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Eine Szene aus dem Comic „Rückkehr nach Tomioka“.

© Toonfish/Splitte

Lese-Empfehlungen für den Sommer: Fünf aktuelle Comics, die eine Entdeckung wert sind

Sie führen in die Sperrzone von Fukushima, nach Argentinien, ins Berlin des Jahres 2099 oder in den Kopf eines Unsympathen: Fünf aktuelle Comic-Empfehlungen.

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In den vergangenen Monaten sind wieder zahlreiche lesenswerte Graphic Novels und Comic-Alben bei deutschsprachigen Verlagen erschienen. Hier stellen wir fünf Titel für unterschiedliche Altersgruppen und Interessengebiete vor, die man nicht verpassen sollte.

1 Abenteuerliche Reise in die Sperrzone

Japan, zwei Jahre nach der Nuklearkatastrophe von Fukushima. Die Stadt Tomioka liegt in der Sperrzone um das havarierte Kraftwerk, niemand darf sie betreten. Doch der junge Waise Osamu hat es sich in den Kopf gesetzt, die Asche seiner verstorbenen Großmutter wie von ihr gewünscht zum Familienschrein im Sperrgebiet zu bringen.

Laurent Galandon, Michaël Crouzat: „Rückkehr nach Tomioka“, aus dem Französischen von Tanja Krämling, Toonfish/Splitter, 104 S., 22,95 €, empfohlenes Lesealter ab 10.

© Toonfish/Splitter

In „Rückkehr nach Tomioka“ erzählen der mit mehreren Comicpreisen ausgezeichnete Autor Laurent Galandon (Szenario) und der vor allem als Animationsfilmer tätige Illustrator Michaël Crouzat (Zeichnungen) von einer abenteuerlichen Reise durch eine dystopische Welt. Auf die begibt sich der eigenbrötlerische Osamu zusammen mit seiner älteren Schwester, um am Ende ein wenig auch zu sich selbst zu finden.

Eine Seite aus „Rückkehr nach Tomioka“.

© Toonfish/Splitte

Eine wichtige Rolle spielen dabei mehrere Yokai, die nur Osamu sehen kann: übernatürliche Wesen, die in der japanischen Mythologie bedeutsam sind.

Das französische Autor-Zeichner-Duo kombiniert Einflüsse der japanischen Comic- und Animationsfilm-Tradition mit westlichen Elementen auf meisterhafte Weise. So ist die Figurenzeichnung vom Manga geprägt und einige übernatürliche Actionszenen erinnern an Filme aus dem Ghibli-Studio wie „Chihiros Reise ins Zauberland“. Aber die Kolorierung, die Seitengestaltung und die Erzählweise sind eher im westlichen Stil gehalten.

Anfang des Jahres sind Galandon und Crouzat für ihr Album mit dem wichtigsten Comicpreis Frankreichs ausgezeichnet worden: Es bekam auf dem 52. Comicfestival von Angoulême den Preis für den besten Comic für junge Leserinnen und Leser.


Laurent Galandon, Michaël Crouzat: „Rückkehr nach Tomioka“, aus dem Französischen von Tanja Krämling, Toonfish/Splitter, 104 S., 22,95 €, empfohlenes Lesealter ab 10.


2 Verschwunden, aber nicht vergessen

Birgit Weyhe: „Schweigen“, Avant-Verlag, 368 S., 39 €

© Avant-Verlag

Die international erfolgreiche Netflix-Serie „Eternauta“ hat in Argentinien die öffentliche Auseinandersetzung mit den Grausamkeiten der Militärregierung von 1976 bis 1983 neu belebt. Das Thema hat auch in Deutschland mehr Aufmerksamkeit verdient. Denn die Bundesregierung und deutsche Konzerne haben während der Militärjunta eine unrühmliche Rolle gespielt. Welche Folgen das für einzelne Betroffene hatte, hat Birgit Weyhe jetzt in ihrem neuen Buch anschaulich herausgearbeitet.

In der Graphic Novel „Schweigen“ zeichnet die Hamburger Autorin und Künstlerin, die lange auch für den Tagesspiegel gearbeitet hat, die Schicksale zweier in Argentinien lebender Frauen mit deutschen Wurzeln nach. Sie wurden auf unterschiedliche Weise zu Opfern der Diktatur, deren Verbrechen auch 40 Jahre später nur teilweise aufgearbeitet und juristisch geahndet sind.

Eine Szene aus „Schweigen“ von Birgit Weyhe.

© Avant-Verlag

Zeichnerisch nutzt die in Deutschland geborene und in Ostafrika aufgewachsene Weyhe ein von ihr in den vergangenen 15 Jahren etabliertes visuelles Vokabular. Neben der sachlich wirkenden, weitgehend auf Umrisslinien beschränkten und eher naturalistischen Figurenzeichnung sind dies viele bildliche Metaphern sowie immer wieder expressionistisch anmutende Panels, die die künstlerisch besonders starken Szenen des Buches prägen. Eine ausführliche Rezension gibt es hier.

Birgit Weyhe: „Schweigen“, Avant-Verlag, 368 S., 39 €.


3 Im Rausch der Gedanken

Olivier Schrauwen: „Sonntag“, aus dem Englischen von Christoph Schuler, Edition Moderne/Colorama, 472 S., 45 €

© Edition Moderne

Äußerlich ist er ein mittelalter, leicht neurotischer Grafiker, dessen Leben an einem Sonntag weitgehend ereignislos dahinfließt. Doch im Kopf von Thibault, der Hauptfigur von Olivier Schrauwens epischer Comicerzählung „Sonntag“, geht es turbulent zu.

Auf fast 500 Seiten zeichnet der 1977 in Belgien geborene und in Berlin lebende Zeichner minutiös einen Tag im Leben seines Protagonisten nach, der sein Reihenhäuschen in einer namenlosen Kleinstadt im Lauf der Erzählung kein einziges Mal verlässt und kaum Nennenswertes erlebt. In Tausenden von Panels dokumentiert er dessen Handlungen und vor allem fast jeden seiner Gedanken.

Eine Doppelseite aus „Sonntag“.

© Edition Moderne

Mit diesem neuen Werk, an dem er sechs Jahre gearbeitet hat, ist Schrauwen ein beachtliches Kunststück gelungen: Während der Sonntag, den sein ziemlich unsympathischer und grobschlächtiger Protagonist erlebt, an Eintönigkeit kaum zu überbieten ist, ist das Buch „Sonntag“ außergewöhnlich witzig, klug und unterhaltsam. Das liegt vor allem daran, dass Schrauwen meisterhaft mit den formalen Möglichkeiten der Kunstform Comic spielt und ein reflektierter Erzähler ist.

Dafür wurde der Autor jetzt in gleich drei Kategorien für die wichtigste Auszeichnung der US-Comicbranche nominiert, die Eisner Awards. Eine ausführliche Rezension gibt es hier.

Olivier Schrauwen: „Sonntag“, aus dem Englischen von Christoph Schuler, Edition Moderne/Colorama, 472 S., 45 €.


4 Die Rache der Künstlichen Intelligenz

Fred Duval und Ingo Römling: „Metropolia: Berlin 2099“, Band 1, Übersetzung Tanja Krämling, Splitter-Verlag, 56 S., 18 €

© Splitter-Verlag

Marode Altbauten und Hightech-Roboter, preußische Pickelhauben und virtuelle Weltreisen – Berlin ist auch gegen Ende des 21. Jahrhunderts ein Ort, an dem Tradition und Moderne eine symbiotische Beziehung eingehen und der Stadt einen ganz eigenen Charakter verleihen.

So stellt es sich zumindest der französische Comicszenarist Fred Duval vor, der zusammen mit dem Berliner Zeichner Ingo Römling gerade den ersten Band der Science-Fiction-Krimi-Reihe „Metropolia – Berlin 2099“ veröffentlicht hat. Die beiden lassen die Stadt dabei verdammt cool aussehen.

Eine Seite aus „Metropolia“.

© Splitter-Verlag

Hauptfigur ist ein Privatermittler mit dem sprechenden Namen Sascha Jäger, der nach dem tödlich verlaufenen Raub eines Digitalkunstwerks im Alten Museum die Verantwortlichen finden soll. Neben der Frage der Kontrollierbarkeit von KI-Systemen werden hier auch viele andere Themen der Gegenwart angerissen und im Kontext der nicht allzu fernen Zukunft fortgedacht.

Außergewöhnlich wird der Comic aber vor allem durch die Zeichnungen von Ingo Römling, die elegant und kraftvoll zugleich sind. Die schlanken, androgyn wirkenden Figuren und die weitgehend naturalistisch gehaltenen Kulissen sind mit filigranen Konturlinien gezeichnet. Maschinen und technische Details visualisiert Römling auf diese Weise ebenso überzeugend wie menschliche Gesichter und organische Naturszenen. Eine ausführliche Rezension gibt es hier.

Fred Duval und Ingo Römling: „Metropolia: Berlin 2099“, Band 1, Übersetzung Tanja Krämling, Splitter-Verlag, 56 S., 18 €.


5 Die Verschwörung im Bergdorf

Sarah Hübner: „Unruhe“, Jaja-Verlag, 304 Seiten, 24 Euro

© Jaja-Verlag

Das abgelegene Bergdorf Ruhe wird seinem Namen gerecht, das Leben hier ist friedlich und vorhersehbar. Bis sich eines Tages mitten im Ort ein gigantisches Loch von der Größe mehrerer Häuser auftut. Dessen Herkunft ist zumindest am Anfang mysteriös, es lässt sich nicht mehr zuschütten, das macht den Menschen Angst. Viele Bewohnerinnen und Bewohner suchen nach eigenen Erklärungen, bezweifeln die Expertise der Fachleute und suchen nach vermeintlichen Profiteuren der Lage.

Mit der Graphic Novel „Unruhe“ legt die Wismarer Comiczeichnerin Sarah Hübner eine smarte und zeichnerisch souveräne Comic-Erzählung zum Thema Verschwörungstheorien vor, verpackt in die Form eines mit subtilem Witz gespickten Dorf-Dramas.

Die schwarzen Buntstift-Zeichnungen der 1998 geborenen Illustratorin, die mit diesem Projekt kürzlich ihr Kommunikationsdesign-Studium abgeschlossen hat, sind skizzenhaft, aber handwerklich versiert. Der Strich ist weitgehend sachlich-naturalistisch, mit gelegentlichen expressionistischen Elementen.

Eine Doppelseite aus „Unruhe“.

© Jaja-Verlag

Die Figuren und der Plot sind klug angelegt und das Ergebnis von umfangreichen Recherchen. Vor allem aber ist Hübner eine starke Erzählerin und hat ein Händchen für lebendige Figuren. Das macht ihr Buch zu einer unterhaltsamen Lektüre – und zu einem der besten deutschen Comicdebüts der vergangenen Jahre. Eine ausführliche Rezension gibt es hier.

Sarah Hübner: „Unruhe“, Jaja-Verlag, 304 S., 24 €.

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