
© Eros Hoagland/Netflix
Ist die Welt noch zu retten?: Eine Bilanz des 82. Filmfests Venedig
Keine Zeit für Helden: Der Löwen-Wettbewerb in Venedig versammelte Filme über Verantwortung, Schuld und Ausweglosigkeit. Den Goldenen Löwen gewinnt Jim Jarmusch, ein Veteran des Autorenfilms.
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Stell dir vor, es ist Atomkrieg, und keiner kann ihn stoppen. Während der Lido von Venezia, dieser immer ein wenig der Welt enthobene Inselstreifen zwischen Lagune und Adria, nach einigen Gewittertagen im schönsten Sonnenlicht vor sich hinträumt, rast im Kino eine nukleare Rakete auf Chicago zu. Unaufhaltsam, nach gescheiterten Abwehrversuchen. 18 Minuten bis zum Einschlag.
Knapp zehn Millionen Tote, rechnen die Experten in Kathryn Bigelows „A House of Dynamite“ aus. In der Militärbasis in Alaska erstarren sie vor Panik. Der Verteidigungsminister will seine in Chicago lebende Tochter warnen, aber die Kommunikation mit ihr ist schon lange gestört. Der US-Präsident muss in Sekundenschnelle über einen Präventivschlag entscheiden. Bloß gegen wen? Wer die Rakete im Pazifik gezündet hat, lässt sich nicht klären; das Handbuch für den Ernstfall, eine Loseblattsammlung, sieht der Präsident zum ersten Mal.
Auch wenn die Jury beim Filmfest Venedig sie komplett überging: Kathryn Bigelow, die 2008 für „The Hurt Locker“ als erste Frau einen Oscar gewann, dürfte auch mit diesem detailliert recherchierten (Drehbuch: Noah Oppenheim), das Genremuster virtuos ad absurdum führenden Katastrophenfilm Oscar-Chancen haben. Allein schon wegen der Hochspannung. Dreimal der Countdown bis zum Einschlag: im situation room (mit Rebecca Ferguson im Zentrum), im Hauptquartier der Streitkräfte, an der Seite des Präsidenten (Idris Elba); dreimal Zittern und Zagen, auf der Leinwand wie im (Heim-)Kino (deutscher Filmstart: 9.10, auf Netflix ab 24.10.).
Umstrittener Beitrag beim Filmfest Venedig
Ist die Welt noch zu retten? Hat noch jemand die Verantwortung? Keine Zeit für Helden – um die Grenzen des Heroischen, die Frage von Verantwortung, Schuld und Unentrinnbarkeit kreisten viele Beiträge der 82. Filmfestspiele Venedig, die am Sonnabend mit der Preisverleihung zu Ende gingen.
Der umstrittenste Wettbewerbsbeitrag: „The Voice of Hind Rajab“, ein Hybridfilm zwischen Doku und Fiction aus dem Gazakrieg. Eine wahre Geschichte, von der tunesischen Regisseurin Kaouther Ben Hania nachinszeniert, rund um das reale mehrstündige Telefonat des Palästinensischen Roten Halbmonds mit der fünfjährigen Hind Rajab. Der Mitschnitt des in der Halbmond-Zentrale geführten Gesprächs war viral gegangen.
Am 29. Januar 2024 sitzt das Mädchen nach heftigem Beschuss ihres Wohnviertels mit der fünfköpfigen Familie ihres Onkels im Auto. Der Wagen wird beschossen, Hind überlebt als Einzige. Sie harrt zwischen den Leichen aus, bettelt um Hilfe, um ihr Leben. Omar (Motaz Malhees) und Rana (Saja Kilani) beruhigen sie am Telefon, der Teamleiter organisiert einen Krankenwagen.
Als die Israelis nach Stunden endlich grünes Licht für die Acht-Minuten-Fahrt geben, fallen wieder Schüsse. Die Leitung verstummt, auch Hind und die Sanitäter sterben. Internationale Recherchen belegen, dass es sich um eine Militäraktion handelte; Israel hat sie bis heute nicht bestätigt.
Unmöglich, im Kino von der Stimme des Mädchens in Todesangst nicht erschüttert zu sein. Unmöglich, sich nicht darüber zu empören, dass der Gazakrieg nach dem Hamas-Terror vom 7. Oktober laut Unicef bisher 14.000 Kinder das Leben kostete. Die Folgen am Lido: 23 Minuten Applaus bei der Weltpremiere, Großer Preis der Jury unter Leitung des US-Regisseurs Alexander Payne, Pro-Palästina-Statements diverser Gewinner bei der Preisverleihung. Niemand erwähnt die Hamas oder die israelischen Opfer vom 7. Oktober.

© Venice Film Festival
Empörung ist eine moralische, keine filmische Kategorie. Deshalb fühlt man sich während des Films bald emotional erpresst. Ben Hanias Reenactment nutzt Hinds Stimme als Gütesiegel der Wahrheit, um eine Inszenierung aufzuwerten, die der Wucht der Realität nicht ansatzweise beikommt: mittelmäßiges Schauspiel – die männlichen Helfer werden aggressiv, Rana weint unentwegt –; keine Verdichtung zu Kinobildern, keine Erkenntnis über die Empörung hinaus.
Nun könnte man einwenden, dass „The Voice of Hind Rajab“ angesichts der Tragödie eines getöteten Kinds nur hilflos sein kann. Aber Kino ist nicht Agitation, nicht Bestätigung oder Verstärkung von Meinung, sondern Befragung von Wahrnehmungen. Es genügt nicht, die eigene Überforderung zu demonstrieren. Ethik und Ästhetik sind auf der Leinwand untrennbar miteinander verknüpft.
Als ein Journalist bei der Pressekonferenz vorsichtig fragt, ob der Film Hinds Stimme vielleicht ausbeute, kontert die Regisseurin, sie kenne solche Argumente. Damit sollten die Palästinenser zum Schweigen gebracht werden. Sie wolle Empathie wecken, davon gebe es zu wenig. Wer die propalästinensische Demo auf dem Lido am Wochenende zuvor erlebt hat, weiß jedoch: Empathie für die Menschen in Gaza ist reichlich vorhanden. Woran es mangelt, ist Verständnis für die Ursachen der Gewalt auf beiden Seiten, für die heillos komplizierte Lage in Nahost.
Täter, Opfer, alles obsolet? François Ozon hat den Camus-Klassiker „Der Fremde“, in dem ein Franzose einen Araber ohne erkennbares Motiv am Strand von Algier ermordet, wiederverfilmt. Eine Studie über moralische und emotionale Indifferenz, in sonnendurchflutetem Schwarz-Weiß, mit einer diskret aufscheinenden, dennoch klaren Haltung zum französischen Kolonialismus.

© OLVER OPPITZ PHOTOGRAPHY
Ist auch sie indifferent? Barbara Ronchi spielt in „Elisa“ von Leonardo Di Costanzo mit eindrücklich verschlossenem Gesicht eine Mörderin, die nach zehn Jahren Haft von einem Kriminologen (Roschdy Zem) befragt wird. Nach und nach schwindet ihre Amnesie, ein schmerzlicher Prozess. Das vermeintliche Monster wird Mensch, indem Elisa ihre Tat, ihre Schuld nicht länger abspaltet, sondern in ihre Lebenserzählung integriert. Man hätte ihr den Darstellerinnen-Preis gewünscht – auch wenn die Coppa-Volpi-Gewinnerin Xin Zhilei im chinesischen Beziehungsdrama „The Sun Rises on Us All“ eine in ihrer zunehmenden Entschlossenheit ähnlich intensive Figur verkörpert.
Jim Jarmusch erzählt in „Father, Mother, Sister, Brother“ von familiärer Entfremdung. Drei Variationen, lakonisch wie sein legendärer Episodenfilm „Coffee and Cigarettes“, prominent besetzt: In der ersten Variation spielt Tom Waits seinen erwachsenen Kindern den vertrottelten Alten vor, in der zweiten quittiert Charlotte Rampling das Alles-bestens-Theater ihrer Töchter (Vicky Krieps, Cate Blanchett) mit maliziösem Lächeln.

© REUTERS/Yara Nardi
Die Jury, der unter anderem der iranische Dissident Mohammad Rasoulof angehörte, zeichnete Jarmusch mit dem Goldenen Löwen aus. Noch ein Veteran des Autorenfilms, wie Pedro Almodóvar im Vorjahr. Eine befremdliche Entscheidung, denn Jarmusch hat verwegenere Filme gedreht als dieses entspannte, etwas blasse Alterswerk.

© Yorick Le Saux/Vague Notion
Wie bewegt man sich durchs Leben, wenn die eigene Muskelkraft zur Gefahr für die anderen werden kann? So wie Dwayne Johnson in Benny Safdies Sportdrama „The Smashing Machine“ (Regiepreis, Filmstart 2.10.) als Mixed-Martial-Arts-Weltmeister Mark Kerr auftritt, bekommt die Zuschauerin eine Ahnung davon, welch gewaltige Verantwortung es mit sich bringt, im Körper des vielleicht stärksten Manns der Welt zu stecken: bloß nicht wütend werden im Streit mit der Ehefrau (Emily Blunt), bloß nicht ausrasten, wenn ihm seine Schmerzmittel verwehrt werden. Kerrs mächtigster Gegner: die Angst vor dem Verlieren.

© Cheryl Dunne
Die Angst treibt auch den Protagonisten von Park Chan-wooks satirischem Sozialthriller „No Other Choice“ um – noch eine Erzählung über Ausweglosigkeit. Der Familienvater hat keine Wahl, nachdem seine Arbeitsstelle in der Papierfabrik wegrationalisiert wurde. Wenn er eine Chance auf einen neuen Job haben will, muss er seine Mitbewerber beseitigen.
Der Film basiert auf Donald Westlakes Roman „Die Axt“, den Costa-Gavras bereits vor 20 Jahren für die Leinwand adaptierte. Park Chan-wooks Version ist anarchischer, mit skurrilen Mordmethoden und liebevoll gezeichneten Nebenfiguren. Dennoch steht „No Other Choice“ in seiner Kritik eines ausbeuterischen kapitalistischen Klassensystems der Oscar-prämierten Horrorgroteske „Parasite“ seines südkoreanischen Landsmanns Bong Joon-ho in nichts nach.

© Pandora Film
Es ist einer von zwei sehr eigenen Filmen im Wettbewerb, beiden hätte man Preise gewünscht. Der zweite: „The Silent Friend“ der Ungarin Ildikó Enyedi (Filmstart 13.11.), eine über drei Zeitebenen verschränkte Etüde über die Beziehung zwischen Menschen und Pflanzen. Oder besser, über die Wahrnehmung der Pflanzen.
Was denkt die Geranie am offenen Fenster, wenn sie die Nach-68er-Studenten im WG-Garten beobachtet? Was erlebt der Ginkgobaum im botanischen Garten in Marburg, wenn der chinesische Gastdozent (Tony Leung) im Corona-Lockdown in dessen Schatten Tai-Chi macht? Und was dachte der Baum vor 120 Jahren über Grete, die erste Biologiestudentin in Marburg (Luna Wedler, ausgezeichnet mit dem Marcello-Mastroianni-Nachwuchspreis), die sich von den frauenfeindlichen Universitäts-Honoratioren nicht einschüchtern ließ und von Martin Wuttke als Fotograf in die Kunst der Retusche eingeführt wird?
Schon Enyedis Berlinale-Gewinnerfilm „Körper und Seele“ (2017) mäanderte traumwandlerisch zwischen den Sphären von Mensch, Flora und Fauna. In „The Silent Friend“ gelingen Enyedi derart viele poetisch verspielte Bilder, von den Verästelungen der Bäume über die psychedelisch bunten Gehirnströme eines Babys bis zum sexy Flirt zwischen Pflanze und Mensch, dass man gar nicht aufhören mag, sich zu wundern.
Wir sollten den Pflanzen die Verantwortung für die Zukunft der Menschheit überlassen. Vielleicht hätte die Welt dann eine Chance.
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