie US-Präsident Donald Trump es bei seinem jüngsten Besuch in Saudi-Arabien getan hat.

Seither versucht der Kronprinz, sich und sein Land zu rehabilitieren – zum Beispiel durch massive Investitionen in den Sport. Formel 1, Tennis, Golf, Pferderennen, Boxen – Saudi-Arabien ist zu einem Hotspot für Sportevents geworden. Fußballstars wie Cristiano Ronaldo, Karim Benzema und Neymar spielen für saudische Clubs. Ein Konsortium, an dessen Spitze der staatliche saudische Investmentfonds PIF steht, hat gerade den Gaming-Giganten Electronic Arts (EA) gekauft.

Fand das Leben in Saudi-Arabien früher vor allem im Privaten statt, ist heute ein viel größerer öffentlicher Raum entstanden. An allen Ecken öffnen neue Restaurants, Cafés, Clubs. Auch Kinos gibt es seit 2018 wieder. 35 Jahre lang waren sie verboten gewesen.
Zur Aufpolierung des Markenbilds von Saudi-Arabien soll auch die Nationalhymne neu arrangiert werden. Der Auftrag dafür ging an keinen geringeren als den legendären Filmkomponisten Hans Zimmer. Ich bin gespannt.

Warum sich US-Comedian Kevin Hart mit seinen Kollegen streitet

Welche Widersprüche sich hinter dieser Fassade verbergen, verdeutlicht eine aktuelle Kontroverse: Derzeit findet in Riad das erste saudische „Comedy Festival“ statt. Dort treten nicht etwa saudische Comedians auf, sondern amerikanische Superstars wie Kevin Hart, Dave Chapelle und Pete Davidson. Und die werden von ihren Kollegen dafür teils heftig kritisiert.

In einem Land, in dem Menschen für regierungskritische Äußerung verfolgt werden, wirkt ein Comedy-Festival in der Tat bizarr. US-Comedian Atsuko Okatsuka, die den Auftritt in Riad abgelehnt hat, postete auf ihrem X-Account einen Auszug aus ihrem Vertragsangebot. Die inhaltlichen Beschränkungen für die Show sind wenig überraschend: Saudi-Arabien, die Königsfamilie und Religion.

Human Rights Watch wirft der saudischen Regierung vor, das Festival zur Ablenkung zu nutzen – von der „brutalen Unterdrückung der Meinungsfreiheit und anderen weit verbreiteten Menschenrechtsverletzungen“. Erst im Juni wurde mit Turki al-Jasser wieder ein regierungskritischer Journalist hingerichtet. Insgesamt hat es laut der NGO bis August bereits 241 Exekutionen dieses Jahr gegeben.

Der Streit um das Comedy-Festival zeigt somit auch, dass die gesellschaftlichen Fortschritte, die MbS vorangetrieben hat, eben nicht von einer politischen Öffnung begleitet werden. Im Gegenteil. Die „Vision 2030“ steht auch für Machtkonzentration und eine gnadenlose Verfolgung kritischer Stimmen.

Neue Wege in der Außenpolitik

Die Agenda des Kronprinzen im Inneren ist eng verknüpft mit der Außenpolitik. Denn seine wirtschaftspolitischen Ziele wird MbS nur in einem stabilen Umfeld erreichen können – nicht in einer Region, die wie aktuell von Chaos und Krieg geprägt ist.

Noch vor zehn Jahren stand MbS, damals als junger Verteidigungsminister, für eine aggressive Politik der militärischen Intervention im Jemen. Heute setzt er auf Deeskalation und vorsichtige Annäherung mit dem Regionalrivalen Iran. Gleichzeitig baut er die saudische Machtposition aus, indem er strategische Allianzen verfestigt. Etwa durch den im September abgeschlossenen Verteidigungspakt mit Pakistan, der nicht nur Teheran und Delhi aufhorchen ließ.

Der saudische Annäherungsprozess mit Israel hat mit dem 7. Oktober 2023 ein abruptes Ende gefunden. Seine Wiederaufnahme wird ein Schlüssel zu nachhaltiger Stabilität im Nahen Osten sein. Saudi-Arabien sieht jedoch die Gründung eines Palästinenserstaates als Voraussetzung für die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Israel.

Die saudisch-französische Initiative zur Zwei-Staaten-Lösung im Vorfeld der UN-Generalversammlung lieferte laut dem französischen Außenminister Jean-Noël Barrot einen wichtigen Impuls für den 20-Punkte-Plan, den US-Präsident Trump vergangene Woche vorlegte. Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu unterstützt Trumps Plan offiziell, die Hamas erklärte sich inzwischen zu Verhandlungen darüber bereit. Zum ersten Mal seit zwei Jahren scheint ein Ende des Kriegs und eine Freilassung der Geiseln in greifbare Nähe zu rücken.

Ab in die Wüste

Und so hätte auch das Munich Leaders Meeting in Al Ula, an dem ich diese Woche teilnehmen durfte, zu keinem besseren Zeitpunkt kommen können. Der Ort war spektakulär – in der Optik oben sehen Sie den „Elephant Rock“, vor dem eine der Diskussionen stattfand. Dass zahlreiche Minister und andere hochrangige Vertreter aus der Region keinen Aufwand scheuten, um in die saudische Wüstenstadt zu reisen, ist nicht nur ein Beleg für die Anziehungskraft der Münchner Sicherheitskonferenz. Es zeigt auch, wie sehr die Region gerade zusammenrückt.

Das Treffen war „off the record“, aber so viel kann ich Ihnen sagen: Die Teilnehmer waren sich mehrheitlich einig, dass Trumps Plan zwar nicht perfekt sei und viele zentrale Punkte offenlasse – dass er aber einen wichtigen Fortschritt in der verfahrenen Situation darstelle.

Mit dem ägyptischen Außenminister habe ich in Al Ula für den Tagesspiegel sprechen können. Das Interview können Sie hier lesen. 👇

Diskutieren Sie mit!

Am Dienstag jährt sich der Terrorangriff der Hamas zum zweiten Mal. Darüber, wie es vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen im Nahen Osten weitergehen könnte, diskutiere ich beim „High Noon“-Expertentalk am 7. Oktober mit Richard Chaim Schneider, Ulrike Freitag, Bente Scheller und meinem Kollegen Christian Böhme. Seien Sie mit dabei! Hier geht’s zur Anmeldung.

Neue US-Korrespondentin des Tagesspiegels

Ich freue mich sehr, dass der Tagesspiegel mit Helena Wittlich seit dem 1. Oktober eine neue US-Korrespondentin hat! Helena hat ab 2019 gemeinsam mit Hendrik Lehmann das Innovation Lab beim Tagesspiegel aufgebaut. Künftig wird sie aus New York und Washington über die USA berichten. Ich freue mich auf die Zusammenarbeit, liebe Helena!

Das war’s für heute von mir – diesmal etwas ausführlicher. Wenn Sie bis hierhin gelesen haben: Vielen Dank und ein schönes Wochenende!

Herzlich

Ihre Anja Wehler-Schöck

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