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Erst Cannes, nun auch Venedig: Jane Campion gewinnt für ihren Western „The Power of the Dog“ den Regiepreis.

© Filippo Monteforte/AFP

Bilanz des Filmfestivals Venedig: Gut gebrüllt, Löwe - drei Preise für Regisseurinnen

Audrey Diwan gewinnt mit dem Abtreibungsdrama „L'événement“ den Goldenen Löwen, auch Jane Campion und Maggie Gyllenhaal werden ausgezeichnet. Das Festival kommt in der Realität an.

Von Andreas Busche

Die Deutung von Jury-Entscheidungen ist immer auch Kaffeesatzleserei. Darum lässt sich schwer erklären, was die Löwen-Verleihung auf dem Venedig Filmfestival am Samstagabend über den Zustand des Kinos im Jahr zwei der Pandemie tatsächlich aussagt. Sicher ist, dass der Goldene Löwe für die französische Regisseurin Audrey Diwan und ihr Abtreibungsdrama „L'événement“ („Das Ereignis“) den jüngsten Trend von Preisträgerinnen fortsetzt – zumal mit Jane Campion, die für ihen Spätwestern „The Power of the Dog“ den Regie-Preis erhielt, und Maggie Gyllenhaal, ausgezeichnet für das Drehbuch ihres Regiedebüts „The Lost Daughter“, drei der fünf im Wettbewerb vertretenen Regisseurinnen am Ende einen Preis in die Höhe halten konnten.

Die Jury um den Palmen-Gewinner Bong Joon-ho („Parasite“), in der unter anderem die letztjährige Löwen-Preisträgerin Chloé Zhao sowie die Schauspielerinnen Cynthia Erivo und Virginie Efira saßen, hat den Weg beschritten, dem vor sechs Wochen endlich auch das Festival in Cannes mit der Goldenen Palme für die Französin Julia Ducournau folgte. Ihr Horrorfilm „Titane“ und „L'événement“ könnten allerdings kaum unterschiedlicher sein.

In Venedig ist man in der Vorstellung davon, was und vor allem wie das Kino erzählen kann, deutlicher konservativer. Auch in diesem Wettbewerb war in vielen Filmen eine falsch verstandene Idee von Arthousekino zu beobachten, die sich in der Form genügt und darum auch als hundertstes Derivat noch eine Wertigkeit suggeriert.

In diesem Spektrum rangiert „L'événement“ im soliden Mittelfeld. Die Verfilmung des gleichnamigen autobiografischen Romans von Annie Ernaux ist ein Schauspielerinnenfilm; zu recht merkte die Regisseurin in ihrer Dankesrede an, dass die 22-jährige Hauptdarstellerin Anamaria Vartolomei „der Film ist“. Die Literaturstudentin Anne will eine Abtreibung; da Schwangerschaftsabbrüche im Frankreich des Jahres 1963 allerdings eine Straftat sind, wird Anne zur Getriebenen.

Frauen in einer herzlosen Männerwelt

Der Film zählt erbarmungslos die verbleibende Zeit bis zur zwölften Woche herunter. Vartolomei erträgt geduldig, aber voller Überlebenswillen die Erniedrigungen: beim Arzt, unter ihren Freundinnen, gegenüber dem Vater des Babys. In gewisser Weise stellt „L'événement“ die Schwundstufe eines Vérité-Stils dar, den die Dardenne-Brüder im Autorenkino vor zwanzig Jahren etablierten. Diese Art von gut gemeinter Sozialkritik verdient aktuell alle Aufmerksamkeit wegen der verschärften Abtreibungsgesetze in Polen und den USA. Aber für einen der wichtigsten Filmpreise hätte die Regisseurin Audrey Diwan auch mal mehr als nur das Gesicht ihrer Hauptdarstellerin in Großaufnahme zeigen können.

Mit Audrey Diwan gewinnt zum zweiten Mal nacheinander eine Regisseurin den Goldenen Löwen.
Mit Audrey Diwan gewinnt zum zweiten Mal nacheinander eine Regisseurin den Goldenen Löwen.

© Filippo Monteforte/AFP

Dass es anders geht, bewies der Franzose Xavier Giannoli mit seiner so opulenten wie modernen Balzac-Adaption „Verlorene Illusionen“, die den Klassiker vom Staub befreit. Balzacs Ironie, die der Regisseur ins Voiceover verlegt, bricht die Konventionen des historischen Sittengemäldes auf, ohne diese zu negieren.

Und natürlich Jane Campion mit „The Power of the Dog“. Auch ein Schauspielfilm dank Benedict Cumberbatch, als grobschlächtigem Cowboy mit seinen widersprüchlichen Gefühlen für den Sohn seiner Schwägerin, und Kirsten Dunst als depressiver Rancherfrau, die in dieser herzlosen Männerwelt ganz am Rande der Geschichte zum stillen Kraftfeld wird. Campion erzählt einerseits sehr klassisch, öffnet ihre Männlichkeitsstudie im staubigen Mittleren Westen der 1920er Jahre gleichzeitig aber für alle möglichen Perspektiven von Western-Typologien. Man muss das Genre nicht lieben, um zu sehen, dass Jane Campion zu den eloquentesten Erzählerinnen des Gegenwartskinos gehört.

Und mit der 25 Jahre jüngeren Maggie Gyllenhaal könnte sie bereits eine würdige Nachfolgerin gefunden haben. Ihr Regiedebüt „The Lost Daughter“, nach einem weniger bekannten Roman von Elena Ferrante, hätte durchaus mehr als den Drehbuchpreis verdient gehabt. Doch wie Gyllenhaal sich die Vorlage filmisch aneignet, ist bemerkenswert. Olivia Colman und Jessie Buckley spielen die jüngere und ältere Version der Literaturprofessorin Leda, die ihren Sommerurlaub allein am Strand der griechischen Insel Hydra verbringt und plötzlich ihre bisherigen Lebensentscheidungen – als Mutter, Ehe- und Karrierefrau – zu rekapitulieren beginnt.

Eindrucksvoll an dem Buch ist, wie souverän Gyllenhaal in einem Kaleidoskop aus Rückblenden die Ambivalenzen ihrer Protagonistin auffächert, die sich in keine der ihr zugestandenen gesellschaftlichen Rollen fügen will. Leda ist eine Frauenfigur, wie es sie im Kino noch nicht lange zu sehen gibt; Gyllenhaal sprach in ihrer Dankesrede davon, dass die „unausgesprochenen Geheimnisse“ vieler Frauen endlich Gehör finden müssten. Zu erwähnen sei noch, dass sie und Campion die gute Partnerschaft mit Netflix betonten. Sowas hört man auch nur in Venedig.

Penélope Cruz gewinnt mit Almodóvar-Film

Es ragten noch andere Filme mit klassischen Tugenden aus der Konkurrenz heraus. Pedro Almodóvars „Parallele Mütter“ gehört ebenfalls zwei ungewöhnlichen Frauenfiguren (Penélope Cruz und Milena Smit), die aus ihrem Verantwortungsgefühl für Vergangenheit und Zukunft (im Privaten wie Politischen) ein gewagtes, fast ein wenig „soapiges“ Familienmodell entwerfen. Cruz wurde für ihre Kämpferin verdientermaßen mit dem Darstellerinnenpreis ausgezeichnet. Der „männliche“ Preis ging an John Arcilla in dem philippinischen Polizeifilm „On the Job: The Missing Eight“.

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Venedig hat im zweiten Jahr der Pandemie den Rückschlag also erneut glänzend pariert. Es war kein herausragender Wettbewerb, aber Anlass zum Mitleid gibt das Kino nicht – auch wenn nur wenige Filme neue Wege beschritten. Der venezolanische Regisseur Lorenzo Vigas etwa bediente mit „La Caja“ – wie schon mit seinem Löwengewinner 2015 – die hinlänglich bekannte Ästhetik eines spröden Weltkino-Miserabilismus.

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Oder der ukrainische Beitrag „Reflection“ von Walentyn Wassjanowytsch, der in 29 Tableaus die Schaulust am menschlichen Elend inszeniert. Immerhin zeichneten die Jurys en passant künstlerischen Wagemut aus: Michelangelo Frammartinos pastorale Höhlenmeditation „Il Buco“ erhielt den Spezialpreis der Jury - Wettbewerb (einer von vier italienischen Preisen), der bolivianische Film „El Gran Movimiento“ von Kiro Russo den Preis der Jury - Orizzonti.

Eigentlich gibt es für das Kino ja kaum einen besseren Ort als Venedig, um seinen Platz in der Tradition der Bildererzählungen zu behaupten. In der Galleria dell’Accademia sind die venezianischen Meister (und ihre Epigonen) versammelt. Das Kino ist mit seinen läppischen 125 Jahren natürlich noch zu jung, um seine Markierungen zu setzen. Doch die Kunst als Markt ist keine Erfindung des 20. Jahrhunderts, schon Meisterwerke der Serenissima wurden in ihre Einzelteile zerlegt und verkauft. Einige dieser Fragmente, wie Bernardo Strozzis Deckengemälde „Gleichnis von der Hochzeit“, sind in der Accademia zu sehen: als eigenständige Werke.

Vielleicht ist die Schönheit des Fragments eine Qualität, die man in 300 Jahren auch am Kino zu schätzen weiß. Ein einziges Tableau aus „Reflection“ oder fünf Minuten aus Pablo Larraíns vergeistigtem Prinzessin-Diana-Biopic „Spencer“ könnten irgendwann in den Stand von Meisterwerken erhoben werden. So aber kommt in Venedig die Prosaik des Geschichtenerzählens dem visuellen Erzählen wie so oft in jüngster Zeit in die Quere. Dabei müssten gerade jetzt Festivals doch die Orte sein, die ein neues Sehen lehren.

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