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Stadt als Spielplatz. Eine Aufnahme von Nelly Rau-Häring, Potsdamer Platz im Bau, November 1999 bis Juni 2000.

© Haus am Kleistpark/Nelly Rau-Häring

Berlin als Stadt ohne Mauer: Der Himmel ist offen

Eine Fotografin, zwei Fotografen und eine Stadt im Wandel: Nelly Rau-Häring, André Kirchner und Peter Thieme zeigen im Haus am Kleistpark „Berlin Eins – Die Neunziger“.

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Ja, wenn Stadt immer so wäre. Eine kubistisch wirkende Architektur, vom Licht mit expressiven Schlagschatten strukturiert. Darüber – wie mit Weichzeichner verunklart – quellen Wolkenschiffe. Und im Fenster eines zuvor noch nie bemerkten Erkers im „Ergänzungsbau des Deutschen Historischen Museums, Unter den Linden“, wie Nelly Rau-Häring ihre Fotografie beschriftet hat, steht ein Paar, das sich gleich küsst.

Die irreal schöne Stadtansicht von 2003 ist das wundersamste Bild in der Schau „Berlin Eins – Die Neunziger“. Ein Nachzügler der Dekade davor, als die wiedervereinte Stadt nach der Wende zuerst überflüssig Gewordenes wie Mauern und Grenzanlagen abräumt. Und sich dann anschickt, die Leerstellen und Brachen zu gestalten, vulgo vollzubauen.

Stadt als Kulisse. Peter Thieme fotografiert 1994 die fast autofreie Karl-Liebknecht-Straße.

© Haus am Kleistpark/Peter Thieme

Diese Phasen der Nachwende-Zeit sind das Thema der im Haus am Kleistpark ausgestellten Fotografien. Es ist die letzte Ausstellung der verdienten Barbara Esch Marowski, die die Kommunale Galerie 15 Jahre lang leitete und das Profil des Hauses als Ausstellungsort für künstlerische Fotografie schärfte.

Barbara Esch Marowski prägte

Und auch wenn man in den letzten Jahren reichlich Impressionen aus dem Berlin der Neunziger gesehen hat, von Club-Kultur bis zu Stadträumen, wirken die teils großformatigen Schwarzweiß-Panoramen einmal mehr als atmosphärische Dokumente einer Übergangzeit, ja als ein nostalgiefreies Medium der Erinnerung.

Initiatoren sind die Fotografen André Kirchner, der in den Achtzigern als Student aus München nach West-Berlin kam, das Philologie-Studium an den Nagel hängte und sich als Autodidakt der Fotografie verschrieb, und Peter Thieme, der nach einem Fotografie-Studium an der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst 1988 nach Ost-Berlin zog.

Passanten vor Politik. Nelly Rau-Häring fotografiert Mutter, Kind und Plakate für die ersten freien Wahlen in der DDR, März 1990.

© Haus am Kleistpark/Nelly Rau-Häring

Beide durchstreifen die Stadt mit analogen Großformatkameras und sind auf Architekturen, Stadträume und die sich darin abbildenden Geschichtsablagerungen abonniert. Die West-Perspektive des einen weicht in den Neunzigern ebenso auf wie die Ost-Perspektive des anderen. Ansichten des abgewirtschafteten Industriequartiers Oberschöneweide finden sich gehäuft bei Peter Thieme, aber auch Kollege Kirchner war da.

Neubauten der Achtziger. André Kirchner hat an der Kreuzberger Bessel- Ecke Charlottenstraße im Jahr 2000 auch gleich noch eine frauenfeindliche Werbung erwischt.

© Haus am Kleistpark/André Kirchner

Betrachtet man Thiemes Panorama der Karl-Liebknecht-Straße in Mitte vom Mai 1994, wähnt man sich – fast fünf Jahre nach dem Mauerfall – immer noch in einer Kulisse der Hauptstadt der DDR. Gerade mal zwei Autos befahren die Magistrale, die von der markanten Metallfassade des Kaufhofs, einst das Centrum-Warenhaus, und dem Fernsehturm überragt wird. Aber das Gerüstgewirr, das neben dem im Mai 1993 noch existenten Palast der Republik aufgebaut wird, lädt – wie ein Banner verrät – zum „Sommer im Schloßhof“ (Schloss noch mit „ß“), bei dem mit Kultur „Für alle Berliner frei!“ schon der kommende Wiederaufbau des Hohenzollern-Schlosses ideell vorbereitet wurde.

Stadt als grafische Struktur. André Kirchner, Hermannstraße, Ecke Hasenheide, Neukölln 1993.

© André Kirchner

Die merkwürdige Leere, die die von André Kirchner in der Serie „Vertikales Berlin“ in Hochformate gebannte und die auch Peter Thiemes Querformate prägt, hat nicht nur damit zu tun, dass beide stets frühmorgens fotografiert haben. Sondern eben damit, dass etwa auf dem Bild „Nordbahnhof, Invalidenstraße, 1990“ die Brachen und der hohe Himmel einer Stadt im Wartezustand zu sehen sind. „Alles schien möglich, der Himmel war wieder offen“, beschreibt André Kirchner im Ausstellungskatalog das Gefühl, das die Aufnahmen verströmen.

Sieht man ein Foto wie Kirchners Aufnahme eines runtergerockten Gründerzeitbaus in der Motzstraße von 1998, kommt prompt die Zuschreibung „abblätternde Fassaden, ist also Osten“ ins Wanken. Das hier in Schöneberg einst residierende „Hotel Sachsenhof“ hat offenbar keine Zukunft mehr für sich gesehen, so blind wie die Fensterscheiben aussehen.

Nelly Rau-Härings lebenspralle Bilder

Neben Kirchners und Thiemes stillen Fassaden nimmt sich Nelly Rau-Härings Menschenfotografie geradezu lebensprall aus. Die Schweizerin kam 1965 als 18-Jährige nach Berlin, um sich im Lette-Verein zur Fotografin ausbilden zu lassen und hat vor und nach dem Mauerfall Alltagsszenen fotografiert. Seit 2006 lebt sie wieder in Basel.

Funkenflug des Neubeginns. Nelly Rau-Häring, Potsdamer Platz im Bau, November 1999 bis Juni 2000.

© Nelly Rau-Häring

Rau-Häring gelingen Schnappschüsse auf der Straße wie die verblüfft-amüsierten Mienen von Touristen, die 1995 auf die Christopher-Street-Day-Parade samt barbusiger Lesben und Lederkerle treffen. Und lebendige Serien zu historischen Ereignissen wie der Währungsunion am 1. Juli 1990, der Abschiedsparade der West-Alliierten 1994 auf der Straße des 17. Juni und der russischen Armee am sowjetischen Ehrenmal in Treptow. Dort hält ein feingemachtes Mädchen Nelken für „die Freunde“ bereit. Unter dem Banner „Abschiedsgeschenke für unsere russischen Soldaten“ werden Spenden für Kühlschränke und Herde gesammelt und die Geräte gleich ausgestellt.

Auch die zweitwundersamste Aufnahme der Schau stammt von Nelly Rau-Häring, aus einer Reihe über die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz 1993. Aufgenommen in der Totalen fegt eine mit Kittelschürze bekleidete Putzfrau, umgeben von Bühnenschwärze, deren beleuchteten Boden. So packend fotografiert, wirkt selbst der Alltag wie inszeniert.

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