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Ein ukrainischer Soldat in Militäruniform trägt seine Tochter auf den Schultern.

© IMAGO/Pond5 Images

Von der Front in die Kita: Wie Veteranen in der Ukraine ihre Kriegstraumata als Erzieher bewältigen

Ein Kindergarten in der Ukraine beschäftigt einen Ex-Soldaten als Betreuer für Kleinkinder. Die Drei- bis Siebenjährigen sind begeistert, viele Eltern jedoch skeptisch.

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Zeichnen, Herumtoben, Bastelstunde. Vor einem Jahr hätte Oleksandr Kowaltschuk sicherlich nicht damit gerechnet, dass er schon bald in einem Kindergarten in der Ukraine als Erzieher eingesetzt wird und mit lauter Vierjährigen Origamis faltet.

Noch 2023 war der Ukrainer als Fußsoldat an der Front stationiert. In der Schlacht um Awdijiwka erlebte Kowaltschuk den russischen Sturm auf die Kokerei und das Industriegebiet. Nach schweren Verletzungen, einer Gehirnerschütterung und einem diagnostizierten Hörschaden um 50 Prozent wurde der heute 47-Jährige als Veteran aus dem Kriegsdienst entlassen. Wie er seinen Weg von der Front in die Kita fand, erzählt Kowaltschuk in einem Bericht, den die „Deutsche Welle Ukraine“ kürzlich via YouTube veröffentlichte.

Von der ukrainischen Front in die Kita

„Es war schon immer mein Traum, ein Kindercafé zu eröffnen“, verrät Kowaltschuk einer Journalistin der „Deutschen Welle“. In seinem Leben vor dem Krieg sei er Barkeeper und Gastronom gewesen. Im Rahmen einer Psychotherapie zur Bewältigung seiner Kriegstraumata sei dem Veteranen klargeworden, dass er wieder mit Menschen arbeiten wollte. Ein Bekannter erzählte Kowaltschuk schließlich von einer freien Stelle in einer Kita. Nach einem Telefonat mit der Direktorin und einem Probetag im Kindergarten wurde er als Betreuer eingestellt.

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„Die Kinder haben mich sofort angenommen“, erzählt der ehemalige Frontkämpfer und ergänzt: „Wir haben sehr schnell und mühelos eine gemeinsame Sprache gefunden.“ Seither übernimmt er in der Kitagruppe „Gryffindors“ die Sport- und Bastelstunde für Kinder zwischen drei und sieben Jahren. Eine ausgebildete Pädagogin steht dem ungelernten Erzieher jederzeit zur Seite. „Wir übernehmen die Pädagogik. Aber Oleksandr kann den Kindern weitaus besser Origami und Sport beibringen“, verrät die Erzieherin.

Psychologen haben in fünf Monaten nicht geschafft, was diese Kinder in nur eineinhalb Monaten vollbracht haben.

Oleksandr Kowaltschuk, Veteran in der Ukraine

Ukraine-Veteran als Erzieher? Eltern waren skeptisch

Dass ihre Kinder von ehemaligen traumatisierten Frontsoldaten betreut werden, hielten einige der Eltern zunächst für keine gute Idee. „Es war zunächst irgendwie beängstigend“, erzählt die Mutter eines kleinen Mädchens. Schließlich räumte das Erzieher-Team die Bedenken aus, indem sie die Kinder auf Wunsch der Eltern mit ihren Handys filmten und Videos vom gemeinsamen Spielen über die sozialen Netzwerke an die Erziehungsberechtigten verschickten.

Die Kita-Direktorin verteidigt ihre Entscheidung, ehemalige Frontsoldaten als Betreuer für Kleinkinder einzusetzen. Für die Spiel- und Sportstunden „braucht es keine Ausbildung. Oleksandr wurde rehabilitiert. Er ist stabil“, erklärt die Leiterin. Durch die Arbeit mit Kindern werde sich die Rekonvaleszenz des Veteranen noch beschleunigen, vermutet die Pädagogin. Mit der Besetzung wolle sie „Stereotype durchbrechen“ und betont: „Ein Soldat ist nicht gruselig.“

Tatsächlich berichtet Kowaltschuk, dass sich seine Traumata und psychischen Probleme seit dem vermehrten Umgang mit den Kindern merklich verbessert hätten. „Ich fing an, mich mental besser zu fühlen. Ich konnte wieder besser schlafen“, berichtet der Veteran. „Psychologen haben in fünf Monaten nicht geschafft, was diese Kinder in nur eineinhalb Monaten vollbracht haben.“

Und was sagen die Kinder zu ihren Spielgefährten mit Kriegsvergangenheit? „Er ist unser Freund“, bekräftigt ein kleines Mädchen. Ein anderes ergänzt: „Ich spiele gerne Fangen und Verstecken mit ihm. Er beschützt uns vor Eindringlingen, die die Ukraine angegriffen haben.“ Ein Junge berichtet über Kowaltschuk: „Er warnt uns vor Gefahren und gibt uns immer Zeichen, wenn wir in den Luftschutzbunker gehen sollen.“ Dass ihr Betreuer in einem anderen Leben Frontsoldat war, wissen die Kinder. „Sie interessieren sich für das Kriegsgeschehen“, verrät der Veteran. „Ich kann ihnen natürlich nicht viel davon erzählen. Aber Oberflächliches kann ich schon mit ihnen teilen.“

Erwachsene verstehen uns oft nicht, aber Kinder kommen aufgeschlossen auf uns zu.

Veteran aus der Ukraine

Ukrainische Veteranen sollen vermehrt in Kitas beschäftigt werden

Kowaltschuks Beschäftigung in der „Gryffindor“-Gruppe gilt sozusagen als Pilotprojekt für den Einsatz von ukrainischen Veteranen in sozialen Einrichtungen wie Kitas. Seit einiger Zeit bekommt der Kindergarten Besuch von weiteren ehemaligen Soldaten. „Das sind Oleksandrs Brüder“, kreischt ein Mädchen vergnügt, als sie die ehemaligen Soldaten sieht. Einer der Männer erzählt: „Wir hören das Lachen der Kinder und es heilt uns. Erwachsene verstehen uns oft nicht, aber Kinder kommen aufgeschlossen auf uns zu.“

Damit die Kinder lernen, dass sie vor Soldaten keine Angst haben müssten, kämen die Veteranen uniformiert in die Kita, berichtet der Mann. „Selbst wenn sie eine Person ohne Arme und Beine sehen, kommen sie ohne Angst näher und umarmen sie.“ Die Kita-Direktorin plant, fünf weitere Veteranen fest als Erzieher einzustellen. Und Oleksandr Kowaltschuk? Der möchte eines Tages selbst eine Bildungseinrichtung eröffnen, wo Veteranen Kinder betreuen. „Gott hat mich vor dem Krieg gerettet. Meine Mission hier ist längst noch nicht abgeschlossen.“

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