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Kathedrale der Hoffnung. Nora Martirossjans Drama „Should the Wind Drop“ ist der Flughafen Stepanakert ein Symbol der Freiheit.

© promo

Armenien-Festival im Gorki: Nation ohne Grenzen

Einen Monat lang beschäftigt sich das Berliner Maxim Gorki Theater mit dem Erinnern an den Armenien-Genozid und den Spuren des Bergkarabach-Kriegs in der armenischen Kultur. Die historischen Kontinuitäten sind erschütternd.

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Der Glaube, dass Nationalstaaten im Zeitalter der Tech-Konzerne noch die alleinige Entscheidungshoheit über Grenzverläufe haben, ist ein rühriger Anachronismus. Der französische Wirtschaftsprüfer Alain Delange (Grégoire Colin) lehnt sich über einen Ausdruck von Google Earth, um die Entfernung des Flughafens Stepanakert in der Republik Bergkarabach zu den Grenzen der – zumeist feindlichen – Nachbarn zu bestimmen.

Ob ein Flugzeug im Landeanflug bei schlechten Wetterbedingungen genug (nicht-feindlichen) Luftraum für eine Schleife vor sich hat, ist ein entscheidendes Kriterium dafür, dass der in den 1970ern Jahren gebaute Flughafen – eine „Kathedrale“ nennt der Flughafenleiter den modernistischen Bau – nach dreißig Jahren wiedereröffnet werden kann.

Google Earth gibt an, es seien nur 25 Kilometer – zu wenig. „Seit wann kann man Google Earth vertrauen?“, entgegnet der Flughafenleiter. „Keine Quelle ist weniger neutral als Google Earth.“ Doch die Hoheit über die eigenen Grenzen ist für die armenische Bevölkerung in Bergkarabach von existenzieller Bedeutung.

Bergkarabach-Krieg im Fokus

Sieben Jahre später ist Nora Martirossjans 2018 gedrehter Film „Should the Wind Drop“ selbst schon ein historisches Dokument. Seit dem 44-tägigen Krieg mit dem Nachbarland Aserbaidschan im September 2020 sind viele Drehorte nicht wiederzuerkennen. Der Flughafen Stepanakert steht seit 2023 unter Kontrolle der aserbaidschanischen Regierung.

Seit der Eroberung der Republik Arzach, wie die dort lebenden Armenier:innen Bergkarabach nennen, mussten 120.000 Menschen in die Nachbarländer fliehen. Dabei sind die wesentlichen Fragen, die in „Should the Wind Drop“ aufgeworfen werden, dringlicher denn je. Ein international anerkannter Flughafen ist ein Symbol der Freiheit – und für das Selbstbestimmungsrecht der armenischen Bevölkerung.

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Zehn Jahre nach der Reihe  „Es schneit im April“ fragt das Maxim Gorki Theater mit dem Festival „100 + 10 – Armenian Allegories“ erneut, welche Spuren der Genozid am armenischen Volk im Ottomanischen Reich, die transnationale Erfahrung in der Diaspora und nicht zuletzt der Arzach-Krieg in der armenischen Literatur, im Theater, der Musik und im Kino hinterlassen haben.

Netzwerk in der Diaspora

Seit 2015 ist einiges passiert: 2016 erkannte der Bundestagstag den Völkermord mit der Armenien-Resolution an, zwei Jahre später führte die „Samtene Revolution“ in Armenien zum Sturz der nationalkonservativen Regierung. Aber der andauernde Bergkarabach-Konflikt und die humanitäre Katastrophe der vertriebenen armenischen Bevölkerung führt wieder vor Augen, dass die Verfolgung von Armenierinnen und Armeniern – mit wechselnden Akteuren, erst im Ottomanischen Reich, später in der Sowjetunion, seit 1991 durch den erstarkten radikalen Islam – ein ganzes Jahrhundert überdauert hat.

Bis Ende Mai wird das Gorki nun wieder zu einem Ort des Austauschs. Am 15. Mai spricht die armenische Autorin Anna Davtyan mit Deniz Utlu über ihren Roman „Khanna“, eine Reflexion über weibliche Begehren und Selbstbestimmung in Krimigenre. Nairi Hadodo widmet sich in ihrer Solo-Performance „Kim“ der derzeit wohl bekanntesten Person mit armenischen Wurzeln: Kim Kardashian (3. Mai). Und Anahit Ghazaryan spürt in ihrem 3-Personen-Stück „Planned Outage“ (22. Mai) der „armenischen Erfahrung“ nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nach.

Herzstück von „100 + 10 – Armenian Allegories“ ist die Ausstellung „Future Imperfect: Armenian Art from Aftermaths“ mit über 30 beteiligten Künstler:innen, die das unsichtbare Netzwerk der Diaspora von Jerewan über Berlin bis Ottawa und Paris sichtbar machen. Einen weiteren Schwerpunkt stellt das armenische Kino, das vor zwei Jahren seinen 10.. Geburtstag feierte, mit der Reihe „Keeping Up The House: Armenian Cinema at a Crossroad“.

Allein mit dem Gefühl des Verlusts. Regisseurin Christine Haroutounian gehört mit „World Haroutounian“ zu den jungen Stimmen im armenischen Kino.

© Presse Maxim Gorki Theater

Der aktuelle Arzach-Konflikt wirft in Filmen wie „Should the Wind Drop“ oder dem Episodenfilm „Tevanik“ (2014) von Jivan Avetisyan bereits seine unheilvollen Schatten voraus. Drei Jugendliche erleben in Avetisyans Debüt in den ersten Tagen des Karabach-Kriegs 1991, wie ihre Familien und ihre Dorfgemeinschaft zerbrechen. Aber die Kontinuitäten machen vor der Kunst keinen Halt. Auch Tevanik-Darsteller Hovhannes Khoderyan starb 2021 im Krieg, es blieb seine einzige Kinorolle.

In den vergangenen Jahren hat das armenische Kino eine kleine Renaissance erlebt, zum ersten Mal seit dem Ende der Sowjetunion. Die in Frankreich lebende Nora Martirossjan, derzeit die exponierteste Filmemacherin armenischer Herkunft, wurde mit ihrem Debüt nach Cannes eingeladen, Michael Goorjians „Amerikatsi“ (2022) gewann international zahlreiche Preise.

Sein Film behandelt einen bislang unterbelichteten Aspekt der armenischen Geschichte: Stalins Kampagne der „Wiedereinbürgerung“ von Armeniern nach dem Zweiten Weltkrieg, von denen viele jedoch in Armut leben mussten – oder, wie der Amerikaner Charlie in Goorjians schwarzer Komödie, im Gefängnis. Hoffnung schöpft Charlie, gespielt vom Regisseur, durch den Blick aus dem Fenster seiner Zelle. In der Wohnung gegenüber entspinnt sich eine Familiengeschichte, die in seiner Fantasie sinnbildlich wird für eine neue armenische Gemeinschaft.

Auch im Kino steht „die armenische Moderne unter dem Imperativ, an das Verlorene zu erinnern“, wie es Kurator Vigen Galstyan im Programmheft formuliert. Es gibt aber auch andere Ansätze, die das Trauma der Vertreibung überwunden zu haben scheinen und nicht mehr von der Bürde der Erinnerung geplagt sind. Das Kurzfilmprogramm „In the Lens of Women“ wirft am Beispiel von drei Filmemacherinnen einen kritischen Blick auf den männlich dominierten Mythos eines entwurzelten Volks.

Filme wie „It Takes a Village“ (2022) von Ophelia Harutyunyan oder „World“ (2020) von Christine Haroutounian finden neue Erzählweisen des Erinnerns (bei Haroutounian an die Mutter) – und für einen positiven Gemeinschaftsbegriff (ohne die abwesenden Männer bei Harutyunyan). Der geografische Abstand ist dabei sicher kein Zufall: Beide Regisseurinnen arbeiten in den USA und stehen in Kontakt zur armenischen Filmszene. Ganz so unsichtbar ist das Netzwerk in der Diaspora nicht mehr.

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