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Eine Seltenheit: Mehl und Brot gibt es im abgeriegelten Gazastreifen kaum noch, Ende vergangener Woche wurden die letzten UN-Lebensmittel verteilt.

© AFP/Eyad Baba

Zwei Monate ohne Hilfslieferungen: „Gaza ist ein Massengrab für Palästinenser“

Kein Brot, kein Wasser, kaum Hoffnung: Israel blockiert seit zwei Monaten Hilfslieferungen nach Gaza. Humanitäre Helfer haben nun die letzten Vorräte verteilt – zwei Millionen Menschen stehen vor dem Hungertod.

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Die Vereinten Nationen und internationale Hilfsorganisationen haben dieser Tage nur eine Botschaft: „Wir sind einsatzbereit.“ Zehntausende Tonnen Lebensmittel und Medikamente stehen ihren Angaben zufolge an den Grenzen des Gazastreifens bereit, könnten dort sofort verteilt werden.

Nur: Die Hilfskorridore in den Küstenstreifen sind verschlossen. Seit genau zwei Monaten blockiert Israel an diesem Freitag sämtliche humanitären und kommerziellen Lieferungen – es ist die längste Schließung, die die palästinensische Enklave je erlebt hat.

„Um die Not in Gaza zu beschreiben, gehen uns langsam die Superlative aus“, sagt Martin Frick, Direktor des UN-Welternährungsprogramms (WFP) in Deutschland, Österreich und Liechtenstein, dem Tagesspiegel. „Unsere Teams berichten von Eltern, die ihren Kindern beim Hungern zusehen müssen – ohne Brot, ohne Wasser, ohne jede Perspektive.“

Vor einer Woche wurden letzte Vorräte verteilt

Folgt man der Menschenrechtsorganisation Amnesty International, ist die seit zwei Monaten andauernde Blockade ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie ein Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht.

Verzweiflung und Hunger: Massenandrang vor einem Verteilungszentrum in Chan Junis.

© dpa/Abdel Kareem Hana

Bereits im Januar 2024 wies der Internationale Gerichtshof Israel an, sofortige Maßnahmen zum Schutz der Palästinenserinnen und Palästinenser zu ergreifen und ausreichend Hilfslieferungen bereitzustellen.

Doch mehr als ein Jahr später ist die Situation verheerender denn je: Humanitäre Organisationen haben in den vergangenen Tagen ihre letzten Vorräte innerhalb Gazas verteilt.

Die letzten Vorräte von WFP sind verteilt und es gibt schlicht kein Essen mehr.

Martin Frick, UN-Welternährungsprogramm

Seitdem sind die mehr als zwei Millionen Frauen, Männer und Kinder in der Enklave auf sich allein gestellt.

„Die letzten Vorräte von WFP sind verteilt und es gibt schlicht kein Essen mehr“, sagt Frick. Nach Angaben der UN-Organisation sind die Preise für Lebensmittel im Vergleich zur Zeit des Waffenstillstands von Ende Januar bis März um bis zu 1400 Prozent gestiegen. Vier von fünf Haushalten in Gaza sind demnach auf humanitäre Hilfe angewiesen.

Durch fehlende Hilfsgüter, steigende Preise und schwindende Vorräte drohen im abgeriegelten Küstenstreifen Hungertote.

Israels Politik ist klar: Es wird keine humanitäre Hilfe in den Gazastreifen gelangen.

Israel Katz, israelischer Verteidigungsminister

Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen (MSF) erklärte Gaza bereits Mitte April zu einem „Massengrab für Palästinenser“. Die humanitäre Hilfe habe unter der Last der Unsicherheit und durch kritische Versorgungsengpässe schwer zu kämpfen, sagt die Notfallkoordinatorin Amande Bazerolle in einer Mitteilung. „Wir erleben in Echtzeit die Zerstörung und Zwangsvertreibung der gesamten Bevölkerung in Gaza.“

Mehr als 9000 Kinder werden allein seit Anfang des Jahres Unicef zufolge wegen akuter Unterernährung behandelt.

© Reuters/Hatem Khaled

Und Jerusalem scheint daran so schnell nichts ändern zu wollen. Vor gut zwei Wochen erklärte Verteidigungsminister Israel Katz: „Israels Politik ist klar: Es wird keine humanitäre Hilfe in den Gazastreifen gelangen.“ In der vollumfänglichen Blockade sieht die Regierung um Benjamin Netanjahu offiziell das wohl letzte Druckmittel gegen die Hamas.

Kämpfe gehen seit Mitte März weiter

Die Terrororganisation soll Israel zufolge regelmäßig humanitäre Hilfe und Lebensmittel zurückhalten und an ihre Kämpfer verteilen. Obwohl es in den vergangenen eineinhalb Jahren immer wieder zu gewalttätigen Plünderungen durch kriminelle Banden gekommen ist, dementieren internationale Organisationen den systematischen Diebstahl von Hilfslieferungen durch die Hamas.

Wir erleben in Echtzeit die Zerstörung und Zwangsvertreibung der gesamten Bevölkerung in Gaza.

Amande Bazerolle, Notfallkoordinatorin bei Ärzte ohne Grenzen

Auslöser des Gaza-Krieges war der Überfall der radikalen Palästinenserorganisation und anderer extremistischer Gruppen auf Israel am 7. Oktober 2023, bei dem fast 1200 Menschen getötet und mehr als 250 Geiseln nach Gaza verschleppt wurden.

Kindheit in Trümmern: Etwa 40 Millionen Tonnen Schutt liegen in Gaza.

© AFP/Eyad Baba

Mehr als 50.000 Menschen sind seitdem laut der von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde durch das israelische Militär (IDF) im Küstenstreifen getötet worden, zahlreiche internationale Organisationen schätzen diese Zahlen als glaubwürdig ein.

Nach einer knapp zweimonatigen Waffenruhe gehen die Kämpfe seit Mitte März weiter. Noch in dieser Woche will Israels Führung die Angriffe laut Angaben der Deutschen Presse-Agentur verschärfen.

Angriff auf Chan Junis am 1. Mai: Sicherheit gibt es in Gaza laut Hilfsorganisationen nirgends.

© dpa/Abed Rahim Khatib

Dabei sind bereits heute auf knapp 70 Prozent des 365 Quadratkilometer kleinen Küstenstreifens Evakuierungsbefehle erlassen; seit dem Ende der Waffenruhe im März sind mehr als 400.000 Menschen aus ihren Wohnungen vertrieben worden.

116.000
Tonnen Lebensmittel stehen allein durch das UN-Welternährungsprogramm an der Grenze bereit.

Die Folgen der israelischen Angriffe dokumentiert Ärzte ohne Grenzen seit Anfang dieser Woche in einem laufend aktualisierten Online-Infoportal und kommt zu dem Schluss: Die Zerstörung lebenswichtiger ziviler Infrastruktur sowie die „systematische Verweigerung humanitärer Hilfe“ hat die Lebensgrundlagen in Gaza weitgehend vernichtet.

Israel dementiert Verstöße gegen das Völkerrecht

„Während die Palästinenser gewaltsam aus dem Gebiet vertrieben wurden, machte die Blockade der humanitären und medizinischen Hilfe für den Norden das Überleben für die dort Eingeschlossenen unmöglich“, sagt Claire Magone, Generaldirektorin von Ärzte ohne Grenzen Frankreich, dem Tagesspiegel.

„Obwohl Ärzte ohne Grenzen seit über einem Jahr auf diese Zustände hinweist, sind das Ausmaß, die Geschwindigkeit und die gezielte Tötung von Zivilisten im nördlichen Gazastreifen klare Anzeichen für ethnische Säuberungen.“

Jede weitere Stunde kostet Menschenleben.

Jolien Veldwijk, Länderdirektorin der Hilfsorganisation Care

Eine Beobachtung, die nicht nur viele Jurist:innen und Nichtregierungsorganisationen teilen, sondern auch Israels ehemaliger Verteidigungsminister. „Erobern, annektieren, ethnische Säuberung – schauen Sie sich den nördlichen Gazastreifen an“, sagte Mosche Jaʿalon im vergangenen November.

Sowohl Vertreter der israelischen Regierung als auch der Armee haben diese Vorwürfe immer wieder dementiert, das Vorgehen in Gaza zielt Jerusalem zufolge allein auf die Zerstörung der Terroraktivitäten der Hamas.

Hilfe aus der Suppenküche: Die UN-Nahrungsmittelbehörde erklärte am 25. April, sie habe „ihre letzten verbleibenden Nahrungsmittelbestände an die Küchen für warme Mahlzeiten im Gazastreifen geliefert“.

© AFP/Omar Al-Qattaa

„Die Situation in Gaza ist mehr als herzzerreißend“, sagt Jolien Veldwijk, Länderdirektorin von der Hilfsorganisation Care. „Seit dem Bruch des Waffenstillstands sind zahllose Zivilist:innen gestorben – darunter mehr als eintausend Kinder. Wir stehen bereit, LKW voller Hilfsgüter sind beladen, aber ohne offene Grenzen können wir nichts tun. Jede weitere Stunde kostet Menschenleben.“

Allein die Vereinten Nationen stehen WFP-Angaben zufolge mit mehr als 116.000 Tonnen Ernährungshilfe an den Hilfskorridoren bereit – genug, um eine Million Menschen bis zu vier Monate lang zu versorgen.

„Das Tragische ist: Die Hilfe steht bereit“, sagt Martin Frick vom UN-Welternährungsprogramm. „Aber wir kommen nicht hinein. Solange die Grenzen geschlossen bleiben, können wir nichts tun.“

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